Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 136/2004
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H 136/04

Urteil vom 18. August 2005
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin
Durizzo

L.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Hubert Ritzer, Zürcherstrasse
5a, 5402 Baden,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin,

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 28. Mai 2004)

Sachverhalt:

A.
L. ________ war Verwaltungsratspräsidentin der Firma K.________ mit Sitz in
X.________ und später in Y.________. Im Juli 2001 wurde über die Gesellschaft
der Konkurs eröffnet und das Verfahren im August 2001 mangels Aktiven
eingestellt. Die Ausgleichskasse Zug erliess in der Folge am 22. Juli 2002
gegen L.________ sowie den verantwortlichen Geschäftsführer, D.________, und
einen weiteren Verwaltungsrat, R.________, Schadenersatzverfügungen für
entgangene Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 23'787.70. Mit
Verfügungen vom 26. Juli 2002 forderte sie weiteren Schadenersatz in der Höhe
von Fr. 96'642.30, nachdem die Revisionsstelle der Ausgleichskassen
festgestellt hatte, dass Lohnzahlungen nicht deklariert worden waren. Dagegen
erhoben alle drei Belangten Einspruch.

B.
Am 13. September 2002 klagte die Ausgleichskasse beim
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und beantragte von L.________
die Bezahlung von Fr. 120'430.- und von D.________ und R.________ in
solidarischer Haftung Fr. 96'642.30, jeweils nebst Zins. Das Gericht hiess
die Klage mit Entscheid vom 28. Mai 2004 teilweise gut und verpflichtete
L.________ zur Bezahlung eines Betrages von Fr. 102'446.90 und D.________ und
R.________ zur Zahlung von Fr. 78'659.40, in diesem Umfang unter
solidarischer Haftung aller Beklagten. Im Mehrbetrag wurde die Klage
abgewiesen. Bezüglich der Beiträge an die Familienausgleichskasse des Kantons
Zug trat es auf die Klage nicht ein, ordnete jedoch die Überweisung der Akten
an das Verwaltungsgericht des Kantons Zug an.

C.
L.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen. Sie beantragt, es sei
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage der Ausgleichkasse des
Kantons Zug im Betrag von Fr. 102'466.90 (recte: Fr. 102'446.90) abzuweisen,
allenfalls die Sache an die Vorinstanz zur Vornahme weiterer Abklärungen
zurückzuweisen, allenfalls der Schadenersatz angemessen zu reduzieren.

Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, beantragen D.________ und sinngemäss auch R.________ deren
Gutheissung. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da keine Versicherungsleistungen streitig sind, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die
Arbeitgeberhaftung (Art. 52 AHVG) und insbesondere die subsidiäre (vgl. statt
vieler BGE 123 V 15 Erw. 5b) und solidarische (BGE 114 V 214 Erw. 3 mit
Hinweis) Haftbarkeit der Organe, über den zu ersetzenden Schaden (BGE 121 III
384 Erw. 3bb) und über die einjährige Verwirkungsfrist zu dessen
Geltendmachung (Art. 82 AHVV in der bis 31. Dezember 2002 in Kraft
gestandenen Fassung; BGE 128 V 10, 129 V 193) zutreffend dargelegt. Gleiches
gilt bezüglich der Nichtanwendbarkeit des am 1. Januar 2003 in Kraft
getretenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 (BGE 129 V 4 Erw. 1.2).
Darauf wird verwiesen.

3.
Die Beschwerdeführerin wirft zunächst die Frage der Verwirkung des
Schadenersatzanspruchs auf.

3.1 Sie macht geltend, dass die Ausgleichskasse möglicherweise schon früher
als bei der Konkurseröffung im Juli 2001 Kenntnis des Schadens erlangt habe,
weil bereits am 15. Januar 2001 eine Arbeitgeberkontrolle durchgeführt worden
sei. Die Verwirkungsfrist habe schon zu diesem Zeitpunkt zu laufen begonnen.

3.2 Die Frage der Organhaftung nach Art. 52 AHVG kann sich erst stellen, wenn
ein Schaden eingetreten ist. Dies ist rechtsprechungsgemäss dann der Fall,
wenn die geschuldeten Beiträge aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen
nicht mehr erhoben werden können (BGE 121 III 384 Erw. 3bb, 388 Erw. 3a, 113
V 257 f., je mit Hinweisen). Dies trifft zu, wenn die Beiträge gemäss Art. 16
Abs. 1 AHVG verwirkt sind - weil sie nicht innert fünf Jahren nach Ablauf des
Kalenderjahres, für welches sie geschuldet sind, durch Verfügung geltend
gemacht wurden (vgl. z.B. BGE 112 V 156, 98 V 26) - oder wenn ihre
Entrichtung wegen Zahlungsunfähigkeit des beitragspflichtigen Arbeitgebers
nicht mehr möglich ist (vgl. z.B. BGE 121 V 234, 240). In diesem Fall gilt
der Schaden als eingetreten, sobald die Beiträge wegen Insolvenz des
Arbeitgebers nicht mehr im ordentlichen Verfahren nach Art. 14 ff. AHVG
erhoben werden können (BGE 123 V 16 Erw. 5b, 170 Erw. 2a, 121 III 384 Erw.
3bb, 113 V 256, 112 V 157 Erw. 2; zum Ganzen zuletzt Urteil S. vom 2.
November 2004, H 112/03, Erw. 2.2).
3.3 Im vorliegenden Fall geht es um die Beiträge für den Zeitraum von 1996
bis Mitte 1999. Für die (ältesten) Beiträge des Jahres 1996 wäre die
Verwirkung nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 AHVG erst Ende 2001 eingetreten. Ein
rechtlicher Grund gegen die Erhebung der Beiträge im ordentlichen Verfahren
hätte daher bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorgelegen. Selbst wenn bereits vor
der Konkurseröffnung im Juli 2001 gewisse Anhaltspunkte dafür bestanden haben
sollten, dass die Beiträge im ordentlichen Verfahren von der Arbeitgeberin
nicht eingefordert werden könnten, so änderte dies nichts daran, dass eine
tatsächliche Uneinbringlichkeit und damit ein Schaden erst dann vorgelegen
hätte, wenn die Kasse in einer gegen den Arbeitgeber eingeleiteten Betreibung
auf Pfändung zu Verlust gekommen wäre (BGE 113 V 258 Erw. 3c; Urteil K. und
P. vom 21. September 2004, H 328/03, Erw. 4.2). Ein solches Vorgehen ist hier
aber nicht ersichtlich, wie die Vorinstanz richtig erwogen hat. Tatsächliche
Uneinbringlichkeit kann daher erst mit der Konkurseröffnung angenommen
werden, weil ab diesem Zeitpunkt die Beiträge nicht mehr ordentlich
eingefordert werden konnten (BGE 123 V 15 f. Erw. 5b und c). Denn erst in
diesem Zeitpunkt tritt die Schadenersatzforderung gegenüber den
verantwortlichen Organen an die Stelle der Beitragsforderung gegenüber dem
Arbeitgeber (BGE 123 V 16 Erw. 5c).

Ist der Schaden erst mit der Konkurseröffnung im Juli 2001 eingetreten, so
konnte die Kasse erst in einem späteren Zeitpunkt die "Kenntnis des Schadens"
haben, welche die einjährige Frist auslöst. Praxisgemäss ist dies bei der
Einstellung des Konkursverfahrens mangels Aktiven im Zeitpunkt von deren
Publikation im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) der Fall (BGE 129 V
196 Erw. 2.3 mit Hinweis), hier also im August 2001, wie sich aus dem von der
Beschwerdegegnerin ins Recht gelegten Auszug aus dem Handelsregister des
Kantons Y.________ ergibt. Die beiden Schadenersatzverfügungen vom 22. und
26. Juli 2002 sind damit rechtzeitig erfolgt, und die diesbezüglichen
Einwendungen sind nicht zu hören.

4.
Die Beschwerdeführerin beruft sich des Weiteren darauf, es seien noch andere
Personen "zweifellos mitverantwortlich". Sie übersieht dabei, dass es
praxisgemäss im Belieben der Ausgleichskasse steht, ob sie im Fall einer
Mehrheit von haftpflichtigen Organen gegen einen, einzelne oder alle vorgehen
will (so zuletzt SVR 2003 AHV Nr. 5 S. 13 Erw. 4.2 mit Hinweisen [H 92/01]).
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher auch in diesem Punkt unbegründet.

5.
Sodann macht die Beschwerdeführerin Beweislosigkeit geltend. Sinngemäss wird
ausgeführt, dass beim Umzug der Firma von X.________ nach Y.________ im Juli
1999 - Datum der Löschung im Kanton X.________ - möglicherweise versehentlich
Buchhaltungsunterlagen und Dokumente vernichtet worden seien. Dafür könne sie
nicht verantwortlich gemacht werden, weil sie per Ende Juni 1999 aus dem
Verwaltungsrat ausgetreten sei.

Die Löschung der Firma im Handelsregister des Kantons X.________ war im Juli
1999 erfolgt, die Eintragung im Handelsregister des Kantons Y.________ im
Juni 1999. In diesem Zeitpunkt war die Beschwerdeführerin alleweil noch
Verwaltungsratsmitglied. Entgegen ihrer Behauptung in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schied sie gemäss Handelsregisterauszug erst im
August 1999 aus dem Verwaltungsrat aus. Damit haftet sie auch für die
Beiträge aus der Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1999. Der Betrag von Fr.
23'787.70 bezieht sich nicht, wie sie ausführt, auf das ganze Jahr 1999,
sondern nur auf die erste Hälfte, was sowohl aus dem vorinstanzlichen
Entscheid wie auch aus der Schadenersatzverfügung vom 22. Juli 2002 und der
Klage der Ausgleichskasse hervorgeht. Es besteht somit kein Anlass zu einer
Reduktion des erwähnten Betrages auf die Hälfte.

6.
Dass die Beschwerdeführerin "nur" die Ehefrau des faktischen Geschäftsführers
und Delegierten des Verwaltungsrats gewesen sei, vermag sie
rechtsprechungsgemäss ebenfalls nicht zu exkulpieren. Wenn sie sich in den
Verwaltungsrat wählen lässt, hat sie die Pflichten dieses Mandats mit aller
Sorgfalt zu erfüllen. Allein auf ihren Ehemann zu vertrauen, ist eine
Verkennung ihrer Aufgabe und stellt eine grobe Sorgfaltspflichtverletzung dar
(ZAK 1992 S. 255 Erw. 7b in fine; in AHI 1993 S. 163 nicht publizierte
Erwägung 6a).

7.
Schliesslich ist entgegen den Ausführungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde kein Mitverschulden der Kasse auszumachen. Das
kantonale Gericht hat sich zu diesem Punkt einlässlich geäussert; auf seine
zutreffenden Erwägungen wird vollumfänglich verwiesen.

8.
Die Vorinstanz hat die Überweisung der Akten an das Verwaltungsgericht des
Kantons Zug angeordnet, welches für die Beurteilung der Beitragsschuld
gegenüber der Ausgleichskasse für die kantonalen Familienzulagen zuständig
ist. Auch das vorliegende Urteil ist dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug
zuzustellen.

9.
Das Verfahren ist kostenpflichtig, weil es nicht die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen betrifft (Art. 134 OG e contrario).
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1
OG) und es besteht kein Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG). Letzteres gilt auch für den anwaltlich
vertretenen Beigeladenen D.________ (vgl. BGE 97 V 32 Erw. 5; SVR 1995 AHV
Nr. 70 S. 214 Er. 6b), da auch er mit seinem die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde unterstützenden Antrag unterliegt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 5'000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt
und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, D.________, R.________, dem
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Zug und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 18. August 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: