Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 113/2004
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H 113/04

Urteil vom 31. Januar 2006
II. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiber Widmer

H.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Philipp Simmen,
Dammstrasse 14, 2540 Grenchen,

gegen

Ausgleichskasse Promea, Ifangstrasse 8, 8952 Schlieren, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg, Sozialversicherungsgerichtshof,
Givisiez

(Entscheid vom 22. April 2004)

Sachverhalt:

A.
H. ________ war von Juni 1997 bis 21. November 2000 Mitglied des
Verwaltungsrats der Firma E.________ AG die sich mit der Fabrikation, dem
Verkauf und dem Handel von Möbeln befasste. Die Firma E.________ AG war als
beitragspflichtige Arbeitgeberin bis 31. Dezember 2000 der Ausgleichskasse
X.________ und ab 1. Januar 2001 der Ausgleichskasse Promea angeschlossen.

Am 8. Juni 2001 gewährte das Zivilgericht der Gesellschaft eine viermonatige
Nachlassstundung. Am 12. Juli 2001 gab die Ausgleichskasse beim
Nachlassverwalter ihre Forderung für ausstehende Sozialversicherungsbeiträge
ein. Mit Entscheid vom 17. Dezember 2001 wurde der Nachlassvertrag mit
Vermögensabtretung zwischen der Firma E.________ AG und den Gläubigern
gerichtlich bestätigt.

Mit Verfügung vom 29. November 2002 verpflichtete die Ausgleichskasse
H.________, ihr unter solidarischer Haftung mit B.________ für entgangene
Beiträge Schadenersatz in der Höhe von Fr. 142'711.40 zu bezahlen, dies gegen
Abtretung einer allfälligen Nachlassdividende. Mit einer weiteren Verfügung
vom 24. Januar 2003 verpflichtete die Ausgleichskasse H.________ zusätzlich
zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 105'405.75, weil er sein
Mandat als Verwaltungsratsmitglied erst auf den 26. Februar 2001 niedergelegt
habe. Der gesamte Schaden belaufe sich auf Fr. 248'117.15 und umfasse
Beitragsausstände in der Zeit von März 1998 bis Januar 2001. Mit Entscheid
vom 9. Mai 2003 wies die Ausgleichskasse die von H.________ gegen beide
Verfügungen erhobenen Einsprachen ab und verpflichtete diesen zur Bezahlung
von Schadenersatz im Betrag von Fr. 248'117.15, gegen Abtretung einer
allfälligen Nachlassdividende.

B.
H.________ liess beim Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg Beschwerde
führen mit dem Antrag, der Einspracheentscheid sei aufzuheben; eventuell sei
die Schadenersatzforderung angemessen herabzusetzen. In teilweiser
Gutheissung der Beschwerde setzte das Verwaltungsgericht die
Schadenersatzforderung der Ausgleichskasse in Abänderung des
Einspracheentscheides auf Fr. 201'019.90 herab und verband die Verpflichtung
zur Bezahlung dieses Betrages mit der Abtretung einer allfälligen
Nachlassdividende an H.________.

C.
H.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
der vorinstanzliche Entscheid und der Einspracheentscheid seien aufzuheben.

Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
2.1 Verschuldet ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige
Missachtung von Vorschriften einen Schaden, so hat er diesen der
Ausgleichskasse zu ersetzen (Art. 52 AHVG in der vorliegend anwendbaren, bis
31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung). Ist der Arbeitgeber eine
juristische Person, so können subsidiär gegebenenfalls die verantwortlichen
Organe in Anspruch genommen werden (BGE 123 V 15 Erw. 5b, 122 V 66 Erw. 4a,
je mit Hinweisen).

Ausgangspunkt eines jeden Schadenersatzprozesses ist der Eintritt eines
Schadens bei der Ausgleichskasse, verursacht durch absichtliche oder
grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften durch einen Arbeitgeber. Eine
der wesentlichen Voraussetzungen besteht somit darin, dass der
Ausgleichskasse ein Schaden entstanden ist (Nussbaumer, Die Ausgleichskasse
als Partei im Schadenersatz-Prozess nach Art. 52 AHVG, in: ZAK 1991 S. 383 f.
mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung gilt der Schaden als eingetreten,
wenn die Beiträge aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht mehr
eingefordert werden können (BGE 113 V 258 Erw. 3c mit Hinweisen). Bleiben die
Beiträge wegen Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers unbezahlt, so gilt der
Schaden als eingetreten, sobald die Beiträge nicht mehr im ordentlichen
Verfahren nach Art. 14 ff. AHVG erhoben werden können (BGE 112 V 157 Erw. 2;
ZAK 1991 S. 129 Erw. 2c, 1990 S. 287 Erw. 3b/aa). Dies ist u.a. dann der
Fall, wenn die Beiträge gemäss Art. 15 AHVG auf dem Weg der Betreibung
eingefordert werden und das Betreibungsverfahren zu einem definitiven
Verlustschein führt (ZAK 1990 S. 288 Erw. 3b/cc) oder wenn das
Konkursverfahren mangels Aktiven eingestellt wird (ZAK 1990 S. 289 Erw. 4b).
Im Fall eines Konkurses tritt der Schaden in jenem Zeitpunkt ein, in welchem
sich herausstellt, dass die Forderungen der Ausgleichskasse durch die
Konkursmasse nicht gedeckt sind (unveröffentlichtes Urteil S. und A. vom 5.
April 1994, H 274/93).

2.2 Gemäss Art. 306 Abs. 2 Ziff. 2 SchKG wird die Bestätigung des
Nachlassvertrages u.a. an die Voraussetzung geknüpft, dass die vollständige
Befriedigung der angemeldeten privilegierten Gläubiger hinlänglich
sichergestellt ist. Zu den privilegierten, in der 2. Klasse zugelassenen
Forderungen zählen nebst anderen laut Art. 219 Abs. 4 SchKG (in der
vorliegend anwendbaren, seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung) - wie bereits
vor dem 1. Januar 1997 - auch die Beitragsforderungen nach dem AHVG, IVG,
UVG, EOG und AVIG. Mit Blick auf diese Bestimmungen hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht wiederholt festgestellt, dass sich die Frage des
Schadenseintritts bei genehmigtem Nachlassvertrag praktisch nur für
Sachverhalte stellen kann, die in den Zeitraum fallen, in welchem die
Beitragsforderungen der Ausgleichskasse nicht in der 2. Klasse privilegiert
waren (1. Januar 1997 bis 31. Dezember 2000). Für die Zeit ab 1. Januar 2001
sind Haftungsfälle wegen der bei Genehmigung des Nachlassvertrages
vorausgesetzten vollen Deckung der privilegierten Forderungen lediglich
denkbar, wenn die Nachlassstundung widerrufen oder dem Nachlassvertrag die
Genehmigung verweigert wird (Urteile G. vom 2. Februar 2005, H 86/02, W. vom
18. Januar 2005, H 77/03, und B. vom 25. November 2004, H 232/03).

3.
Im vorliegenden Fall wurde der Firma E.________ AG am 8. Juni 2001 für die
Dauer von vier Monaten Nachlassstundung gewährt, worauf die Ausgleichskasse
ihre Beitragsforderungen beim Nachlassverwalter eingab. Mit Entscheid vom 17.
Dezember 2001 genehmigte der Präsident des Zivilgerichts den von der Firma
E.________ AG ihren Drittklassgläubigern vorgeschlagenen Nachlassvertrag mit
Vermögensabtretung. Da die gerichtliche Bestätigung des Nachlassvertrags -
wie dargelegt - voraussetzt, dass die Befriedigung der in der 1. und 2.
Klasse privilegierten Forderungen hinlänglich sichergestellt ist, war der
Ausgleichskasse (zumindest) bis zum Erlass der beiden
Schadenersatzverfügungen vom 29. November 2002 und 24. Januar 2003 kein
Schaden entstanden. Vielmehr war auf Grund des Nachlassvertrages mit einer
vollständigen Befriedigung der Beitragsforderungen zu rechnen. Vom Fehlen
eines Schadens ging im Übrigen offenbar auch die Ausgleichskasse selbst aus,
hielt sie doch in der Schadenersatzverfügung vom 29. November 2002 unter
Hinweis auf den gerichtlich bestätigten Nachlassvertrag vom 17. Dezember 2001
fest, dass die Deckung ihrer Forderung möglich, wenn auch nicht sicher sei.
Da der Ausgleichskasse jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Verwertung sämtlicher
Aktiven der Firma E.________ AG kein Schaden entstanden ist, fehlt dem
angefochtenen Gerichtsentscheid und dem Einspracheentscheid, mit welchem die
Schadenersatzverfügungen bestätigt wurden, die Grundlage, was zu deren
Aufhebung führt.

4.
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden
Ausgleichskasse aufzuerlegen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 OG).
Diese hat dem Beschwerdeführer überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Freiburg vom 22. April 2004 und der
Einspracheentscheid der Ausgleichskasse Promea vom 9. Mai 2003 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 7000.- werden der Ausgleichskasse Promea
auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 7000.- wird dem Beschwerdeführer
zurückerstattet.

4.
Die Ausgleichskasse Promea hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

5.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg,
Sozialversicherungsgerichtshof, und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 31. Januar 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: