Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen B 91/2004
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2004
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2004


B 91/04

Urteil vom 5. Oktober 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Arnold

S.________, 1946, Beschwerdeführerin, vertreten durch den Rechtsdienst für
Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich,

gegen

Pensionskasse Imbrex, Stationsstrasse 100, 8424 Embrach, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Christina Ammann, Bahnhofstrasse 12, 8610
Uster,

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 30. Juni 2004)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 30. Dezember 2002 sprach die IV-Stelle des Kantons Zürich
der 1946 geborenen S.________ bei einem Invaliditätsgrad von 90 % eine ganze
Invalidenrente zu. Eine Kopie des an S.________ gerichteten Verwaltungsaktes
wurde der Steuerverwaltung Zürich sowie der Ausgleichskasse Zürcher
Arbeitgeber zugestellt. Der Rechtsdienst für Behinderte sandte (in seiner
Eigenschaft als Vertreter von S.________) am 9. Januar 2003 ein Doppel der
leistungszusprechenden Verfügung an die Pensionskasse Imbrex. Diese nahm
Einsicht in die Akten der Invalidenversicherung (Gesuch vom 28. Januar 2003;
Zustellung der Akten am 31. Januar 2003), um am 28. Februar 2003 Einsprache
zu erheben, auf welche die Verwaltung nicht eintrat, weil die entsprechende
Frist abgelaufen sei (Einspracheentscheid vom 30. Juni 2003).

B.
In Gutheissung der durch die Pensionskasse Imbrex hiegegen eingereichten
Beschwerde hob das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den
Einspracheentscheid auf und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit
diese auf die Einsprache eintrete (Entscheid vom 30. Juni 2004).

C.
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und das Rechtsbegehren
stellen, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und "es sei
festzustellen, dass die Pensionskasse Imbrex die IV-Verfügung vom 30.
Dezember 2002 gegen sich gelten lassen müsse".

Die Pensionskasse Imbrex, die IV-Stelle sowie das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht prüft von Amtes wegen und ohne
Bindung an die Parteianträge die formellen Gültigkeitserfordernisse in Bezug
auf das kantonale Beschwerdeverfahren, insbesondere auch die Frage, ob die
Vorinstanz zu Recht auf die Beschwerde oder Klage eingetreten ist. Ein
materieller Entscheid ist von Amtes wegen aufzuheben, wenn sich im
Rechtsmittelverfahren ergibt, dass es an einer Prozessvoraussetzung fehlte
(BGE 119 V 12 Erw. 1; Urteil T.H. vom 30. März 1999, U 201/98, Erw. 1 mit
Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur).

2.
Ausgangspunkt des Verfahrens bildet die Verfügung der IV-Stelle vom 30.
Dezember 2002.

Die Rechtmässigkeit einer vor In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar 2003
erlassenen Verfügung über eine Rente der Invalidenversicherung ist
rechtsprechungsgemäss auch bei (rechtzeitiger) Anfechtung nach diesem
Zeitpunkt im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren zu prüfen. Der Weg
der Einsprache steht nicht offen, weil bei einer vor dem 31. Dezember 2002
datierenden Verfügung dem ihr vorausgegangenen Vorbescheidverfahren gemäss
Art. 73bis IVV (in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2002) nach seinem Sinn
und Zweck weitgehend dieselbe Bedeutung wie dem Einspracheverfahren nach Art.
52 Abs. 1 ATSG zukommt (Urteil M. vom 26. Januar 2005, I 543/04, Erw. 1.2.1
mit Hinweisen).

Die IV-Stelle hätte daher die als Einsprache bezeichnete Eingabe der
Pensionskasse Imbrex vom 28. Februar 2003 als Beschwerde an das kantonale
Gericht weiterleiten müssen (vgl. alt Art. 69 IVG in Verbindung mit alt Art.
84 ff. AHVG und alt Art. 200 f. AHVV). Der Einspracheentscheid vom 30. Juni
2003 war allein aus diesem Grund aufzuheben.

3.
Der Umstand, dass im vorinstanzlichen Verfahren nicht der Einspracheentscheid
vom 30. Juni 2003, sondern die Verwaltungsverfügung vom 30. Dezember 2002
Anfechtungs- und Streitgegenstand bildete, ändert nichts daran, dass
letztinstanzlich darüber zu befinden ist, ob der kantonale Gerichtsentscheid
vor Bundesrecht stand hält (Art. 104 lit. a OG), indem er die am 28. Februar
2003 der Post übergebene Eingabe der Pensionskasse Imbrex gegen die
Verwaltungsverfügung vom 30. Dezember 2002 in Anbetracht der konkreten
Umstände als zulässige Rechtsvorkehr qualifizierte.

3.1 In BGE 129 V 73 entschied das Eidgenössische Versicherungsgericht
bezüglich der hier massgebenden, bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen -
verfahrensrechtlichen - Normenlage (vgl. Erw. 1 hievor), dass die IV-Stelle
verpflichtet ist, eine Rentenverfügung allen in Betracht fallenden
Vorsorgeeinrichtungen von Amtes wegen zu eröffnen. Dem BVG-Versicherer steht
ein selbstständiges Beschwerderecht im Verfahren nach IVG zu. Unterbleibt ein
solches Einbeziehen der Vorsorgeeinrichtungen, ist die
invalidenversicherungsrechtliche Festsetzung des Invaliditätsgrades
(grundsätzlich, masslich und zeitlich) berufsvorsorgerechtlich nicht
verbindlich.

3.2 Es steht fest und ist zu Recht unbestritten, dass die IV-Stelle die
leistungszusprechende Verfügung vom 30. Dezember 2002 der Pensionskasse
Imbrex nicht eröffnete. Dem kantonalen Gericht ist darin beizupflichten, dass
die nachträgliche Zusendung einer Kopie der Verfügung durch die Verwaltung
oder - wie hier geschehen - durch den Verfügungsadressaten keine formgültige
Eröffnung bildet. Nach konstanter Rechtsprechung führt eine fehlerhafte
Eröffnung nicht zur Nichtigkeit der Verfügung; verlangt wird bloss, dass dem
Verfügungsadressat, wie in Art. 38 VwVG (und analog in Art. 107 Abs. 3 OG)
umschrieben, daraus kein Nachteil erwächst (Urteil E. vom 13. Februar 2001, C
168/00, mit Hinweisen [zusammengefasst in SZS 2002 S. 509]; BGE 122 I 99 Erw.
3a/aa mit Hinweisen). Laut dem zitierten Urteil E. vom 13. Februar 2001 kann
eine fehlerhaft eröffnete Verfügung rechtsbeständig werden, nämlich dann,
wenn der Verwaltungsakt nicht innert vernünftiger Frist seit jenem Zeitpunkt
in Frage gestellt wird, da der Verfügungsadressat Kenntnis vom
Verfügungsinhalt hat. Das kantonale Gericht folgerte daraus, dass die
Pensionskasse Imbrex, welche spätestens am 16. Januar 2003 Kenntnis von der
Verfügung vom 30. Dezember 2002 erhalten hat, worauf sie am 28. Januar 2003
Einsicht in die IV-Akten verlangte und am 28. Februar 2003 Einsprache, sprich
Beschwerde (Erw. 1), führte, den Verwaltungsakt innert vernünftiger Frist in
Frage gestellt habe, weshalb dieser ihr gegenüber keine Rechtskraft erlange.

3.3 Der Umstand, dass die IV-Stelle es unterliess, die Pensionskasse Imbrex
spätestens im - altrechtlichen - Vorbescheidverfahren in das IV-Verfahren
einzubeziehen und in der Folge als Partei mit einer Verfügung zu bedienen,
stellt einen Eröffnungsfehler dar. Dieser darf sich rechtsprechungsgemäss
(Erw. 2.2) nicht zum Nachteil der betroffenen Person auswirken. Die
angemessene Sanktion eines Eröffnungsfehlers lässt sich dabei nicht in
allgemeiner Weise umschreiben, sondern hängt vom Einzelfall ab. Sie
resultiert aus einer Interessenabwägung, deren Sinn und Ziel darin liegt, die
Partei vor Nachteilen zu schützen, die sie infolge des Mangels erleiden würde
(Kölz/Häner, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2.
Aufl. Zürich 1998, Rz 364 ff. mit Hinweisen).

3.4 Für die hier zu beurteilende Konstellation ist an die in Erw. 3.1
wiedergegebene Rechtsprechung zur Verfahrenskoordination anzuknüpfen. Danach
ist bei fehlendem Einbezug des BVG-Versicherers in das IV-Verfahren die
invalidenversicherungsrechtliche Festsetzung des Invaliditätsgrades für die
Vorsorgeeinrichtung nicht verbindlich. Das hat auch dann seine Richtigkeit,
wenn eine Vorsorgeeinrichtung - auf welchen Wegen auch immer - erst
nachträglich, d.h. nicht im Zuge der Eröffnung an die versicherte Person, in
den Besitz einer IV-Rentenverfügung gelangt. In beiden Fällen konnte die
Vorsorgeeinrichtung keinen Einfluss auf den Gang des
invalidenversicherungsrechtlichen Verfahrens nehmen, weshalb da wie dort eine
Verbindlichkeitswirkung nicht gerechtfertigt ist. Damit besteht kein Anlass
zur Einräumung eines Rechts auf Beschwerde oder (seit 1. Januar 2003)
Einsprache in solchen Fällen. Würde demgegenüber, wie es die Vorinstanz
postuliert, einem präsumtiv leistungspflichtigen BVG-Versicherer nachträglich
die Rechtsmittelergreifung innert vernünftiger Frist seit Kenntnisnahme der
Verfügung der IV-Stelle zugestanden, bestünde die Gefahr, dass nach mehr oder
minder grossem Zeitablauf eine Vorsorgeeinrichtung noch die Neubeurteilung
der invalidenversicherungsrechtlichen Ansprüche verlangen könnte. Das kann
mit Blick auf die Rechtssicherheit nicht hingenommen werden.

4.
Insoweit die Beschwerdeführerin in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eine
Rechtsmittelberechtigung der Pensionskasse Imbrex (im
invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren) bestreitet, ist ihr
beizupflichten. Die mit Verfügung vom 30. Dezember 2002 zugesprochene ganze
Invalidenrente nach IVG kann durch die Vorsorgeeinrichtung nicht mehr in
Frage gestellt werden. Nicht gefolgt werden kann der Beschwerdeführerin,
soweit sie daraus schliesst, dass der Zusprechung einer ganzen Invalidenrente
nach IVG berufsvorsorgerechtlich Bindungswirkung zukomme (BGE 129 V 73).

5.
Dem Prozessausgang entsprechend sind die gestützt auf Art. 134 OG e contrario
zu erhebenden Gerichtskosten von den Parteien je zur Hälfte zu tragen (Art.
135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 3 OG). Der teilweise obsiegenden
Beschwerdeführerin steht eine (reduzierte) Parteientschädigung zu Lasten der
Pensionskasse Imbrex zu (Art. 159 Abs. 1 und 3 OG in Verbindung it Art. 135
OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. Juni
2004 aufgehoben, soweit die Vorinstanz die Sache an die IV-Stelle des Kantons
Zürich zurückgewiesen hat. Soweit weitergehend wird die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden den Parteien je zur Hälfte auferlegt.
Der auf die Beschwerdeführerin entfallende Anteil von Fr. 250.- ist durch den
geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 500.- gedeckt; der Differenzbetrag von
Fr. 250.- wird ihr zurückerstattet.

3.
Die Pensionskasse Imbrex hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der IV-Stelle des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 5. Oktober 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: