Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen B 106/2004
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B 106/04

Urteil vom 16. Mai 2006
IV. Kammer

Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin
Riedi Hunold

M.________, 1952, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Claudia
Giusto, Sonneggstrasse 55, 8006 Zürich,

gegen

Betriebliche Altersvorsorgeeinrichtung Gastrosocial, Bahnhofstrasse 86, 5001
Aarau, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 24. August 2004)

Sachverhalt:

A.
M.________ (geboren 1952) war als selbstständigerwerbender Gastwirt tätig. Am
23. Mai 1996 unterzeichnete er die Anmeldung für die Planvorsorge (BAV1) der
Betrieblichen Altersvorsorge Gastrosuisse (heute: Gastrosocial). Die Fragen
"Sind Sie gesund?" und "Sind Sie voll arbeitsfähig?" bejahte er, währenddem
er jene "Hatten Sie in den letzten 5 Jahren Krankheiten oder/und bestehen bei
Ihnen Körperschäden?" verneinte. Am 26. Juni 1996 stellte die Gastrosocial
die entsprechenden Versicherungsausweise aus. Seit 25. März 2002 ist
M.________ voraussichtlich dauernd arbeitsunfähig in seiner angestammten
Tätigkeit als Wirt. In der Folge beantragte er bei der Gastrosocial die
Ausrichtung der vereinbarten Leistungen. Die Gastrosocial klärte den
medizinischen Sachverhalt ab und trat mit Schreiben vom 19. September 2002
vom Vertrag zurück, da M.________ die Fragen im Anmeldeformular nicht
wahrheitsgemäss beantwortet habe.

B.
Mit Klage vom 13. November 2003 liess M.________ die Ausrichtung einer
jährlichen Invalidenrente von Fr. 22'400.- durch die Gastrosocial beantragen.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die Klage mit Entscheid vom
24. August 2004 ab.

C.
M.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, es
seien der kantonale Entscheid aufzuheben und die Gastrosocial zu
verpflichten, ihm eine Invalidenrente von jährlich Fr. 22'400.- zu erbringen.
Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. Die Gastrosocial schliesst
sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D.
Mit Schreiben vom 8. November 2004 liess M.________ mitteilen, dass er am
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege nicht festhalte.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die vorliegende Streitigkeit unterliegt der Gerichtsbarkeit der in Art. 73
BVG erwähnten richterlichen Behörden, welche sowohl in zeitlicher als auch in
sachlicher Hinsicht zuständig sind (BGE 130 V 104 Erw. 1.1, 112 Erw. 3.1.2,
128 II 389 Erw. 2.1.1, 128 V 258 Erw. 2a, 120 V 18 Erw. 1a, je mit
Hinweisen).

2.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über die analoge Anwendung
des Bundesgesetzes über den Versicherungsvertrag (VVG) auf das vorliegende
vorsorgerechtliche Verhältnis (BGE 130 V 11 Erw. 2.1 [= Urteil L. vom 28.
Oktober 2003, B 15 + 16/02], 119 V 286 Erw. 4, je mit Hinweisen), den Umfang
der Anzeigepflicht (Art. 4 VVG; BGE 116 V 226 Erw. 5a sowie SZS 1998 S. 309
Erw. 2 und S. 374 Erw. 3, je mit Hinweisen), einschliesslich der
Nachmeldepflicht (BGE 116 V 227 Erw. 5a mit Hinweisen), sowie das
Rücktrittsrecht des Versicherers (Art. 6 VVG; BGE 130 V 11 Erw. 2.1 [= Urteil
L. vom 28. Oktober 2003, B 15 + 16/02], 119 V 287 Erw. 5a, 116 V 229 Erw. 6,
je mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Streitig ist, ob die Gastrosocial zum Vertragsrücktritt berechtigt war. Dabei
geht es insbesondere um die Frage, ob der Beschwerdeführer seine
Anzeigepflicht verletzt hat oder nicht.

4.
Gemäss Bericht der Frau Dr. med. G.________, Medizinische Poliklinik,
Departement für Innere Medizin, Universitätsspital X.________, vom 29. Juli
2002 leidet der Beschwerdeführer seit April 2001 an progredienten, dumpfen
und bohrenden Schmerzen im linken Oberarm mit Ausstrahlung in Ellbogen und
Hand, degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule und einer möglichen
Neurokompression des Nervus ulnaris. Trotz intensiven physikalischen und
pharmakologischen Therapien habe sich der Verlauf nicht gebessert. Die
Arbeitsunfähigkeit betrage 100 % seit 25. März 2002 bis auf weiteres. Mit der
Wiederaufnahme der angestammten Tätigkeit könne nicht mehr gerechnet werden.
Zudem erwähnt sie den Status nach Tuberkulose Peritonitis nach Perikarditis
1971.
In ihrem Bericht vom 13. August 2002 gibt Frau Dr. med. G.________ an, der
Beschwerdeführer sei der Poliklinik seit 1990 bekannt; seit 1996 sei er dort
in regelmässiger hausärztlicher Behandlung. Die Beschwerden, welche seit März
2002 eine Arbeitsunfähigkeit verursachten, bestünden seit März 2001. Die
diversen spezialärztlichen Abklärungen hätten bis anhin kein
pathomorphologisches Korrelat ergeben. Trotz regelmässiger physikalischer und
pharmakologischer Therapien habe sich der Zustand nicht gebessert, sondern es
sei zu einer stetigen Progredienz gekommen. Seit März 2002 sei er nicht mehr
in der Lage, seiner angestammten Tätigkeit nachzugehen. Eine berufliche
Eingliederung sei höchstens für leichte körperliche Arbeiten gegeben.

Mit Schreiben vom 2. September 2002 berichtete Frau Dr. med. G.________, der
Beschwerdeführer sei von Mai bis August 1996 wegen Verdachts auf Peritonitis
tuberculosa (ohne Erregernachweis) in der Poliklinik behandelt worden. Die
tuberkulostatische Therapie habe 9 Monate gedauert. Eine Arbeitsunfähigkeit
habe nicht bestanden. Anamnestisch seien tuberkulöse Perikarditis (1971),
eine Inguinalhernie (1977), ein Lumbovertebralsyndrom (1994) sowie eine
obstruktive Ventilationsstörung (1989) zu verzeichnen.

Gemäss einem weiteren Bericht vom 7. April 2003 der Frau Dr. med. G.________
war der Beschwerdeführer erstmals am 26. Februar 1990, dann erneut am 29.
Dezember 1994, am 4. Januar 1995 und am 5. Mai 1996 in der Poliklinik in
Behandlung sowie anschliessend in regelmässigen Verlaufskontrollen. Die
tuberkulostatische Therapie habe von Juni 1996 bis März 1997 gedauert. Der
Patient sei der Poliklinik im Mai 1996 von Dr. med. F.________, Facharzt für
Gastroenterologie, zur Abklärung wegen Verdacht auf tuberkulöse Peritonitis
bei Aszites und AZ-Abnahme zugewiesen worden. Tuberkulosebakterien hätten
keine nachgewiesen werden können. Unter antituberkulöser Therapie habe sich
der Gesundheitszustand gebessert, sodass von einer Tbc-Erkrankung ausgegangen
werden müsse. Es sei anzunehmen, dass er spätestens bei Behandlungsbeginn
über die Diagnose informiert gewesen sei. Er habe sich am 29. Dezember 1994
wegen akuten lumbalen Rückenschmerzen in der Poliklinik untersuchen lassen
und sei mit Medikamenten behandelt worden. Im Röntgenbild der LWS sei eine
Osteochondrose und Spondylodese im Sinne degenerativer Veränderungen
nachweisbar gewesen. Seither habe er keine Rückenschmerzen mehr angegeben.

5.
Die Gastrosocial beruft sich einerseits auf die Verletzung der Anzeigepflicht
infolge unterlassener Angabe des 1994 aufgetretenen Lumbovertebralsyndroms,
andererseits infolge unterlassener Angabe bzw. Nachmeldung der
tuberkulostatischen Behandlung.

5.1 Für die Prüfung der Frage, ob die Leiden des Beschwerdeführers
Krankheiten darstellen, die er im Anmeldeformular hätte angeben müssen,
stützt sich die Vorinstanz auf den Krankheitsbegriff der WHO sowie auf jenen
gemäss Art. 3 ATSG. Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden. Zwar ist
es zutreffend, dass ein objektivierter Massstab gilt; doch ist für das
Verständnis der von der Vorsorgeeinrichtung gestellten Gesundheitsfragen
stets von den individuellen Eigenschaften (Bildungsgrad, Intelligenz,
Erfahrung) und Verhältnissen der betroffenen Person auszugehen. Entscheidend
ist somit, ob und inwieweit ein Antragsteller nach seiner Kenntnis der
Verhältnisse und gegebenenfalls nach den ihm von fachkundiger Seite erteilten
Aufschlüssen eine Frage des Versicherers in guten Treuen verneinen durfte
(BGE 116 V 227 Erw. 5b; SVR 1997 BVG Nr. 81 S. 250 Erw. 3b). So konnte ein
Versicherter als medizinischer Laie die Frage nach einer Gesundheitsstörung
(oder Anomalie) ohne Verletzung der Anzeigepflicht verneinen, da er in den
letzten fünf Jahren seiner Erwerbstätigkeit ohne Leistungsabfall nachgehen
konnte und in dieser Zeit auch keine ärztliche Behandlung benötigte (Urteil
B. vom 14. März 2006, B 48/04). Demzufolge ist darauf abzustellen, wie der
Beschwerdeführer auf Grund seines persönlichen Hintergrunds die Fragen
verstehen durfte, und es ist unzulässig, spezielle juristische oder
medizinische Kenntnisse (wie etwa die rechtliche oder medizinische Definition
des Begriffs Krankheit) vorauszusetzen.

5.2 Der Beschwerdeführer durfte unter Berücksichtigung aller Umstände davon
ausgehen, dass es sich bei seinen Rückenbeschwerden Ende 1994 nicht um eine
Krankheit im Sinne der gestellten Fragen handelt, da er sich nur am 29.
Dezember 1994 wegen Rückenbeschwerden behandeln liess; in der Folge, also
auch anlässlich des Termins vom 4. Januar 1995, klagte er nicht mehr über
Rückenschmerzen (Bericht der Frau Dr. med. G.________ vom 7. April 2003).
Diese waren somit innert Tagen unter Einnahme der Medikamente bereits wieder
abgeklungen und tauchten auch nicht wieder auf. Demnach kann dem
Beschwerdeführer, zumal bei offen gehaltenen Fragen die
Anzeigepflichtverletzung nur restriktiv anzunehmen ist (SVR 1997 BVG Nr. 81
S. 251 Erw. 4b; Urteil S. vom 18. September 2000, B 38/99), keine Verletzung
seiner Pflichten vorgeworfen werden.

5.3 Der Beschwerdeführer befand sich im Frühjahr 1996 in ärztlicher
Behandlung zur Abklärung von Beschwerden. Infolge Verdachts auf tuberkulöse
Peritonitis bei Aszites und AZ-Abnahme überwies ihn Dr. med. F.________ an
die Poliklinik, wo er diesbezüglich am 5. Mai 1996 einen Termin hatte und in
der Folge weitere Abklärungen vorgenommen wurden. Zwar konnten keine
Tuberkulosebakterien nachgewiesen werden, doch wurde von Juni 1996 bis März
1997 eine tuberkulostatische Behandlung durchgeführt. Als der
Beschwerdeführer am 23. Mai 1996 die im Anmeldefragebogen gestellten
gesundheitsbezogenen Fragen beantwortete, hatte er bereits den ersten Termin
in der Poliklinik hinter sich, und es folgten noch weitere Abklärungen. Auf
Grund der Überweisung durch den Spezialisten an die Poliklinik sowie die
notwendig gewordenen weiteren Abklärungen, spätestens jedoch bei Beginn der
tuberkulostatischen Behandlung im Juni 1996 musste auch dem Beschwerdeführer
als medizinischem Laien klar sein, dass es sich bei seinen Beschwerden nicht
bloss um eine vorübergehende und belanglose Beeinträchtigung des
Wohlbefindens handelte. Damit hätte er die entsprechenden ärztlichen
Untersuchungen in der Anmeldung deklarieren, spätestens jedoch bei Beginn der
Therapie nachmelden müssen (vgl. SZS 2003 S. 362 [= Urteil W. vom 28. Juni
2002, B 60/01]). Daran ändert auch der Umstand nichts, dass er stets voll
arbeitsfähig war. Denn auf Grund der erfolgten Abklärungen und vor allem des
bei Ausfüllen des Anmeldeformulars noch nicht bekannten Erfolgs der
Behandlung konnte er nicht davon ausgehen, dass dieses Leiden später nicht zu
einer schwerwiegenden Gesundheitsstörung führen könnte. Somit durfte er die
Frage nach Krankheiten und Körperschäden nicht in guten Treuen verneinen.

5.4 Nach dem Gesagten ist der kantonale Entscheid im Ergebnis zu bestätigen.

6.
Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss
Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 16. Mai 2006

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Vorsitzende der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: