Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Anklagekammer 8G.14/2004
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8G.14/2004 /pai

Urteil vom 1. März 2004
Anklagekammer

Bundesrichter Karlen, Präsident,
Bundesrichter Fonjallaz, Vizepräsident,
Bundesrichter Marazzi,
Gerichtsschreiber Monn.

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 5001 Aarau,
Gesuchstellerin,

gegen

Verhöramt des Kantons Nidwalden, Kreuzstrasse 2, 6371 Stans.

Bestimmung des Gerichtsstandes in Sachen A.________ und B.________.

Sachverhalt:

A.
Am 16. Februar 2000 ging bei den Strafbehörden des Kantons Nidwalden eine
Strafanzeige von C.________ gegen A.________ als Verwaltungsratspräsident und
Geschäftsführer der D.________ AG in ..../NW mit dem Antrag ein, dieser sei
wegen ungetreuer Geschäftsbesorgung bzw. Betrugs zu verurteilen. In der
Anzeige wird ihm vorgeworfen, er habe im Namen der D.________ AG grössere
Geldbeträge (unter anderem von E.________ Fr. 120'000.--) entgegengenommen,
diese vermutlich nicht verbucht und auf nicht nachvollziehbare Weise
verwendet (Verfahren 283 00 1). Weitere Strafanzeigen der Ausgleichskasse
Nidwalden und des Betreibungs- und Konkursamtes Nidwalden, die ebenfalls im
Zusammenhang mit der D.________ AG stehen, gingen am 9. Mai 2001 und am 30.
Oktober 2001 bei den Nidwaldner Behörden ein (Verfahren 640 01 AB und 1567 01
AB). Das Betreibungs- und Konkursamt macht geltend, die Verantwortlichen der
D.________ AG hätten die Gesellschaft ausgehöhlt.

Im Rahmen dieses Verfahrens wurde bei der Befragung von A.________ bekannt,
dass C.________ gegen ihn bereits 1997 im Namen von E.________ im Kanton
Luzern eine Strafanzeige wegen Betrugs eingereicht hatte. Das
Amtsstatthalteramt Luzern stellte das Verfahren am 19. März 1999 ein
(Verfahren 98/14040/10).

B.
Am 17. August 2001 ging beim Bezirksamt Baden/AG eine weitere Strafanzeige
gegen A.________ sowie gegen B.________ wegen des Verdachts auf strafbare
Handlungen gegen das Vermögen ein. Mit einer fingierten Rechnung sollen
A.________ und B.________ an einem Betrug beteiligt gewesen sein, den eine
inzwischen verstorbene Person zum Nachteil einer Bank in Brugg/AG begangen
habe (Verfahren BA02.ST.2001.06086).

C.
Am 18. Februar 2003 ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau das
Verhöramt des Kantons Nidwalden um Übernahme des beim Bezirksamt Baden
hängigen Verfahrens.

Am 6. September 2003 lehnte das Verhöramt des Kantons Nidwalden die Übernahme
ab.

Zwischen November 2003 und Januar 2004 fand zwischen den beiden Behörden ein
weiterer Schriftenwechsel statt, der zu keiner Einigung führte.

D.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau wendet sich mit Eingabe vom 2.
Februar 2004 an die Anklagekammer des Bundesgerichts und beantragt, in ihrem
Verfahren BA02.ST.2001.06086 seien die Behörden des Kantons Nidwalden zur
gesamthaften Verfolgung und Beurteilung der Beschuldigten A.________ und
B.________ berechtigt und verpflichtet zu erklären (act. 1).

Das Verhöramt des Kantons Nidwalden beantragt mit Eingabe vom 18. Februar
2004, der Kanton Aargau sei als berechtigt und verpflichtet zu erklären zur
Strafverfolgung und Beurteilung der Beschuldigten A.________ und B.________
im Verfahren des Kantons Aargau BA02.ST.2001.06086 sowie in den vom Verhöramt
des Kantons Nidwalden eröffneten Verfahren 283 00 1, 640 01 AB und 1567 01 AB
(act. 5).

Die Kammer zieht in Erwägung:

1.
Gegen die Beschuldigten sind weitere Verfahren in den Kantonen
Basel-Landschaft, Zürich und Schwyz hängig (act. 1 S. 2). Die
Gerichtsstandsauseinandersetzung vor der Anklagekammer ist nach dem
ausdrücklichen Willen beider Parteien jedoch auf die Kantone Aargau und
Nidwalden beschränkt (vgl. act. 2/8 S. 1 unten und 2/9 S. 1).

2.
Es ist unbestritten, dass der Kanton Nidwalden vor dem Kanton Aargau eine
Strafuntersuchung wegen Betrugs gegen A.________ angehoben hat (act. 5 S. 4).
Das Verhöramt des Kantons Nidwalden ist jedoch der Auffassung, es gehe bei
den beiden von C.________ 1997 im Kanton Luzern und 2000 im Kanton Nidwalden
eingereichten Strafanzeigen um genau den gleichen Vorfall zum Nachteil von
E.________, der 1999 im Kanton Luzern bereits rechtskräftig erledigt worden
sei. Obwohl das Verfahren im Kanton Nidwalden noch nicht formell
abgeschlossen worden sei, wäre es stossend, nun diesen Kanton zu
verpflichten, "alle pendenten, langjährigen Strafprozeduren gegen A.________
und weitere Personen zu übernehmen" (vgl. act. 5 S. 3/4).

C. ________ warf A.________ seinerzeit in Luzern unter anderem vor, dieser
habe von E.________ Fr. 120'000.-- erhalten, um damit eine Aktiengesellschaft
zu gründen, was er dann aber nicht getan habe (Verfahren 98/14040/10 Faszikel
0 act. 3 S. 3). Das Amtsstatthalteramt Luzern stellte das Verfahren ein, weil
E.________ im Zusammenhang mit den von ihm zur Verfügung gestellten Darlehen
grundlegendste Sorgfaltspflichten habe vermissen lassen und A.________
deshalb nicht arglistig gehandelt habe (Entscheid vom 19. März 1999 S. 5
Ziff. 3). Der Strafanzeige war eine Quittung der D.________ AG über Fr.
120'000.-- vom 15. Mai 1996 beigelegt (Faszikel 1 act. 7). Im neuen Verfahren
in Nidwalden macht C.________ geltend, er sei unter anderem im Besitz einer
Quittungskopie über Fr. 120'000.--, die A.________ von E.________
entgegengenommen habe (Verfahren 283 00 1 Strafanzeige S. 2). Dabei handelt
es sich um eine Kopie derselben Quittung, die bereits im Luzerner Verfahren
eingereicht worden war (Beleg 3 zur Strafanzeige). Folglich macht das
Verhöramt des Kantons Nidwalden jedenfalls in diesem Punkt zu Recht geltend,
dass es in beiden Verfahren um dieselbe Sache geht, die bereits 1999 im
Kanton Luzern rechtskräftig erledigt wurde. Erweist sich die massgebliche
Strafanzeige aber von vornherein als haltlos, so kann darauf bei der
Gerichtsstandsfestsetzung nicht abgestellt werden (Urteil 8G.43/2003 vom 3.
Juni 2003 E. 1.1 mit Hinweis auf BGE 98 IV 60 E. 2 S. 63 und 97 IV 146 E. 1
S. 149). Eine Strafanzeige, die eine Angelegenheit betrifft, die in einem
anderen Kanton bereits rechtskräftig erledigt wurde, und die keine neuen
Tatsachen enthält, ist trölerisch und somit offensichtlich haltlos. Folglich
kann im vorliegenden Verfahren bei der Bestimmung des Gerichtsstands auf die
neue Strafanzeige von C.________ jedenfalls insoweit nicht abgestellt werden,
als sie das Darlehen von E.________ über Fr. 120'000.-- betrifft. Daran
vermag nichts zu ändern, dass das Verhöramt in diesem Zusammenhang bereits
Befragungen durchgeführt und Abklärungen getroffen hat (act. 1 S. 5 unten),
denn zunächst war nicht ersichtlich, dass es in beiden Verfahren um dieselbe
Sache geht (vgl. act. 5 S. 3 unten).

Es stellt sich allerdings die Frage, ob die neue Anzeige von C.________ auch
insoweit von vornherein haltlos ist, als sie nicht Darlehen von E.________
betrifft. Die Anzeige wird unter anderem wie folgt begründet:
Ich bin orientiert, dass Herr A.________ im Namen der D.________ AG grössere
Geldbeträge entgegengenommen hat. Unter anderem bin ich im Besitze einer
Quittungskopie über Fr. 120'000.--, die er von Herrn E.________
entgegengenommen hat. Über weitere Zahlungen hat Herr E.________ anlässlich
der Generalversammlung orientiert und auch die Originalquittungen vorgelegt.
... Die Kontrollstelle ist über solche Zahlungseingänge nicht informiert. Ich
muss annehmen, dass diese Beträge nicht verbucht sind und somit nicht
nachvollziehbar ist, wohin das Geld geflossen ist. ... Ich sehe im Verhalten
von Herrn A.________ gegenüber seinen Aktiengesellschaften ein
betrügerisches, hochstaplerisches Vergehen, das immer wieder viele
geschädigte Dritte hinterlässt. Mit Hilfe von so genannten "Pseudo-Firmen"
versucht er sich privat zu bereichern und führt diese somit untreu und
absichtlich in den Ruin. Er nimmt Gelder entgegen und verwendet diese privat
und begeht somit Diebstahl und Betrug in der Buchführung.

Diese Ausführungen sind zwar wenig aussagekräftig. Aber der Wortlaut
(betrügerisches Vorgehen, welches "viele geschädigte Dritte" hinterlässt;
nimmt Gelder entgegen und begeht dadurch "Diebstahl und Betrug") deutet
darauf hin, dass der Anzeigeerstatter geltend machen will, neben E.________
seien auch noch andere Personen betrogen worden. Dafür spricht denn auch ein
Schreiben von ihm vom 9. Februar 2003, in dem er die Verzögerung des
Verfahrens bemängelt und ein mittlerweile ergangenes Zivilurteil erwähnt,
wonach A.________ für die Gründung einer Aktiengesellschaft ein weiteres
Darlehen von Frau E.________ erhalten habe (Verfahren 283 00 1 act. 100). Das
Verhöramt des Kantons Nidwalden hat es bis heute unterlassen, den
Anzeigeerstatter persönlich zu den von ihm erhobenen Vorwürfen zu befragen.
Bei dieser Sachlage muss die Anklagekammer im vorliegenden Verfahren davon
ausgehen, dass in Bezug auf die neue Strafanzeige von C.________ noch
Abklärungsbedarf besteht. Aufgrund der ihr vorliegenden Akten kann die
Anklagekammer jedenfalls nicht feststellen, dass die neue Strafanzeige auch
insoweit, als sie nicht E.________ betrifft, von vornherein haltlos wäre.
Folglich muss bei der Bestimmung des Gerichtsstands berücksichtigt werden,
dass die erste Strafanzeige wegen Betrugs im Kanton Nidwalden eingereicht
worden ist. Dann aber muss dieser Kanton für zuständig erklärt und das Gesuch
der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gutgeheissen werden.

Es ist anzumerken, dass das Konkursverfahren gegen die D.________ AG, in
dessen Zusammenhang das Betreibungs- und Konkursamt eine weitere Strafanzeige
eingereicht hat (Verfahren 1567 01 AB), im Kanton Nidwalden durchgeführt
wird. Auch dies spricht für den Gerichtsstand Nidwalden (vgl. BGE 118 IV 296
E. 3c S. 300).

Demnach erkennt die Kammer:

1.
Das Gesuch der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau wird gutgeheissen, und
die Behörden des Kantons Nidwalden werden berechtigt und verpflichtet
erklärt, die A.________ und B.________ in den Kantonen Aargau und Nidwalden
vorgeworfenen Straftaten zu verfolgen und zu beurteilen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem
Verhöramt des Kantons Nidwalden schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. März 2004

Im Namen der Anklagekammer
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: