Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Kassationshof in Strafsachen 6A.57/2004
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6A.57/2004 /pai

Urteil vom 18. November 2004
Kassationshof

Bundesrichter Schneider, Präsident,
Bundesrichter Wiprächtiger, Karlen,
Gerichtsschreiber Schönknecht.

X. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Marco Unternährer,

gegen

Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern, Abteilung
Koordination, Straf- und Massnahmenvollzug, Hirschengraben 36, 6002 Luzern,
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Abgaberechtliche Abteilung,
Obergrundstrasse 46, 6002 Luzern.

Probeweise Entlassung aus der Verwahrung
(Art. 43/45 StGB),

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern vom 16. August 2004.

Sachverhalt:

A.
X. ________ brachte am 2. April 1996 zusammen mit ihrem Sohn ihren Ehemann
um, weil sie der Meinung war, dieser habe sie vergiften wollen. Das
Obergericht des Kantons Luzern sprach X.________ am 29. März 2001 von Schuld
und Strafe frei, da sie zur Zeit der Tat unzurechnungsfähig gewesen sei.
Zugleich ordnete es gestützt auf Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB ihre Verwahrung
an.
Nach ihrer Tat befand sich X.________ zunächst in einer stationären
Behandlung. Am 21. April 1998 trat sie den vorzeitigen Strafvollzug an. Die
schliesslich ausgesprochene Verwahrung wird in der Strafanstalt Hindelbank
vollzogen. Zwei Gesuche um probeweise Entlassung aus der Verwahrung lehnten
die zuständigen kantonalen Behörden ab. Das Bundesgericht bestätigte diese
Entscheide am 14. August 2002 (6A.26/2002) und am 21. November 2003
(6A.57/2003).
Das Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern lehnte am 18. März
2004 im Rahmen der jährlichen Überprüfung die probeweise Entlassung von
X.________ erneut ab. Eine gegen diesen Entscheid gerichtete Beschwerde wies
das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern am 16. August 2004 ab.

B.
X.________ erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht und
beantragt, der Entscheid des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und sie sei
im Sinne einer probeweisen Entlassung in ein geeignetes Wohnheim zu verlegen.
Eventuell sei die Einholung eines neuen psychiatrischen Gutachtens
anzuordnen.
Das Verwaltungsgericht ersucht in seiner Vernehmlassung um Abweisung der
Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Beschwerdeführerin rügt zunächst eine Verletzung von verfassungsmässigen
Verfahrensrechten. So sei sie bei der Prüfung der bedingten Entlassung nicht
in genügender Weise angehört worden. Insbesondere sei ihrem Rechtsvertreter
in verfassungswidriger Weise die Teilnahme am Vollzugsplanungsgespräch vom
16. Februar 2004 verweigert worden.

1.1 Nach Art. 45 Ziff. 1 StGB prüft die zuständige Behörde mindestens einmal
jährlich, ob für eine auf Grund ihres Geisteszustands verwahrte Person die
bedingte Entlassung angeordnet werden kann (Abs. 2). Sie hat vor diesem
Entscheid den zu Entlassenden oder seinen Vertreter anzuhören und von der
Anstaltsleitung einen Bericht einzuholen (Abs. 3). Die Rechtsprechung
verlangt, dass der Verwahrte dabei persönlich angehört wird. Denn die Behörde
kann sich nur dadurch einen zuverlässigen Einblick in die Verhältnisse des
Inhaftierten verschaffen, dass sie diesen sieht und anhört (BGE 101 Ib 30 E.
2a S. 31 f.).
Das Verfahren, in dem eine bedingte Entlassung geprüft wird, fällt -
unabhängig davon, ob es von Amtes wegen oder auf Gesuch durchgeführt wird -
nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK. Es hat daher nicht alle
Verfahrensgarantien dieser Bestimmung zu erfüllen, wohl aber sind die
grundlegenden Garantien an ein gerichtliches Verfahren zu gewährleisten (BGE
114 Ia 182 E. 3b S. 187; Entscheid des EGMR i.S. Megyeri c. Bundesrepublik
Deutschland vom 12. Mai 1992, Serie A, Nr. 237-A, Ziff. 22c; Matthias
Brunner, Straf- und Massnahmenvollzug, in: Marcel Alexander Niggli/Philippe
Weissenberger [Hrsg.], Strafverteidigung, Basel/Genf/München 2002, N. 6.113;
Marianne Heer, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch I, Art. 45 N. 39). Soweit
eine verwahrte Person - insbesondere wegen ihres Geisteszustands - nicht in
der Lage ist, bei der Prüfung der Entlassung ihre Interessen selber
wahrzunehmen, muss ihr ein Rechtsbeistand beigegeben werden (zitierter
Entscheid des EGMR i.S. Megyeri, Ziff. 23).

1.2 Das Justiz- und Sicherheitsdepartement führte mit der Beschwerdeführerin
am 16. Februar 2004 ein Vollzugsplanungsgespräch durch. Dabei wurde ihre
persönliche Situation - der Gesundheitszustand, der Abbruch der
psychotherapeutischen Behandlung, ihre Führung in der Anstalt, die
Vollzugsplanung - besprochen. Aus der Zielsetzung des Gesprächs ging klar
hervor, dass es auch mit Blick auf den anstehenden Entscheid über eine
bedingte Entlassung geführt wurde. Es erfüllte damit die Funktion einer von
Art. 45 Ziff. 1 Abs. 3 StGB verlangten persönlichen Anhörung.
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wurde die Teilnahme am Gespräch
vom 16. Februar 2004 verweigert. Aus dem Protokoll geht hervor, dass die
Beschwerdeführerin jedoch ohne weiteres in der Lage war, sich zu den
diskutierten Punkten klar zu äussern und ihre Interessen zu vertreten.
Ausserdem erhielt ihr Anwalt anschliessend Gelegenheit, schriftlich zum
Protokoll des Gesprächs sowie zu weiteren Unterlagen im Zusammenhang mit der
jährlichen Überprüfung nach Art. 45 Ziff. 1 StGB Stellung zu nehmen.
Es ist nicht ersichtlich, inwiefern dieses Vorgehen eine wirksame Vertretung
der Interessen der Beschwerdeführerin durch sie selber bzw. ihren Anwalt
verhindert und den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt haben könnte. Wenn
bei der persönlichen Anhörung Unregelmässigkeiten vorgekommen wären, hätte
der Rechtsvertreter sie in seiner schriftlichen Stellungnahme vorbringen
können. In seiner Eingabe vom 1. März 2004 erwähnt er jedoch keine solchen
Vorkommnisse. Wenn er erstmals in der Beschwerde an das Bundesgericht solche
verfahrensrechtlichen Vorwürfe (ungenügende Protokollierung, Beschränkung der
Redezeit) erhebt, widerspricht dies dem Grundsatz von Treu und Glauben. Nach
der Rechtsprechung ist daher auf diese Rügen nicht einzutreten (BGE 123 I 87
E. 2b und c S. 89). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin lässt sich
aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art. 29 Abs. 2 BV und den
Garantien von Art. 5 Ziff. 4 EMRK kein genereller Anspruch auf Teilnahme des
Rechtsvertreters an der persönlichen Anhörung gemäss Art. 45 Ziff. 1 Abs. 3
StGB ableiten. Entscheidend ist nach der erwähnten Rechtsprechung allein,
dass es der Beschwerdeführerin unter den konkreten Umständen möglich war,
ihre Interessen wirksam zu vertreten. Dies war mit der gewährten Möglichkeit
ihres Rechtsvertreters, sich nachträglich schriftlich zur mündlichen Anhörung
zu äussern, gewährleistet.
Bei dieser Sachlage war das Verwaltungsgericht nicht verpflichtet, die
Beschwerdeführerin persönlich anzuhören. Unverständlich, ja geradezu
mutwillig, erscheint die in diesem Zusammenhang ebenfalls erhobene Rüge, das
Verwaltungsgericht hätte die Beschwerdeführerin in einer öffentlichen
Verhandlung anhören müssen. Es ist kaum vorstellbar, dass dies im Interesse
der Beschwerdeführerin gelegen haben könnte.
Die Beschwerde erweist sich daher in den erwähnten Punkten als unbegründet,
soweit überhaupt darauf einzutreten ist.

2.
Nach Auffassung der Beschwerdeführerin hätte vor dem Entscheid über die
probeweise Entlassung vom 18. März 2004 ein neues psychiatrisches Gutachten
eingeholt werden müssen. Im Übrigen habe das Verwaltungsgericht gestützt auf
die getroffenen Tatsachenfeststellungen eine Veränderung der Verhältnisse
seit dem letzten Gutachten zu Unrecht verneint. Der Verzicht auf die
Einholung eines neuen psychiatrischen Gutachtens und die Verweigerung der
bedingten Entlassung verletze daher Art. 45 StGB sowie die massgeblichen
Verfahrensgarantien der Bundesverfassung und der EMRK.

2.1 Nach Art. 43 Ziff. 4 StGB beschliesst die zuständige Behörde die
Aufhebung einer Massnahme, wenn ihr Grund weggefallen ist (Abs. 1). Ist der
Grund nicht vollständig weggefallen, so kann die probeweise Entlassung
angeordnet werden. In diesem Fall ist es möglich, den probeweise Entlassenen
unter Schutzaufsicht zu stellen (Abs. 2) und ihm Weisungen zu erteilen (Art.
45 Ziff. 2 StGB).
Beim Entscheid, ob eine probeweise Entlassung in Betracht kommt, ist der
geistige Zustand der fraglichen Person und das von ihr ausgehende Risiko
künftiger Straftaten zu prüfen (BGE 122 IV 8 E. 3a S. 16). Es muss untersucht
werden, ob die Gründe für die Massnahme fortbestehen oder ob sie ganz oder
teilweise weggefallen sind. Auch wenn es zutrifft, dass dabei keine
grundsätzliche andere Beweislast gilt als bei der Anordnung der Massnahme
(Brunner, a.a.O., N. 6.104), steht bei der periodischen Prüfung nach Art. 45
Ziff. 1 StGB notwendigerweise die Frage im Vordergrund, ob in der
Zwischenzeit Änderungen eingetreten sind, welche die Gefahr weiterer
Straftaten durch den Eingewiesenen erheblich geringer erscheinen lassen (vgl.
Heer, a.a.O., Art. 43 N. 240).
Besonders bei Verwahrten ist es oft schwierig, das Fortbestehen der
Gefährlichkeit zuverlässig zu beurteilen, weil das Leben in der Anstalt nur
eingeschränkte Möglichkeiten bietet, die Veränderungen der Gefährlichkeit
eines Täters objektiv belegen zu können. Um diesen Schwierigkeiten zu
begegnen, erfolgt der Vollzug der Massnahmen in der Regel nach einem
mehrstufigen Plan. Dabei werden entsprechend therapeutischen Fortschritten
Vollzugslockerungen gewährt. Die dabei gemachten Erfahrungen bilden eine
wesentliche Grundlage beim Entscheid, ob eine probeweise Entlassung in
Betracht kommt (Heer, a.a.O., Art. 43 N. 245 f.; Brunner, a.a.O., N. 6.105,
der aber auch vor einer Überschätzung der Erfahrungen bei den
Vollzugslockerungen warnt).

2.2 Bei der jährlichen Überprüfung einer probeweisen Entlassung gemäss Art.
45 Ziff. 1 StGB besteht grundsätzlich keine Pflicht zur Einholung eines
psychiatrischen Gutachtens. Das Gesetz verlangt lediglich, dass vor dem
Entscheid ein Bericht der Anstaltsleitung eingeholt werde. Allerdings kann
bei besonderen Umständen, insbesondere bei langdauernder Inhaftierung, der
Beizug eines Psychiaters, der sich bisher mit dem Fall nicht befasst hat,
geboten sein (BGE 128 IV 241 E. 3.2 E. 245; 121 IV 1 E. 2 S. 2). Im Übrigen
ist es nach der Rechtsprechung zulässig, beim Entscheid ältere Gutachten
heranzuziehen, wenn sich die Verhältnisse seit deren Erstellung nicht
erheblich verändert haben. Bei der Würdigung von Gefährlichkeitsprognosen ist
freilich zu beachten, dass diese nicht für längere Zeiträume zuverlässig
gestellt werden können (vgl. BGE 128 IV 241 E. 3.4 S. 247 f.; Brunner,
a.a.O., N. 6.155).

2.3 Wie im angefochtenen Entscheid im Einzelnen dargelegt wird, sind zum
Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin bereits zahlreiche Gutachten
erstellt worden. Ebenso wurde die Frage der bedingten Entlassung schon
mehrfach geprüft, vom Bundesgericht das letzte Mal im Entscheid vom 21.
November 2003. Die vorliegende Beschwerde greift zu einem grossen Teil
Gesichtspunkte auf, die bereits im letzten Urteil des Bundesgerichts
behandelt wurden. Darauf ist nicht zurückzukommen. Solche früheren
Gegebenheiten wären nur zu berücksichtigen, soweit sie zusammen mit seither
eingetretenen Entwicklungen eine Veränderung der Gefahr künftiger Straftaten
zu belegen vermöchten.
Das Verwaltungsgericht stellt im angefochtenen Entscheid den geistigen
Zustand der Beschwerdeführerin anhand des Führungsberichts der
Anstaltsleitung, der persönlichen Anhörung und weiteren Akten detailliert
dar. Es gelangt zum Schluss, dass sich die Verhältnisse nicht erheblich
verändert haben. Die dabei getroffenen tatsächlichen Feststellungen sind für
das Bundesgericht verbindlich, zumal die Beschwerdeführerin - trotz
vereinzelten Bestreitungen - nirgends aufzeigt, dass sie offensichtlich
unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen zustande gekommen wären (vgl. Art. 105 Abs. 2 OG).
Danach ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin, die sich im Vollzug
anstandslos verhält, trotz vielen Versuchen weiterhin keine Bereitschaft zu
einer Therapie zeigt. Sie vertritt die Auffassung, eine therapeutische
Behandlung sei nicht mehr nötig. Ausserdem lehnt sie die Einnahme der
Medikamente ab, welche die therapeutische Behandlung unterstützen sollten.
Die bereits im letzten Gutachten von Dr. A.________ vom 16. Juli 2002
genannten Probleme betreffend Therapierbarkeit haben sich damit bewahrheitet.
In der Eingabe an das Bundesgericht werden ebenfalls keine Umstände dargetan,
die auf eine erhebliche Veränderung des psychischen Zustands der
Beschwerdeführerin schliessen liessen. Unter diesen Umständen ist der
Verzicht auf die Einholung eines neuen psychiatrischen Gutachtens im Lichte
der angeführten Rechtsprechung nicht zu beanstanden. Es ist auch nicht
ersichtlich, inwiefern darin eine Verletzung des Beschleunigungsgebots liegen
könnte. Das letzte Gutachten von Dr. A.________ war im Zeitpunkt des
Entscheids über die probeweise Entlassung vom 18. März 2004 noch nicht einmal
zwei Jahre alt.
Unter diesen Umständen kann nicht davon gesprochen werden, dass die Gründe
für die Verwahrung nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB teilweise weggefallen
wären. Die Verweigerung der probeweisen Entlassung durch das
Verwaltungsgericht verstösst daher nicht gegen die angeführten Bestimmungen
und Grundsätze des Bundesrechts.

3.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist demnach abzuweisen, soweit darauf
einzutreten ist.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die bundesgerichtlichen Kosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen, wobei ihren finanziellen Verhältnissen
Rechnung zu tragen ist (vgl. Art. 156 Abs. 1 OG und Art. 153a Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, dem Justiz- und
Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern, Abteilung Koordination, Straf- und
Massnahmevollzug, und dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 18. November 2004

Im Namen des Kassationshofes
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: