Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.182/2004
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5P.182/2004 /bnm

Urteil vom 1. Juli 2004
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Nordmann, Bundesrichterin Escher,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichter Marazzi,
Gerichtsschreiber Gysel.

X. ________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Fürsprecher lic. iur. Martin Schwaller,

gegen

Obergericht des Kantons Aargau (Kammer für Vormundschaftswesen als
zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde), Obere Vorstadt 38,
5000 Aarau.

Art. 9 und 29 Abs. 3 BV (unentgeltliche Rechtsverbeiständung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau (Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche
vormundschaftliche Aufsichtsbehörde) vom 16. März 2004.

Sachverhalt:

A.
Mit Eingabe vom 24. März 2003 liess X.________, Mutter der Tochter
Y.________, bei der Vormundschaftsbehörde A.________ das Begehren stellen, es
sei die ihr am 3. Dezember 2001 entzogene elterliche Obhut über das bei
Z.________, ihrer Schwester, platzierte Kind wieder auf sie zu übertragen.
Gleichzeitig stellte sie das Gesuch, ihr im eingeleiteten Verfahren die
unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und ihren Anwalt zum unentgeltlichen
Rechtsvertreter zu bestellen.

Die Vormundschaftsbehörde A.________ beschloss am 16. Juni 2003,  auf das
Armenrechtsgesuch nicht einzutreten mit der Begründung, im Verfahren vor den
Vormundschaftsbehörden sei das Institut der unentgeltlichen Rechtspflege
nicht vorgesehen.

Am 6. Januar 2004 wies das Bezirksamt Baden die von X.________ gegen den
vormundschaftsbehördlichen Beschluss vom 16. Juni 2003 eingereichte
Beschwerde ab.

B.
X. ________ erhob Beschwerde an das Obergericht des Kantons Aargau (Kammer
für
Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche
Aufsichtsbehörde). Mit Entscheid vom 16. März 2004 änderte das Obergericht
den Beschluss der Vormundschaftsbehörde vom 16. Juni 2003 von Amtes wegen
dahin ab, dass das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und
Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes abgewiesen werde. Im
Übrigen wies es die Beschwerde wie auch das für das obergerichtliche
Verfahren gestellte Armenrechtsgesuch ab. Es erklärte, das kantonale
Verwaltungsrechtspflegegesetz sehe die unentgeltliche Rechtspflege mit
Kostenerlassfolge und unentgeltlicher Rechtsvertretung nur für das
kostenpflichtige Beschwerdeverfahren vor den vormundschaftlichen
Aufsichtsbehörden vor, nicht auch für das Verfahren vor der
Vormundschaftsbehörde, das unentgeltlich sei und in dem keine
Parteientschädigung zugesprochen werde. In einem Fall der vorliegenden Art
bestehe im Übrigen keine Notwendigkeit für eine anwaltliche Vertretung.

C.
X.  ________ führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9
und
Art. 29 Abs. 3 BV, eventuell von Art. 6 EMRK, und verlangt, den Entscheid des
Obergerichts aufzuheben; allenfalls sei ihr für das gesamte kantonale
Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen. Ferner ersucht sie
auch für das bundesgerichtliche Verfahren darum, ihr die unentgeltliche
Rechtspflege zu gewähren.

Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung ausdrücklich verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist, von hier nicht in Betracht fallenden
Ausnahmen abgesehen, rein kassatorischer Natur (BGE 129 I 129 E. 1.2.1 S. 131
f. mit Hinweisen). Soweit die Beschwerdeführerin (eventualiter) mehr verlangt
als die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, ist auf die Beschwerde daher
nicht einzutreten. Im Übrigen wäre die erkennende Abteilung ohnehin nicht in
der Lage, der Beschwerdeführerin das Armenrecht für das kantonale Verfahren
zuzusprechen, da sich das Obergericht weder zum Erfordernis der Bedürftigkeit
noch zu den Erfolgsaussichten des Begehrens der Beschwerdeführerin in der
Sache geäussert hat.

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht sowohl eine willkürliche
Anwendung von § 35 Abs. 3 des Aargauer Verwaltungsrechtspflegegesetzes
(wonach in Fällen, wo die Schwere einer Massnahme oder die Rechtslage es als
gerechtfertigt erscheinen lässt, ein unentgeltlicher Rechtsvertreter bestellt
werden kann) als auch einen Verstoss gegen Art. 29 Abs. 3 BV vor. Sie geht
nicht davon aus, dass die unentgeltliche Rechtspflege nach dem kantonalen
Recht unter leichteren Bedingungen gewährt werden könne, als es auf Grund der
Verfassungsbestimmung der Fall ist. Die Beschwerde ist daher ausschliesslich
unter dem Gesichtswinkel von Art. 29 Abs. 3 BV zu beurteilen, zumal in diesem
Fall das Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht frei prüfen kann, ob der
Anspruch auf Gewährung des Armenrechts missachtet worden sei. Auf Willkür
beschränkt ist die Prüfungsbefugnis indessen, soweit tatsächliche
Feststellungen der kantonalen Instanz beanstandet werden (BGE 129 I 129 E.

2.1  S. 133 mit Hinweisen).

2.2  Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die
erforderlichen Mittel verfügt und deren Rechtsbegehren nicht aussichtslos
erscheint, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege. Falls es zur Wahrung
ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen
Rechtsbeistand.

Angesichts der obergerichtlichen Feststellung, das Verfahren vor der
Vormundschaftsbehörde sei kostenfrei, ist das hiefür gestellte
Armenrechtsgesuch der Beschwerdeführerin ausschliesslich bezüglich der
unentgeltlichen Rechtsverbeiständung von Bedeutung. Ob eine solche sachlich
notwendig ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles.
Die Rechtsnatur des Verfahrens ist ohne Belang. Grundsätzlich fällt die
unentgeltliche Verbeiständung für jedes staatliche Verfahren in Betracht, in
das der Gesuchsteller einbezogen wird oder das zur Wahrung seiner Rechte
notwendig ist (BGE 128 I 225 E. 2.3 S. 227 mit Hinweisen). Die bedürftige
Partei hat Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wenn ihre Interessen
in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines
Rechtsvertreters erforderlich machen. Droht das in Frage stehende Verfahren
besonders stark in die Rechtsposition der betroffenen Person einzugreifen,
ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters grundsätzlich
geboten, sonst nur dann, wenn zur relativen Schwere des Falles besondere
tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der
Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen wäre (BGE 128 I 225
E. 2.5.2 S. 232; 125 V 32 E. 4b S. 35 f., mit Hinweisen).

3.
3.1 Die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung hat das Obergericht mit
der Begründung verneint, das Verfahren vor der Vormundschaftsbehörde und den
vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden sei vergleichbar mit dem Verfahren vor
den Betreibungs- und Konkursämtern und den betreibungsrechtlichen
Aufsichtsbehörden. In beiden Fällen handle es sich um ein seiner Natur nach
einfaches, von der Offizialmaxime beherrschtes Einparteienverfahren mit
allenfalls weiteren Verfahrensbeteiligten. Für das Verfahren vor den
Betreibungs- und Konkursämtern habe die unentgeltliche Rechtsvertretung stets
ausser Frage gestanden und für das Beschwerdeverfahren sei festgestellt
worden, dass ein strenger Massstab anzulegen und die Mitwirkung eines
Rechtsanwalts in aller Regel nicht erforderlich sei. Das müsse für das
Verfahren vor der Vormundschaftsbehörde um so mehr gelten, als diese, anders
als eine obere Aufsichtsbehörde, nicht endgültig entscheide und zudem, wie
auch die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden, im Rahmen der Offizialmaxime
dafür zu sorgen habe, dass keinem Verfahrensbeteiligten wegen Unbeholfenheit
Nachteile erwüchsen. Hinzu komme, dass der Entscheid einer
Vormundschaftsbehörde durch die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden in
deren Doppelfunktion als Aufsichts- und Beschwerdeinstanzen in einem
Beschwerdeverfahren selbst bei Verwirkung der Beschwerdefrist und auch
ausserhalb eines solchen Verfahrens von Amtes wegen aufgehoben werden könne,
wenn er als Verstoss gegen eine klare Gesetzesvorschrift oder einen
Rechtsgrundsatz im wohlverstandenen Interesse des Massnahmebedürftigen nicht
hingenommen werden könnte.

3.2  Die vom Obergericht erwähnte Untersuchungsmaxime und die von ihm
angeführte Möglichkeit einer aufsichtsrechtlichen, von Amtes wegen
anzuordnenden Aufhebung eines vormundschaftsbehördlichen Entscheids durch die
Aufsichtsbehörden lassen eine anwaltliche Vertretung der am Verfahren
Beteiligten nicht ohne weiteres als unnötig erscheinen (vgl. BGE 125 V 32 E.
4b S. 36): Das sachgerechte Anlegen eines jeden Verfahrens und dessen
richtige Leitung erfordern von der Behörde eine umfassende Kenntnis der
einschlägigen Rechtsfragen, geht es doch darum, die rechtserheblichen
tatsächlichen Umstände einfliessen zu lassen. Die Erfahrung zeigt, dass ein
schlecht begonnenes Verfahren später nur sehr schwer in die richtige Bahn zu
bringen ist. Abgesehen davon, dass die Untersuchungsmaxime allfällige
Fehlleistungen der Behörde nicht zu verhindern vermag, ist zu bedenken, dass
sie nicht unbegrenzt ist. Sie verpflichtet die Behörde zwar, von sich aus
alle Elemente in Betracht zu ziehen, die entscheidwesentlich sind, und
unabhängig von den Anträgen der Parteien Beweise zu erheben. Diese Pflicht
entbindet die Beteiligten indessen nicht davon, durch Hinweise zum
Sachverhalt oder Bezeichnung von Beweisen am Verfahren mitzuwirken (dazu BGE
128 III 411 E. 3.2.1 und 3.2.2 S. 412 ff.). An der in BGE 111 Ia 5 (E. 4 S. 9
f.) unter Hinweis auf die umfassende Beschwerdemöglichkeit geäusserten
Auffassung, für das Verfahren zur Entziehung der elterlichen Gewalt vor der
erstinstanzlichen vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde bestehe generell kein
Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, kann nicht festgehalten werden.

3.3  Der angefochtene Entscheid lässt sich sodann auch durch die
Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Verfahren vor den Betreibungsbehörden
und den betreibungsrechtlichen Aufsichtsbehörden nicht stützen: Wohl wurde in
BGE 122 I 8 (E. 2c S. 10) - unter Hinweis auf den Untersuchungsgrundsatz -
festgehalten, die Mitwirkung eines Rechtsanwalts sei in aller Regel nicht
erforderlich. Doch ist zu bedenken, dass sich diese Äusserung ausdrücklich
auf die Ermittlung des pfändbaren Einkommens des Schuldners bezog, bei der
die Betreibungsbehörden die massgebenden tatsächlichen Verhältnisse von Amtes
wegen abzuklären haben und sich in der Tat nur selten anspruchsvolle Rechts-
oder Tatfragen stellen. Der Auffassung des Obergerichts, das Gleiche treffe
auch hier zu und es liege somit kein Fall vor, der eine unentgeltliche
Rechtsverbeiständung rechtfertige, ist nicht beizupflichten:
3.3.1Das Bezirksamt Baden, auf dessen Entscheid vom 6. Januar 2004 sich das
Obergericht beruft, hatte festgehalten, die Beschwerdeführerin habe in dem an
die Vormundschaftsbehörde zu richtenden Rechtsbegehren auf Obhutszuweisung an
sie die wesentlichen Änderungen ihrer persönlichen Verhältnisse vorzubringen
und darzutun, dass keine Gefährdung des Kindeswohls bestehe. Die
Vormundschaftsbehörde werde dann die als Voraussetzung für die Aufhebung des
Gemeinderatsbeschlusses vom 3. Dezember 2001 behaupteten Verhältnisse von
Amtes wegen zu prüfen und abzuklären haben. Es bestünden keine Anhaltspunkte
dafür, dass die Beschwerdeführerin den durch ein solches Rechtsbegehren an
sie gestellten Anforderungen intellektuell nicht gewachsen oder im
eingeleiteten Verfahren aus irgend einem andern Grund überfordert sein
könnte. Sodann ist dem Beschluss des Gemeinderats A.________ als
Vormundschaftsbehörde vom 16. Juni 2003 zu entnehmen, dass der
Beschwerdeführerin die elterliche Obhut wegen langjähriger instabiler Lebens-
und Wohnsituation und wegen Drogenabhängigkeit entzogen worden war.

3.3.2  Die Frage, ob die Obhut über das Mädchen wieder der Beschwerdeführerin
zugewiesen werden könne, ist sehr heikel und vielschichtig. Ihre Beantwortung
ist für die Beschwerdeführerin selbst - wie auch für das Kind und die
Pflegemutter - von erheblicher Bedeutung. Der unter Berücksichtigung des
Wohls des Kindes zu fällende Entscheid wird sehr stark in die persönliche
Situation der Beschwerdeführerin als leiblicher Mutter eingreifen. Es ist für
sie von grosser Wichtigkeit, dass im Verfahren die nach der Rechtsprechung
entscheidwesentlichen Tatsachen vorgebracht und ins richtige Licht gerückt
werden. Die bezirksamtliche Feststellung, die Beschwerdeführerin sei den
Anforderungen, die das vor der Vormundschaftsbehörde hängige Verfahren an sie
stelle, gewachsen, wird den gegebenen Umständen nicht gerecht. In Anbetracht
der komplexen, von einem juristischen Laien nur sehr schwer überblickbaren
Verhältnisse verbietet sich die Annahme, eine anwaltliche Vertretung sei für
die Beschwerdeführerin nicht notwendig.

4.
Der mit der fehlenden Notwendigkeit begründete Entscheid des Obergerichts,
der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtsverbeiständung für das von
ihr eingeleitete vormundschaftliche Verfahren zu verweigern, verstösst nach
dem Ausgeführten gegen Art. 29 Abs. 3 BV. Soweit auf die Beschwerde
einzutreten ist, ist sie daher gutzuheissen. Bei diesem Ausgang ist keine
Gerichtsgebühr zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG), der Kanton Aargau jedoch zu
verpflichten, der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu zahlen (Art.
159 Abs. 2 OG). Da die Beschwerdeführerin diese ohne Zweifel ausbezahlt
erhalten wird, ist ihr Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
für das bundesgerichtliche Verfahren gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Soweit auf die staatsrechtliche Beschwerde einzutreten ist, wird sie
gutgeheissen, und der Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau (Kammer
für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche
Aufsichtsbehörde) vom 16. März 2004 wird aufgehoben.

2.
Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben.

3.
Der Kanton Aargau wird verpflichtet, die Beschwerdeführerin für ihre Umtriebe
im bundesgerichtlichen Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Obergericht des Kantons
Aargau (Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche
vormundschaftliche Aufsichtsbehörde) schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. Juli 2004

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: