Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.150/2004
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5P.150/2004 /bmt

Urteil vom 18. Mai 2004
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterinnen Nordmann, Escher,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Hohl,
Gerichtsschreiber Möckli.

A.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Lisa Zaugg,

gegen

B.________, Australia,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dominik Frey,
Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, Postfach, 8023 Zürich.

Vollstreckung (Kinderrückführung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons
Zürich, II. Zivilkammer, vom 17. März 2004.

Sachverhalt:

A.
Die Parteien heirateten im Januar 1994 und lebten in der Folge in Australien.
Der Ehe entstammen die Kinder X.________, geb. 1996, und Y.________, geb.
1998. Seit April 2000 sind die Parteien getrennt.

Im Juni 2001 entführte A.________ die Kinder während eines in Australien
hängigen Eheschutzverfahrens in die Schweiz, wo sie sich zunächst bei
Verwandten in P.________/VS niederliess. Nachdem ihr Mann im November 2001
beim Bezirksgericht Goms ein Rückführungsgesuch gestellt hatte, zog sie mit
den Kindern nach L.________/AG. Im Rahmen eines zweiten Rückführungsgesuchs
verpflichtete das Obergericht des Kantons Aargau A.________ mit
rechtskräftigem Urteil vom 21. Oktober 2002, die beiden Kinder innerhalb von
10 Tagen und in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Justiz nach Australien
zurückzuführen. Sie entzog sich jedoch der per Ende April 2003 organisierten
Rückführung, indem sie mit den Kindern unmittelbar vor dem Rückflug während
drei Monaten auf einer Alp untertauchte und ihren Aufenthaltsort
anschliessend nach Zürich verlegte.

B.
Am 22. Januar 2004 wies der Einzelrichter im summarischen Verfahren des
Bezirkes Zürich das von B.________ gestellte Gesuch um Vollstreckung des
aargauischen Rückführungsentscheides ab. Demgegenüber hiess das Obergericht
des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, das Gesuch mit Beschluss vom 17. März
2004 gut und wies das Gemeindeammannamt Zürich 1 an, das Rückführungsurteil
des Obergerichts des Kantons Aargau vom 21. Oktober 2002 unverzüglich zu
vollstrecken.

C.
Gegen diesen Beschluss hat A.________ am 12. April 2004 staatsrechtliche
Beschwerde erhoben mit dem Begehren um dessen Aufhebung, eventualiter um
Rückweisung der Sache an die Vorinstanz. Ausserdem hat sie die aufschiebende
Wirkung und die unentgeltliche Rechtspflege verlangt.

Mit Präsidialverfügung vom 29. April 2004 ist die aufschiebende Wirkung
erteilt worden, jedoch verbunden mit der Anordnung, dass die kantonal
verfügten Massnahmen (Platzierung der Kinder im Kinderheim O.________ bis zum
rechtskräftigen Entscheid) in Kraft bleiben. In der Sache selbst sind keine
Vernehmlassungen eingeholt worden.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid 5P.160/2001 vom 13. September 2001
in E. 4b/aa festgehalten, dass die Vollstreckung eines
Rückführungsentscheides, der gestützt auf das Haager Übereinkommen über die
zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen (HEntfÜ, SR
0.211.230.02) gefällt worden ist, nicht von diesem Übereinkommen geregelt
wird. Obwohl dieser Rechtsprechung Kritik erwachsen ist (namentlich Bucher,
in: AJP 2002, S. 471 ff., sowie in: SZIER 2002, S. 99 ff.; ders., L'enfant en
droit international privé, Genève 2003, N. 502; ferner Schmid, Neuere
Entwicklungen im Bereich der internationalen Kindesentführungen, in: AJP
2002, S. 1338, Fn. 131), ist daran mangels einer ausdrücklichen
Vollstreckungsregelung im Übereinkommen festzuhalten (vgl. Reeb, L'enlèvement
international d'enfants par un parent en Suisse, in: RJN 2002, S. 31;
Hauser/Urwyler, Kindesentführungen, in: Rechtshilfe und Vollstreckung, SWR
Band 5, Bern 2004, S. 77; Boéchat/Rusca-Clerc, Enlèvement d'enfants, in:
Rechtshilfe und Vollstreckung, SWR Band 5, Bern 2004, S. 105). Dies
entspricht auch der herrschenden Lehre in Deutschland, wo sich die
Vollstreckung des Rückführungsentscheides nach dem Gesetz über die
freiwillige Gerichtsbarkeit richtet (vgl. Siehr, in: Münchener Kommentar, 3.
Aufl., 1998, N. 50 Anh. II zu Art. 19 EG BGB; Bach/Gildenast, Internationale
Kindesentführung, Bielefeld 1999, N. 176; Vomberg/Nehls, Rechtsfragen der
internationalen Kindesentführung, München 2000, S. 52). Indes sind das
Beschleunigungsgebot gemäss Art. 11 HEntfÜ und das in Art. 12 Abs. 1
statuierte Gebot der sofortigen Rückgabe insofern auch im
Vollstreckungsverfahren zu beachten, als die Zielsetzung des Übereinkommens
nicht im Stadium der Vollstreckung unterlaufen werden darf. Nichts hindert im
Übrigen die Kantone, in deren Kompetenz die Regelung der Vollstreckung fällt,
bzw. die rechtsanwendenden kantonalen Instanzen, den materiellen
Rückführungsentscheid mit einer eigentlichen Vollstreckungsklausel zu
versehen (in diesem Sinn auch Reeb, a.a.O., S. 32; Schmid, a.a.O., S. 1338);
das Rückführungsurteil bildet dann gleichzeitig den Vollstreckungstitel. Die
Verbindung der materiellen Rückgabeanordnung mit einer entsprechenden
Vollstreckungsanordnung wird namentlich in Deutschland praktiziert
(Vomberg/Nehls, a.a.O., S. 112; vgl. ferner Krüger, Das Haager Übereinkommen
über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, in: MDR
1998, S. 697) und ist den kantonalen Behörden insbesondere für diejenigen
Fälle anzuempfehlen, in denen keine Mitwirkung der rückgabepflichtigen Partei
zu erwarten ist bzw. eine Organisation der Rückführung durch das Bundesamt
für Justiz als zentrale Behörde gemäss Art. 6 Abs. 1 HEntfÜ nicht möglich
scheint.

Vorliegend sind die aargauischen Behörden zwar so vorgegangen, hat doch das
Obergericht des Kantons Aargau die Beschwerdeführerin in seinem Urteil vom
21. Oktober 2002 unter Androhung des polizeilichen Vollzuges und der
Ungehorsamsstrafe gemäss Art. 292 StGB im Unterlassungsfall verpflichtet, die
beiden Kinder innert 10 Tagen nach Australien zurückzuführen. Indes hat sich
die Beschwerdeführerin dem Vollzug des Rückführungsurteils mit ihrem
Untertauchen entzogen, und wegen des anschliessenden Kantonswechsels musste
der Beschwerdegegner im Kanton Zürich ein neues Vollstreckungsverfahren
einleiten. Weil es sich demnach beim angefochtenen Beschluss des Obergerichts
des Kantons Zürich, der die Vollstreckung des aargauischen
Rückführungsentscheides anordnet, um ein reines Vollstreckungsurteil handelt,
ist auf die staatsrechtliche Beschwerde insoweit nicht einzutreten, als nicht
Vollstreckungshindernisse geltend gemacht werden (dazu E. 2), sondern
materiell eine falsche Anwendung des Übereinkommens gerügt wird.

2.
Zulässig im Rahmen der Staatsvertragsbeschwerde (Art. 84 Abs. 1 lit. c OG)
ist der Hinweis auf Art. 3 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes
(UNO-Kindesrechtskonvention, KRK, SR 0.107), ist doch diese Konvention
grundsätzlich auch im Vollstreckungsverfahren zu beachten. Allerdings
missbilligt gerade die KRK in Art. 11 die Kindesentführung und fordert die
Vertragsstaaten auf, den entsprechenden Übereinkommen beizutreten. Die KRK
und das HEntfÜ verfolgen somit in Bezug auf die Rückführung widerrechtlich
ins Ausland verbrachter Kinder die gleichen Ziele und insofern kann die
Beschwerdeführerin aus der Konvention nichts für ihren Standpunkt ableiten.
Insbesondere kann das in Art. 3 KRK erwähnte Kindeswohl im
Vollstreckungsstadium nicht in dem Sinn oberste Leitmaxime sein, als der
materielle Rückführungsentscheid als solcher in Frage gestellt oder gar die
ganze Streitsache neu aufgerollt werden darf. Geprüft werden kann einzig, ob
nach dem Rückführungsentscheid neue Tatsachen eingetreten sind, die dessen
Vollstreckung im Lichte des HEntfÜ als unzumutbar erscheinen lassen. Weil im
Vollstreckungsverfahren der Rückführungsentscheid nicht in Frage gestellt
werden darf, können sodann - abgesehen von den Sonderfällen, dass das Kind in
der Zwischenzeit das 16. Altersjahr vollendet hat (vgl. Art. 4 HEntfÜ) oder
im Ursprungsstaat eine vom früheren Rechtszustand abweichende
Sorgerechtsentscheidung ergangen ist, welche die Rückgabe hinfällig werden
lässt - einzig solche Umstände in Betracht fallen, die vorübergehender Natur
sind; zu denken ist etwa an die Transportunfähigkeit des Kindes wegen
schwerer Erkrankung oder an die Rückführung in ein Katastrophengebiet.
Dagegen ist es unzulässig, im Vollstreckungsverfahren eine dauerhafte
Veränderung der Verhältnisse geltend zu machen, wie dies insbesondere bei
einer erneuten Diskussion des in Art. 12 Abs. 2 HEntfÜ erwähnten Einlebens in
der neuen Umgebung der Fall wäre. Insofern kann am Bundesgerichtsentscheid
5P.160/2001 vom 13. September 2001, mit dem im Rahmen des
Vollstreckungsverfahrens letztlich die Abänderung bzw. Aufhebung des
Rückführungsentscheides sanktioniert worden ist, nicht festgehalten werden.

Bei der Vollstreckung von Rückführungsentscheiden dürfen (und müssen)
schliesslich bis zu einem gewissen Grad auch generalpräventive Gedanken eine
Rolle spielen, hängt doch die Autorität des Übereinkommens im Wesentlichen
von der Frage ab, ob die gestützt darauf ergehenden Urteile überhaupt
vollzogen werden können (vgl. Botschaft zur Ratifikation des HEntfÜ, BBl 1983
I S. 105; Bucher, AJP, S. 476; Kuhn, Ihr Kinderlein bleibet, so bleibet doch
all, in: AJP 1997, S. 1105). In diesem Zusammenhang darf nicht ausser Acht
gelassen werden, dass es sich beim HEntfÜ um ein gegenseitiges Abkommen
handelt, das die Schweiz als Signatarstaat nicht nur in die Pflicht nimmt,
sondern in einer ungefähr gleichen Anzahl von Fällen auch die Rückschaffung
widerrechtlich entführter Kinder in die Schweiz ermöglicht. Nicht hinnehmbar
ist unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten, dass der rückgabepflichtige
Elternteil untertaucht oder sich durch steten Wohnsitzwechsel Selbstjustiz
verschafft und die Rückführung des Kindes hintertreibt. Sodann darf nicht
übersehen werden, dass ein allfälliger Schaden, der dem Kind aus dem
Verbringen über die Landesgrenzen erwächst, auf der einseitigen
Handlungsweise der entführenden Person beruht und diese allein für alle
Unzuträglichkeiten verantwortlich ist, die aus der Korrektur ihres
Fehlverhaltens entstehen (vgl. Kuhn, a.a.O., S. 1099). Deshalb kann sich auch
nicht auf einen bestimmten Zustand oder eine Gefahr berufen, wer diesen bzw.
diese selbst geschaffen hat (vgl. Siehr, a.a.O., N. 61a).

3.
Unbeachtlich sind damit die Vorbringen, der Vater habe sich zu wenig um die
Kinder gekümmert, der Beschwerdeführerin drohe bei einer Rückkehr nach
Australien ein Strafverfahren und die Kinder hätten in Australien Sprach- und
Integrationsschwierigkeiten. Diese Aspekte sind im Sachurteil berücksichtigt
worden und haben sich seither nicht verändert. Mit Bezug auf die behauptete
Unzumutbarkeit würde sich aber selbst dann nichts anderes ergeben, wenn
vorliegend materiell über die Rückführung und nicht über die Vollstreckung
der entsprechenden Anordnung zu befinden wäre: Es versteht sich von selbst,
dass bei einer Rückführung in das Ursprungsland anfängliche Sprach- und
Integrationsschwierigkeiten auftreten; dies ist eine fast zwangsläufige
Erscheinung, die vom HEntfÜ bewusst in Kauf genommen wird
(Bundesgerichtsentscheide 5P.310/2002 vom 18. November 2002, E. 3.4 i.f., und
5P.71/2003 vom 27. März 2003, E. 2.4.3; in diesem Sinn auch der Beschluss des
deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 1996, E. II.3, publ. in:
IPrax 1997, S. 124). Ebenso wenig würde für sich genommen ein allfälliges
Strafverfahren gegen den Entführer im Ursprungsstaat (Beschluss des deutschen
Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1997, E. 3d, publ. in: NJW 1997, S.
3302; Kuhn, a.a.O., S. 1099; Vomberg/Nehls, a.a.O., S. 43) oder die mögliche
Trennung eines Kindes von der Mutter einen Ausschlussgrund gemäss Art. 13
Abs. 1 lit. b HEntfÜ darstellen (Staudinger/ Pirrung, Kommentar zum
Bürgerlichen Gesetzbuch, 13. Aufl., Berlin 1994, N. 683 und 684 Vorbem. zu
Art. 19 EG BGB; Kuhn, a.a.O., S. 1099; Schmid, a.a.O., S. 1333;
Bach/Gildenast, a.a.O., N. 131).

Von vornherein keine Rolle spielt im Vollstreckungsverfahren das behauptete
Einleben in der Schweiz (vgl. E. 2). Abgesehen davon steht die Behauptung im
Widerspruch zu den Akten. Aus diesen ergibt sich vielmehr das Bild einer
labilen, von steten Ortswechseln geprägten Situation der Kinder, die weder
schulisch richtig integriert sind noch in einem stabilen Umfeld aufwachsen
und deren einzige Bezugsperson die Mutter ist.

Kein Raum besteht auf Grund der gemachten Ausführungen schliesslich für die
Anordnung des geforderten kinderpsychologischen Gutachtens, umso weniger als
bereits im materiellen Rückführungsverfahren das Beschleunigungsgebot (Art.
11 HEntfÜ) sowie die Tatsache, dass im Rückführungsprozess nicht über die
Zuteilung des Sorgerechts, sondern einzig über das widerrechtliche Verbringen
des Kindes und allfällige Einwände gegen dessen Rückführung zu befinden ist,
für den Regelfall eine Begutachtung des Kindes ausschliessen (Vomberg/Nehls,
a.a.O., S. 70; Kuhn, a.a.O., S. 1105; Schmid, a.a.O., S. 1333 und 1337, Fn.
124).

4.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die gegen den Vollstreckungsbeschluss des
Obergerichts des Kantons Zürich gerichtete staatsrechtliche Beschwerde
abzuweisen ist, soweit darauf eingetreten werden kann.

Der offensichtlich unbemittelten Beschwerdeführerin ist die unentgeltliche
Rechtspflege zu erteilen (Art. 156 Abs. 1 OG), und es ist ihr Lisa Zaugg als
amtliche Anwältin beizuordnen (Art. 156 Abs. 2 OG). Die der
Beschwerdeführerin aufzuerlegende Gerichtsgebühr (Art. 156 Abs. 1 OG) ist
demnach einstweilig auf die Gerichtskasse zu nehmen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt, unter
Beiordnung von Lisa Zaugg als Rechtsanwältin.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt,
jedoch einstweilig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwältin Lisa Zaugg wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 3'000.--
entschädigt.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 18. Mai 2004

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: