Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Zivilabteilung 5P.130/2004
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5P.130/2004 /rov

Urteil vom 23. April 2004
II. Zivilabteilung

Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiber von Roten.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecherin Monika Büttikofer Burri,

gegen

Kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen des
Kantons Bern, Hochschulstrasse 17, Postfach 7475, 3001 Bern.

Art. 9 und Art. 29 BV (Verfahren der fürsorgerischen Freiheitsentziehung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung der Kantonalen
Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen des Kantons Bern
vom 17. März 2004.

Sachverhalt:

A.
Gemäss psychiatrischen Gutachten vom 28. April 2003 und vom 23. Februar 2004
ist X.________, Jahrgang 1974, seit längerer Zeit psychisch krank. Die
Diagnose lautet auf "anhaltend wahnhafte Störung" bzw. "chronische paranoide
Schizophrenie". Am 10. März 2004 wurde X.________ durch den Stellvertreter
des Regierungsstatthalters von Thun auf unbestimmte Zeit in das
Psychiatriezentrum Münsingen eingewiesen.

B.
X.________ focht die Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung und
die Klinikeinweisung persönlich und durch eine von ihm beauftragte
Rechtsvertreterin an. Die Rekurskommission für fürsorgerische
Freiheitsentziehungen des Kantons Bern wies sowohl das Gesuch um Beiordnung
einer amtlichen Anwältin als auch den Rekurs ab (Verfügung vom 17. März
2004).

C.
Gegen die Verfügung der Rekurskommission hat X.________ eidgenössische
Berufung eingelegt und staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Wegen formeller
und materieller Rechtsverweigerung beantragt er dem Bundesgericht mit
staatsrechtlicher Beschwerde, die angefochtene Verfügung aufzuheben. In
verfahrensrechtlicher Hinsicht verlangt er, ihn im Sinne vorsorglicher
Massnahmen unverzüglich aus der geschlossenen Abteilung des
Psychiatriezentrums Münsingen zu entlassen und ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Die Rekurskommission
hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Das Gesuch um vorsorgliche Massnahmen
(sofortige Entlassung) wurde abgewiesen (Präsidialverfügung vom 31. März
2004).

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gegenstand des Verfahrens vor Bundesgericht ist die Anordnung der
fürsorgerischen Freiheitsentziehung gegenüber dem Beschwerdeführer und dessen
Einweisung in eine (geschlossene) Anstalt. Angefochten ist die kantonal
letztinstanzliche Verfügung, mit der die Rekurskommission eine Entlassung des
Beschwerdeführers aus der fürsorgerischen Freiheitsentziehung abgelehnt hat
(Art. 86 OG).
Nach Angaben des Beschwerdeführers ist gleichzeitig ein weiteres Verfahren
hängig. Am 6. Februar 2004 soll die Einwohnergemeinde W.________ angeordnet
haben, dass der Beschwerdeführer sein bisheriges Domizil bei seinen Eltern
sofort zu verlassen habe. In diesem Zusammenhang stehen die Versuche, den
Beschwerdeführer vorübergehend im Passantenheim der Heilsarmee Thun bzw. im
Gasthof Bären in Steffisburg unterzubringen. Die Verfügung der
Einwohnergemeinde will der Beschwerdeführer vor dem Regierungsstatthalter
angefochten haben, wobei das Beschwerdeverfahren noch hängig sein soll (S. 6
ff. der Beschwerdeschrift). Dieses Verfahren auf Wegweisung aus dem
elterlichen Domizil bildet nicht Gegenstand der heute angefochtenen
Verfügung. Die auf das Wegweisungsverfahren bezogenen Rügen - mehrfache
Verweigerung des rechtlichen Gehörs in allen Teilgehalten (Anhörung,
Akteneinsicht und Beweisabnahme), treuwidrige Behandlung durch Behörden,
Beschränkung der Verteidigungsrechte u.a.m. - sind im vorliegenden Verfahren
unzulässig und zunächst den kantonalen Beschwerdeinstanzen zu unterbreiten
(vgl. E. 3 hiernach).

Mit dem erwähnten Vorbehalt kann auf die staatsrechtliche Beschwerde
grundsätzlich eingetreten werden. Sie ist vor der gleichzeitig gegen die
nämliche Verfügung eingelegten Berufung zu behandeln, die die
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte der
Bürger ausdrücklich vorbehält (Art. 43 Abs. 1, letzter Satz, und Art. 57 Abs.
5 OG).

2.
Vor der Rekurskommission hat der Beschwerdeführer ausgeführt, "dass das
Regierungsstatthalteramt Thun nicht in der Lage sei, 'den Fall X.________'
unvoreingenommen und verfahrensmässig korrekt zu behandeln" (S. 2 der
angefochtenen Verfügung). Er erblickt eine formelle Rechtsverweigerung darin,
dass die Rekurskommission die gerügte "fehlende Unabhängigkeit des
Regierungsstatthalteramtes Thun" nicht erörtert hat (S. 9 der
Beschwerdeschrift). In seiner eidgenössischen Berufung will er rügen, dass
die Rekurskommission seinen Beweisanspruch verletzt habe, indem sie die
angebotenen Beweismittel zu diesen Vorwürfen nicht abgenommen habe. In seiner
staatsrechtlichen Beschwerde legt er dar, dass jegliche Würdigung dieser
Beweismittel willkürlich wäre, die nicht zum Ergebnis hätte, "dass das
Regierungsstatthalteramt bei seinem Entscheid nicht mehr ausreichend über der
Sache stand" (S. 9-17 der Beschwerdeschrift).

2.1 Der Beschwerdeführer wirft der Rekurskommission eine formelle
Rechtsverweigerung vor, weil sie über den Ausstand bzw. die Ablehnung des
Regierungsstatthalteramtes nicht entschieden hat. Nach der Rechtsprechung
begeht eine Behörde dann eine formelle Rechtsverweigerung, wenn sie über ein
Gesuch oder Begehren nicht entscheidet, obwohl sie zum Entscheid darüber
zuständig wäre (BGE 117 Ia 116 E. 3a S. 117). Die Entscheidzuständigkeit der
Behörde aufzuzeigen, ist dabei Sache des Beschwerdeführers (Art. 90 Abs. 1
lit. b OG; BGE 87 I 241 E. 3 S. 246, letzter Absatz; Urteil des
Bundesgerichts 2P.287/1991 vom 23. Februar 1993, E. 4b, in: RDAT 1993 II Nr.
48 S. 121 f.).
2.2 Das kantonale Gesetz über die fürsorgerische Freiheitsentziehung und
andere Massnahmen der persönlichen Fürsorge (FFEG; BSG 213.316) sieht in Art.
9 vor, dass der Regierungsstatthalter oder die Regierungsstatthalterin am
Wohnsitz für die Anordnung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung gegenüber
mündigen oder entmündigten Personen zuständig ist (Abs. 1). Gemäss Art. 34
kann die betroffene oder eine ihr nahestehende Person gegen die Anordnung
einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung oder gegen die Abweisung eines
Entlassungsgesuches innert zehn Tagen seit der Mitteilung bei der
Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen schriftlich Rekurs
erheben. Für das Verfahren vor der Rekurskommission gilt das Gesetz über die
Verwaltungsrechtspflege, soweit das Schweizerische Zivilgesetzbuch oder
dieses Gesetz keine Regelung enthalten (Art. 21 Abs. 1 FFEG). Unter dem
Zwischentitel "Verfahren vor der Rekurskommission" regeln die Art. 43 bis 49
FFEG den Ablauf des Verfahrens vor der Rekurskommission, enthalten aber keine
Vorschriften über die Ablehnung und den Ausstand von Behördenmitgliedern. Da
auch das Zivilgesetzbuch diese Verfahrensfrage nicht regelt (vgl. BGE 122 I
18 E. 2b/aa S. 21/22), sind die Bestimmungen des kantonalen Gesetzes über die
Verwaltungsrechtspflege (VRPG; BSG 155.21) massgebend. Gemäss Art. 9 Abs. 2
VPRG entscheidet über Ablehnungsbegehren sowie über den bestrittenen Ausstand
die in der Sache zuständige Rechtsmittelbehörde oder, wenn Mitglieder einer
Kollegialbehörde in den Ausstand treten, die Behörde unter Ausschluss der
Betroffenen endgültig (Satz 1). Ist die Regierungsstatthalterin oder der
Regierungsstatthalter betroffen, so entscheidet in jedem Fall die Justiz-,
Gemeinde- und Kirchendirektion endgültig (Satz 2).

2.3 Die kantonale Zuständigkeitsordnung ist klar und eindeutig. Der
Beschwerdeführer äussert sich dazu nicht, wie er das indessen tun müsste, und
von Amtes wegen hat sich das Bundesgericht im Rahmen einer staatsrechtlichen
Beschwerde damit auch nicht näher zu befassen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE
129 I 113 E. 2.1 S. 120). Muss insoweit davon ausgegangen werden, dass die
Rekurskommission zum Entscheid über den Ausstand oder die Ablehnung des
Regierungsstatthalters bzw. seines Stellvertreters nicht zuständig ist,
erweist sich der Vorwurf einer formellen Rechtsverweigerung als unbegründet.
Bei diesem Ergebnis ist auf die Vorbringen des Beschwerdeführers nicht mehr
näher einzugehen, die willkürfreie Würdigung der von ihm angebotenen
Beweismittel belege die Begründetheit seines Ausstands- bzw.
Ablehnungsbegehrens.

3.
Eine formelle Rechtsverweigerung erblickt der Beschwerdeführer weiter darin,
dass die Rekurskommission all seine Rügen nicht behandelt habe, die sich auf
das Verfahren betreffend Wegweisung aus dem elterlichen Domizil durch die
Einwohnergemeinde W.________ beziehen (S. 17-20 der Beschwerdeschrift).

Es trifft zu, dass die Rekurskommission den Präsidialbeschluss der
Vormundschaftsbehörde W.________ vom 6. Februar 2004 gekannt hat, mit dem der
Beschwerdeführer angewiesen worden ist, das elterliche Domizil zu verlassen
(Beschwerdebeilage Nr. 7). Sie hat darauf hingewiesen im Zusammenhang mit der
Schilderung dessen, was sich seit der letzten Rekursverhandlung vom 15.
Januar 2004 ereignet hat (S. 3 f. der angefochtenen Verfügung). Daraus kann
indessen nicht gefolgert werden, die Rekurskommission hätte auch auf die
Beanstandungen gegenüber dem vormundschaftlichen Wegweisungsverfahren
eintreten müssen. Im Gegenteil. Ein Eintreten auf die entsprechenden
Vorbringen hätte nicht nur eine Verkürzung des kantonalen Instanzenzugs
bedeutet, zumal - wie der Beschwerdeführer darlegt - betreffend Wegweisung
ein Beschwerdeverfahren vor dem Regierungsstatthalter noch hängig ist. Die
Rekurskommission hätte sich damit vielmehr über die kantonale
Zuständigkeitsordnung hinweggesetzt. Denn der besagte Präsidialbeschluss ist
gestützt auf Art. 4 FFEG ergangen und fällt damit unter die "Massnahmen ohne
Freiheitsentziehung" (Art. 3-7 FFEG). Im Unterschied zur fürsorgerischen
Freiheitsentziehung endet der kantonale Rechtsmittelzug bei Massnahmen ohne
Freiheitsentziehung nicht vor der Rekurskommission als einem eigentlichen
Fachgericht, sondern vor dem Appellationshof des Obergerichts (Art. 33 Abs. 3
FFEG), wie das in Vormundschaftssachen im Übrigen auch die Regel ist (Art.
23a und Art. 40a des Gesetzes betreffend die Einführung des Schweizerischen
Zivilgesetzbuches, EGZGB, BSG 211.1).
Die Rekurskommission hat sich somit an die kantonale Zuständigkeitsordnung
gehalten und ist mangels funktioneller Zuständigkeit auch von Verfassungs
wegen nicht verpflichtet gewesen, die Vorbringen des Beschwerdeführers
betreffend Wegweisung aus dem elterlichen Domizil zu prüfen.

4.
Schliesslich hat es die Rekurskommission mit ausführlicher Begründung
abgelehnt, dem Beschwerdeführer eine amtliche Anwältin beizuordnen. Die
Rekurskommission ist davon ausgegangen, der Beschwerdeführer sei bereits in
früheren Verfahren in der Lage gewesen, seinen Standpunkt vor der
Rekurskommission selber - einmal mit Erfolg - zu vertreten. Auch dieses Mal
habe er eigenhändig Rekurs erhoben sowie über die wesentlichen Gesichtspunkte
Auskunft geben und seine Vorstellungen formulieren können (S. 8 ff. der
angefochtenen Verfügung).

Die gegenteiligen Ausführungen des Beschwerdeführers (S. 20-25) gehen an den
entscheidenden Gesichtspunkten vorbei. Die Ausgangslage vor der
Rekurskommission hat darin bestanden, dass der Beschwerdeführer in einer
geschlossenen Anstalt zurückgehalten wurde, aus der er sofort entlassen
werden wollte. All die anderen Fragen und Verfahren, die der Beschwerdeführer
zu diesem Streitgegenstand - zu Unrecht (E. 2 und 3 hiervor) - hinzuzieht,
haben keinen Einfluss auf die Beurteilung, ob im konkreten Fall und für das
konkrete Verfahren anwaltlicher Rechtsbeistand sachlich notwendig ist. Denn
es müssen die Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren
Verfahrensvorschriften sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens
berücksichtigt werden. Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen
und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des
Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im
Verfahren zurechtzufinden. Falls ein besonders starker Eingriff in die
Rechtsstellung des Betroffenen droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich
geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere
tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der
Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist (zuletzt: BGE 128
I 225 E. 2.5.2 S. 232; 125 V 32 E. 4b S. 35). Im besonderen Fall ist
allerdings Art. 397f Abs. 2 ZGB zu beachten, wonach das Gericht der
betroffenen Person "wenn nötig" einen Rechtsbeistand bestellt. Der
Gesetzgeber hat die Gewährleistung des Rechtsschutzes des Betroffenen bei der
fürsorgerischen Freiheitsentziehung in erster Linie im Verfahren selbst
erblickt und eine obligatorische Verbeiständung trotz der Schwere des
Eingriffs und der häufig vorhandenen geistigen Schwäche des Betroffenen
bewusst nicht vorgesehen (BGE 107 II 314 E. 2 S. 317). Nach dieser Bestimmung
beurteilt sich auch die Notwendigkeit eines unentgeltlichen Rechtsbeistands
(Geiser, Basler Kommentar, 2002, N. 15 Abs. 3 zu Art. 397f ZGB; aus der
ständigen Praxis des Bundesgerichts, z.B. Urteil 5P.145/1998 vom 15. Mai
1998, E. 4, mit Hinweisen).

Entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers ist die Rekurskommission von
den zutreffenden Kriterien ausgegangen. Dass die Einweisung in eine Anstalt
ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte bewirkt, begründet für
sich allein noch nicht die sachliche Notwendigkeit einer Verbeiständung.
Unwidersprochen hat die Rekurskommission festgehalten, das Verfahren stelle
keinerlei formelle Anforderungen und der Beschwerdeführer habe zu sämtlichen
wesentlichen Fragen Auskunft geben und über seine künftige Lebensführung
Vorstellungen äussern können. Unter diesen Umständen erscheint es nicht als
verfassungswidrig, die Notwendigkeit eines Rechtsbeistands zu verneinen.

5.
Aus den dargelegten Gründen muss die staatsrechtliche Beschwerde abgewiesen
werden, soweit darauf einzutreten ist. Der Beschwerdeführer wird damit
kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Seinem Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege kann nicht entsprochen werden. Er hat zur Hauptsache Fragen
aufgeworfen und Rügen erhoben, die von vornherein nicht zum Gegenstand des
vorliegenden Verfahrens vor Bundesgericht gehören konnten (E. 1-3 hiervor).
Unter diesen Umständen müssen seine Rechtsbegehren als von Beginn an
aussichtslos bezeichnet werden (Art. 152 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird
abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und der Kantonalen Rekurskommission
für fürsorgerische Freiheitsentziehungen des Kantons Bern schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 23. April 2004

Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: