Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4C.47/2004
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4C.47/2004 /sza

Urteil vom 9. Dezember 2004

I. Zivilabteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichterinnen Klett, Rottenberg Liatowitsch,
Gerichtsschreiber Arroyo.

X. ________,
Klägerin und Berufungsklägerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Daniel Wyss,

gegen

Y.________,
Beklagte und Berufungsbeklagte, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Robert
Geisseler,

Haftung aus unerlaubter Handlung; Vertrauenshaftung,

Berufung gegen das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 5.
Dezember 2003.

Sachverhalt:

A.
Die X.________ (Klägerin) ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in ________
und tätigt Bankgeschäfte im europäischen Raum. Sie betreibt insbesondere auch
das Leasinggeschäft, das bis anfangs 2001 von der A.________ GmbH geführt und
alsdann im Rahmen einer Geschäftsübernahme mit Aktiven und Passiven auf die
Klägerin übertragen worden ist. Die Y.________ (Beklagte) ist eine
Aktiengesellschaft mit Sitz in ________ und bezweckt den Betrieb von
Versicherungs- und Rückversicherungsgeschäften.
Die Klägerin schloss im Rahmen ihrer Aktivitäten als Leasinggesellschaft in
den Jahren 1998 bis 2001 zahlreiche Kaufverträge mit der Einzelfirma
B.________ (heute B.________ AG) und überliess die Fahrzeuge mittels
Leasingverträgen den jeweiligen Leasingnehmern. Die Leasingnehmer waren
gemäss den Allgemeinen Leasingbedingungen gehalten, für die im Eigentum der
Klägerin verbliebenen Fahrzeuge eine Vollkasko-Versicherung abzuschliessen.
Auf die von den Leasingnehmern unterzeichneten Kaskobestätigungen und
Zessionserklärungen hin bezahlte die Klägerin jeweils den Kaufpreis an die
B.________. Im Jahre 2001 stellte sich heraus, dass die Klägerin
Kaufpreiszahlungen für über 200 nichtexistente Fahrzeuge geleistet hatte.

Im gegen die einzelnen Leasingnehmer und den für die B.________ tätigen
C.________ eingeleiteten Strafverfahren hat die Klägerin ihre Zivilansprüche
adhäsionsweise geltend gemacht. Gemäss Darstellung der Klägerin habe der des
Betrugs bezichtigte C.________ Personen gesucht, die sich für ein Entgelt von
Fr. 1'000.-- bis 3'000.-- als fingierte Leasingnehmer zur Verfügung gestellt
hätten; die entsprechenden Personalien habe C.________ jeweils einem
Filialmitarbeiter der Beklagten mitgeteilt, worauf dieser die Angaben in das
Zentralsystem der Beklagten eingegeben habe; dies sei zwischen C.________ und
dem Mitarbeiter der Beklagten so vereinbart gewesen; bis zur Entdeckung des
Betrugs habe C.________ mittels der von den Leasingnehmern an ihn
weitergeleiteten Einzahlungsscheine über mehrere Jahre die monatlichen
Leasingraten an die Klägerin bezahlt.

B.
Am 10. Juli 2002 gelangte die Klägerin an das Handelsgericht des Kantons
Zürich. Sie beantragte im Wesentlichen, die Beklagte sei zur Zahlung von
Schadenersatz in Höhe von Fr. 6'768'382.-- nebst Zins zu verpflichten. Sie
brachte vor, die Beklagte sei im Rahmen der Vollkaskoversicherung für die
Leasingfahrzeuge aufgetreten und habe dabei ihre auf Vertrauensschutz und
Geschäftsherrenstellung beruhenden Pflichten verletzt. Die Beklagte verwahrte
sich gegen jegliche Schadenersatzansprüche, während die Klägerin in der
Replik die Schadenersatzsumme auf Fr. 8'174'291.-- erhöhte.

Mit Urteil vom 5. Dezember 2003 wies das Handelsgericht die Klage mit
folgender Begründung ab: aus den Vorbringen der Klägerin erhelle, dass sie
den Kaufpreis für das jeweilige Fahrzeug gestützt auf die Kaskobestätigung
der einzelnen Leasingnehmer unmittelbar nach deren Eingang bezahlt habe;
diese Zahlungen habe sie mithin vor und unabhängig vom Eingang einer
allfälligen Negativmeldung der Beklagten betreffend Bestand des
Versicherungsschutzes für das jeweilige Fahrzeug vorgenommen; daher fehle es
am natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten der Beklagten
betreffend (unterlassener) Negativmeldung und dem der Klägerin durch die
Kaufpreiszahlungen entstandenen Schaden; gleichermassen fehle es am adäquaten
Kausalzusammenhang, da der Versand einer Negativmeldung nach erfolgter
Kaufpreiszahlung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen
Lebenserfahrung nicht mehr geeignet sei, den konkret entstandenen Schaden zu
verhindern. Eine Haftung der Beklagten aus unerlaubter Handlung komme daher
nicht in Frage. Da zwischen der Klägerin und der Beklagten keine rechtliche
Sonderverbindung bestehe, sei eine Vertrauenshaftung ebenfalls
ausgeschlossen.

Die von der Klägerin gegen das Urteil des Handelsgerichts erhobene kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich am 18.
Juni 2004 ab.

C.
Die Klägerin erhebt gegen das Urteil des Handelsgerichts eidgenössische
Berufung und gegen den Beschluss des Kassationsgerichts staatsrechtliche
Beschwerde. Mit Berufung rügt sie eine Verletzung von Art. 8 ZGB, Art. 63
Abs. 2 und 64 Abs. 2 OG; ausserdem habe die Vorinstanz den natürlichen und
adäquaten Kausalzusammenhang sowie eine Haftung der Beklagten aus
Vertrauensschutz bundesrechtswidrig verneint.
Die Beklagte beantragt die Abweisung der Berufung, soweit darauf einzutreten
sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Im Berufungsverfahren hat das Bundesgericht seiner Entscheidung die
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz zugrunde zu legen, es sei denn,
sie beruhten auf einem offensichtlichen Versehen, seien unter Verletzung
bundesrechtlicher Beweisvorschriften zustande gekommen oder bedürften der
Ergänzung, weil das kantonale Gericht in fehlerhafter Rechtsanwendung einen
gesetzlichen Tatbestand nicht oder nicht hinreichend klärte, obgleich ihm die
entscheidwesentlichen Behauptungen und Beweisanträge frist- und formgerecht
unterbreitet wurden (Art. 63 und 64 OG; BGE 127 III 248 E. 2c). Unzulässig
sind deshalb Ausführungen, die sich gegen die tatsächlichen Feststellungen
der Vorinstanz richten (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG). Eine blosse Kritik an der
Beweiswürdigung des Sachrichters ist im Berufungsverfahren ebenfalls
ausgeschlossen (BGE 127 III 73 E. 6a). Soweit die Klägerin ohne
substanziierte Sachverhaltsrügen nach Art. 63 f. OG zu erheben von den
tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil abweicht oder diese
ergänzt, ist sie nicht zu hören. Ebenso haben ihre Vorbringen unbeachtet zu
bleiben, mit denen sie die vorinstanzliche Beweiswürdigung beanstandet.

1.2 Mit Berufung kann geltend gemacht werden, der angefochtene Entscheid
beruhe auf Verletzung des Bundesrechts mit Einschluss der durch den Bund
abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge. Wegen Verletzung
verfassungsmässiger Rechte ist die staatsrechtliche Beschwerde vorbehalten
(Art. 43 Abs. 1 OG). Erörterungen über die Verletzung kantonalen Rechts sind
unzulässig (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG in fine; BGE 127 III 248 E. 2c). Soweit
der Kläger rügt, die Vorinstanz habe in verschiedener Hinsicht kantonales
Prozessrecht unrichtig angewendet oder ihn in verfassungsmässigen Rechten
verletzt, kann auf die Berufung nicht eingetreten werden.

1.3 Die Klägerin rügt, der Vorinstanz sei ein offensichtliches Versehen im
Sinne von Art. 63 Abs. 2 OG unterlaufen. Sie bringt vor, die Vorinstanz habe
ihre Behauptung übersehen, wonach der ganze Betrug ohne die vom
Filialmitarbeiter der Beklagten gegenüber dem Autoverkäufer C.________
gemachte Zusage der Zusammenarbeit gar nicht zustande gekommen wäre.
Ein offensichtliches Versehen gemäss Art. 55 Abs. 1 lit. d OG liegt nur vor,
wenn die Vorinstanz eine bestimmte Aktenstelle übersehen oder unrichtig
wahrgenommen hat (BGE 109 II 159 E. 2b, mit Hinweisen). Dass dies hier der
Fall sei, behauptet die Klägerin zu Unrecht. Denn die Vorinstanz hat
eingehend dargelegt, weshalb sie die erwähnte - ohnehin bestrittene - Abrede
zwischen C.________ und dem Mitarbeiter der Beklagten als für den
Kausalverlauf irrelevant erachtete. Die Versehensrüge ist unbegründet.

1.4 Die Klägerin macht weiter geltend, die Vorinstanz habe mehrere ihrer
Vorbringen mit Schweigen übergangen, weshalb ein lückenhafter Sachverhalt im
Sinne von Art. 64 Abs. 1 OG vorliege. Eine Ergänzung des Sachverhalts nach
Art. 64 Abs. 1 OG setzt voraus, dass entsprechende Sachbehauptungen bereits
im kantonalen Verfahren prozesskonform aufgestellt, von der Vorinstanz aber
zu Unrecht für unerheblich gehalten oder übersehen worden sind, was näher
anzugeben ist; andernfalls gelten die Vorbringen als neu und damit als
unzulässig (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG; BGE 130 III 102 E. 2.2, mit Hinweisen).

Die Beklagte missachtet die prozessualen Anforderungen an die Berufung, wenn
sie in appellatorischer Kritik den Sachverhalt aus ihrer Sicht darstellt und
die Beweiswürdigung sowie die Rechtsanwendung der Vorinstanz vermengt
kritisiert. Die Berufung genügt insoweit nicht den Anforderungen von Art. 55
Abs. 1 lit. c OG. Im Übrigen hat die Vorinstanz entgegen der Ansicht der
Klägerin ihr Vorbringen zur grundlegenden Bedeutung der angeblichen Abrede
zwischen C.________ und dem Filialmitarbeiter weder übersehen noch mit
Schweigen übergangen (oben E. 1.3). Die von der Klägerin im Zusammenhang mit
der Vertrauenshaftung gemachten Ausführungen zum mutmasslich erweckten
Vertrauen gehen ebenfalls ins Leere; denn die Vorinstanz hat das Bestehen
einer rechtlichen Sonderverbindung verneint und damit eine Haftung der
Beklagten aus Vertrauensschutz zu Recht verneint (unten E. 3). Die
Voraussetzungen für eine Ergänzung des Sachverhaltes sind nicht gegeben.

1.5 Art. 8 ZGB regelt im Bereich des Bundesprivatrechts zunächst die
Verteilung der Beweislast und verleiht darüber hinaus der beweisbelasteten
Partei das Recht, zum ihr obliegenden Beweis zugelassen zu werden. Art. 8 ZGB
schreibt dem Sachgericht dagegen nicht vor, mit welchen Mitteln der
Sachverhalt abzuklären ist oder wie die Beweise zu würdigen sind. Die
Schlüsse, die das kantonale Gericht in tatsächlicher Hinsicht aus Beweisen
und konkreten Umständen zieht, sind im Berufungsverfahren nicht überprüfbar
(BGE 122 III 219 E. 3c). Soweit sich die Berufung gegen solche Schlüsse
richtet, ist darauf nicht einzutreten. Die Klägerin übersieht ausserdem, dass
die Vorinstanz die natürliche Kausalität gestützt auf die
Sachverhaltsdarstellung der Klägerin verneint hat. Es ist nicht ersichtlich,
inwiefern in diesem Zusammenhang ein Verstoss gegen Art. 8 ZGB vorliegen
könnte.

2.
Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz wäre der Schaden der
Klägerin aufgrund ihrer ohne Abwarten einer allfälligen Negativmeldung
seitens der Beklagten getätigten Zahlungen auch bei hypothetischer Vornahme
der (angeblich) pflichtwidrig unterlassenen Handlung der Beklagten
eingetreten. Mangels natürlicher Kausalität verneinte die Vorinstanz eine
Haftung der Beklagten aus unerlaubter Handlung.

2.1 Die Klägerin bringt vor, die Vorinstanz habe zu Unrecht den natürlichen
Kausalzusammenhang verneint. Damit ist sie nicht zu hören. Denn ob ein
natürlicher Kausalzusammenhang zwischen dem geltend gemachten Schaden und dem
haftungsbegründenden Verhalten gegeben sei, ist eine Tatfrage, an die das
Bundesgericht - von hier nicht gegebenen Ausnahmen abgesehen - gebunden ist
(BGE 128 III 22 E. 2d, mit Hinweisen). Dies gilt auch für den hypothetischen
Kausalzusammenhang, sofern die entsprechende Schlussfolgerung auf dem Weg der
Beweiswürdigung aus konkreten Anhaltspunkten getroffen wurde und nicht
ausschliesslich auf allgemeiner Lebenserfahrung beruht (BGE 127 III 453 E.
5d, mit Hinweisen). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall erfüllt. Die
Vorinstanz schloss nicht allein gestützt auf die Lebenserfahrung, der Schaden
wäre auch bei Vornahme der Meldung bezüglich des fehlenden
Versicherungsschutzes durch die Beklagte nicht verhindert worden. Sie zog
diesen Schluss vielmehr auch aus konkreten Anhaltspunkten, namentlich dem von
der Klägerin geschilderten Ablauf der Leasinggeschäfte (oben E. 1.5);
ausserdem berücksichtigte sie, dass die Klägerin sogar nach einer Meldung der
Beklagten im Dezember 2000, wonach nur vier bis fünf Fahrzeuge bei ihr
versichert waren (d.h. für über 180 Fahrzeuge kein Versicherungsschutz
bestand), keine Abklärungen tätigte; vielmehr schloss die Klägerin weitere 35
Leasingverträge ab und nahm solche Abklärungen erst vor, als bei ihr Zweifel
an der Echtheit der von C.________ für einen weiteren Leasingvertrag
vorgelegten Dokumente aufkamen.

2.2 Steht fest, dass - wie hier - die natürliche Kausalität nicht gegeben
ist, erübrigt sich die Prüfung der adäquaten Kausalität (Brehm, Berner
Kommentar, N. 120 zu Art. 41 OR). Die von der Klägerin in diesem Zusammenhang
vorgebrachten Rügen sind unbeachtlich.

3.
Die Klägerin rügt, die Vorinstanz sei von einem falschen Verständnis der
Vertrauenshaftung ausgegangen; sie habe geschlossen, mangels rechtlicher
Sonderverbindung entfalle eine solche Haftung; damit habe die Vorinstanz
verkannt, dass bei der Vertrauenshaftung massgeblich sei, ob berechtigtes
Vertrauen begründet und in der Folge enttäuscht worden sei. Die Klägerin
übersieht mit diesen Vorbringen, dass die rechtliche Sonderverbindung und das
erweckte Vertrauen zwei verschiedene, kumulative Voraussetzungen der
Vertrauenshaftung bilden (BGE 128 III 324 E. 2.2; 121 III 350 E. 6d; 120 II
331 E. 5a S. 336; zu den einzelnen Voraussetzungen vgl. Gauch/Schluep/Rey,
Schweizerisches Obligationenrecht Bd. I, 8 Aufl., N. 982e ff.). Die
Vorinstanz hat daher zu Recht zunächst das Vorliegen einer Sonderverbindung
geprüft und nach Verneinung dieser Voraussetzung die Haftung der Beklagten
ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass auch die Vertrauenshaftung eine - hier
nicht gegebene (oben E. 2) - kausale Schadensverursachung voraussetzt (BGE
121 III 350 E. 7a; 120 II 331 E. 5a S. 337). Die Vorinstanz hat
bundesrechtskonform eine Vertrauenshaftung der Beklagten verneint.

4.
Die Berufung ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Diesem
Verfahrensausgang entsprechend ist die Gerichtsgebühr der Klägerin zu
auferlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Sie hat überdies der anwaltlich vertretenen
Beklagten eine Parteientschädigung zu leisten (Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 25'000.-- wird der Klägerin auferlegt.

3.
Die Klägerin hat die Beklagte für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.
30'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Handelsgericht des Kantons Zürich
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 9. Dezember 2004

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: