Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4C.386/2004
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4C.386/2004 /bie

Urteil vom 2. März 2005

I. Zivilabteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichterinnen Klett, Rottenberg Liatowitsch,
Bundesrichter Nyffeler, Bundesrichterin Kiss,
Gerichtsschreiber Mazan.

X. ________, Kläger und Berufungskläger,
vertreten durch Fürsprech Friedrich Affolter,

gegen

Y.________, Beklagten und Berufungsbeklagten,
vertreten durch Fürsprecher Jürg Hunziker,

Werkeigentümerhaftung; Werkmangel,

Berufung gegen das Urteil des Obergerichts des
Kantons Bern, Appellationshof, 1. Zivilkammer,
vom 25. August 2004.

Sachverhalt:

A.
X. ________ (Kläger) besuchte am 26. September 2000 seine Mutter, die im
vierten Stock der Liegenschaft Z.________ in Thun wohnte. Dieses Grundstück
steht im Eigentum von Y.________ (Beklagter). Nach dem Besuch benutzte der
Kläger den Lift, um vom vierten Stock ins Parterre zu gelangen. Dabei hielt
der Lift weder im Parterre (der Zielhaltestelle) noch im Keller (der
Endstation), sondern prallte mit ungebremster Sinkgeschwindigkeit auf den
Auffahrpuffer im Liftschacht. Dieser Vorfall führte beim Kläger zu
körperlichen Beschwerden.

B.
Am 29. November 2001 gelangte der Kläger an den Gerichtspräsidenten 1 des
Gerichtskreises X Thun und beantragte, der Beklagte sei zu verurteilen, ihm
aus dem Ereignis vom 26. September 2000 eine Genugtuung von Fr. 80'000.--
(eventuell gemäss richterlichem Ermessen) zu bezahlen, und er sei weiter zu
verurteilen, ihm als vorläufigen Schaden bis 26. September 2001 einen Betrag
von Fr. 46'362.20 zu ersetzen. Mit Urteil vom 28. Januar 2004 wies der
Gerichtspräsident 1 des Gerichtskreises X Thun die Klage ab. Dieses Urteil
focht der Kläger mit Appellation beim Appellationshof des Kantons Bern an.
Mit Urteil vom 25. August 2004 wies der Appellationshof die Klage ebenfalls
ab.

C.
Mit Berufung vom 19. Oktober 2004 beantragt der Kläger dem Bundesgericht, das
Urteil des Appellationshofes des Kantons Bern vom 25. August 2004 sei
aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt die Abweisung der Berufung.

D.
Mit Urteil vom heutigen Tag wurde eine gleichzeitig erhobene staatsrechtliche
Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten war.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Appellationshof hatte sich im angefochtenen Urteil in erster Linie mit
der Frage auseinanderzusetzen, ob ein Werkmangel vorliege. Unter Hinweis auf
die Erwägung des erstinstanzlichen Gerichtspräsidenten wurde festgehalten,
dass der Lift im Zeitpunkt des Ereignisses den gültigen Normen entsprochen
habe. Dennoch habe der Fahrbetrieb beim zu beurteilenden Vorfall nicht
ordnungsgemäss funktioniert. Aufgrund eines Zählfehlers eines
Magnetschalters, der Teil der Steuerung sei, habe der Lift bei der
Zielhaltestelle nicht angehalten und auch die Endhaltestelle überfahren. Der
Überfahrschutz habe zwar den Normen entsprochen, doch sei er nicht auf den
Ausschluss jeden Risikos ausgelegt. Obwohl der Aufprallschutz funktioniert
habe, habe der Schaden nicht verhindert werden können. Daraus ergebe sich
jedoch nicht zwingend, dass ein Mangel in der Anlage vorliege. Zu prüfen sei,
ob ein mangelhafter Unterhalt angenommen werden müsse. Der Beklagte habe
betreffend den fraglichen Lift einen Vollunterhaltsvertrag abgeschlossen.
Dabei hätten sich im Verlauf des Beweisverfahrens keine Anzeichen ergeben,
wonach der Standard dieses Unterhaltsvertrages nicht genügend gewesen sei.
Dass der Lift vielleicht sporadisch die falsche Haltestelle angefahren haben
könnte, lasse keinen Schluss auf ein erhöhtes Aufprallrisiko zu. Im Übrigen
sei auch nicht nachgewiesen, dass die Störungen häufiger aufgetreten seinen,
als bei einem beliebigen anderen Lift von vergleichbarem Alter und Standard.
Es bestehe auch keine Verpflichtung, eine Anlage immer auf dem neusten
technischen Stand zu halten. Zudem sei es aufgrund der Kosten-Nutzen-Relation
bei nicht nachweislich erhöhtem Risiko unzumutbar, die ganze Steuerung
auszutauschen, um das Risiko zu vermindern, zumal sich dieses ohnehin nicht
ganz ausschliessen lasse. Zusammenfassend könne gesagt werden, dass die
Anlage des Liftes nicht mangelhaft gewesen sei und auch der Unterhaltspflicht
nachgekommen worden sei, soweit dies verlangt werden könne.
Der Kläger wirft der Vorinstanz vor, durch die Verneinung eines Werkmangels
in verschiedener Hinsicht gegen Art. 58 OR verstossen zu haben.

2.
Gemäss Art. 58 Abs. 1 OR hat der Eigentümer eines Gebäudes oder eines anderen
Werks den Schaden zu ersetzen, den diese infolge von fehlerhafter Anlage oder
Herstellung oder von mangelhafter Unterhaltung verursachen.

2.1 Ob ein Werk fehlerhaft angelegt oder mangelhaft unterhalten ist, hängt
vom Zweck ab, den es zu erfüllen hat. Ein Werkmangel liegt vor, wenn das Werk
bei bestimmungsgemässem Gebrauch keine genügende Sicherheit bietet.
Vorzubeugen hat der Werkeigentümer nicht jeder denkbaren Gefahr, sondern nur
jener, die sich aus der Natur des Werkes und seiner normalen Benützung ergibt
(BGE 130 III 736 E. 1.3 S. 741 m.w.H.). Dabei beurteilt sich die Frage, ob
ein Werk mängelfrei oder mangelhaft ist, nach objektiven Gesichtspunkten,
unter Berücksichtigung dessen, was sich nach der Lebenserfahrung am
fraglichen Ort zutragen kann (BGE 122 III 229 E. 5a/bb S. 235). Eine Schranke
der Werkeigentümerhaftung bildet die Selbstverantwortung. Der Werkeigentümer
hat nicht jeder erdenklichen Gefahr vorzubeugen, sondern darf Risiken ausser
Acht lassen, welche von den Benützern des Werkes oder von Personen, die mit
dem Werk in Berührung kommen, mit einem Mindestmass an Vorsicht vermieden
werden können (BGE 130 III 736 E. 1.3 S. 742 m.w.H.). Eine weitere Schranke
der Haftpflicht bildet sodann die Zumutbarkeit. Zu berücksichtigen ist, ob
die Beseitigung allfälliger Mängel oder das Anbringen von
Sicherheitsvorrichtungen technisch möglich ist und die entsprechenden Kosten
in einem vernünftigen Verhältnis zum Schutzinteresse der Benützer und dem
Zweck des Werkes stehen (BGE 130 III 736 E. 1.3 S. 742 m.w.H.). Massgebend
für die Beurteilung des Vorliegens eines Mangels ist somit die
Zweckbestimmung des Werkes, für welche Prüfung ein objektiver Massstab zur
Anwendung gelangt, und die Zumutbarkeit der Beseitigung allfälliger Mängel
unter dem Gesichtspunkt der technischen Möglichkeiten und der
wirtschaftlichen Verhältnismässigkeit.

2.2 Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Lift vom Kläger
bestimmungsgemäss gebraucht worden ist. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür,
dass dem Kläger bei der Bedienung des Liftes Fehlmanipulationen vorzuwerfen
sind. Trotz der korrekten Benutzung des Liftes ist es bei der fraglichen
Liftfahrt zu Fehlfunktionen gekommen. Zunächst ist der Lift an der vom Kläger
angewählten Zielhaltestelle im Parterre vorbeigefahren und hat anschliessend
auch die Endstation im Kellergeschoss überfahren. Dies ist nach der
verbindlichen Feststellung des Obergerichtes, die auf einem gerichtlichen
Gutachten beruht, auf einen Zählfehler des Magnetschalters zurückzuführen.
Die Vorinstanz geht daher zutreffend davon aus, dass insofern von einer
Fehlfunktion der Anlage auszugehen sei. Dabei handelt es sich um einen
bekannten, technisch jedoch nicht gänzlich vermeidbaren Fehler. So wird im
angefochtenen Urteil gestützt auf das gerichtliche Gutachten ausgeführt, "das
Überfahren der Endhaltestelle gehöre bei Aufzugsanlagen, seit es Aufzüge
gebe, zu den möglichen Funktionsfehlern". Daraus scheint der Appellationshof
abzuleiten, dass aufgrund der Unvermeidbarkeit solcher Fehlfunktionen im
Einzelfall nicht von einer mangelhaften Anlage gesprochen werden könne.
Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Wenn ein Lift trotz
bestimmungsgemässem Gebrauch gelegentlich die falsche Zielstation anfährt und
sogar die Endhaltestelle überfährt, und wenn derartige Fehlfunktionen zwar
bekannt sind, aber technisch offenbar nicht völlig ausgeschlossen werden
können, ist es angebracht, dagegen Schutzmechanismen einzurichten. Der
fragliche Lift verfügte denn auch über einen sog. Überfahrschutz, der beim
Überfahren der Endhaltestelle hätte in Funktion treten sollen. Trotz des
Vorhandenseins eines Überfahrschutzes konnte im hier zu beurteilenden Fall
der Aufprall der Liftkabine mit ungebremster Sinkgeschwindigkeit nicht
verhindert werden. Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass es
durch den Zählfehler des Magnetschalters zu einem fehlerhaften Überfahren der
Ziel- und Endhaltestelle kam, und dass anschliessend der Überfahrschutz die
ihm zugedachte Schutzfunktion auch nicht wirksam auszuüben vermochte. Aus
diesem Grund muss im vorliegenden Fall von einer mangelhaften Anlage
ausgegangen werden. Wenn ein Werkmangel bereits aufgrund einer fehlerhaften
Anlage zu bejahen ist, muss nicht weiter geprüft werden, ob die mangelhafte
Anlage genügend unterhalten wurde. Der Werkmangel ergibt sich aus der
Fehlerhaftigkeit der Anlage und nicht aus mangelhaftem Unterhalt.

2.3 Die Vorinstanz verneinte eine Haftung des beklagten Werkeigentümers mit
der Begründung, dass der Lift im Zeitpunkt des Ereignisses den gültigen
Normen entsprochen habe und im Rahmen eines Vollunterhaltsvertrages
angemessen gewartet worden sei. Auch diese Argumentation ist nicht
überzeugend. Zutreffend ist zwar, dass dem Werkeigentümer keine
Sorgfaltspflichtverletzung vorgeworfen werden kann, wenn das den Schaden
verursachende Werk im Zeitpunkt des Ereignisses den geltenden Normen
entspricht. Im Unterschied beispielsweise zur Geschäftsherrenhaftung (Art. 55
Abs. 1 OR) oder der Tierhalterhaftung (Art. 56 Abs. 1 OR) sieht die
Werkeigentümerhaftung (Art. 58 Abs. 1 OR) als strengste Kausalhaftung jedoch
keine Möglichkeit des Haftpflichtigen vor, sich durch Erbringung des
Sorgfaltsbeweises zu exkulpieren. Wie bereits erwähnt ist ein objektiver
Massstab anzusetzen, der keinen Raum lässt für die Mitberücksichtigung der
subjektiven Vorwerfbarkeit (Roland Brehm, Berner Kommentar, 2. Aufl., Bern
1998, N. 55 ff. zu Art. 58 OR; Heinz Rey, Ausservertragliches
Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Zürich 2003, Rz. 1059; Oftinger/Stark,
Schweizerisches Haftpflichtrecht, Bd. II/1, Zürich 1987, § 19 Rz. 71; Franz
Werro, Commentaire romand, Code des obligations I, Basel 2003, Rz. 17 zu Art.
58 OR).

2.4 Weiter hat der Appellationshof ausgeführt, unter Berücksichtigung des
technisch Möglichen und wirtschaftlich Verhältnismässigen habe vom Beklagten
nicht die präventive Auswechslung der ganzen Steuerung, deren Teil die
fehlerhaften Magnetschalter gewesen seien, verlangt werden können, weil im
Vorfeld des Ereignisses keine erhöhte Störungsanfälligkeit des Liftes habe
beobachtet werden können und weil selbst bei einer Auswechslung der Steuerung
ein vergleichbarer Funktionsfehler technisch nicht hätte ausgeschlossen
werden können. Auch diese Begründung hält einer Prüfung nicht stand. Wenn das
mögliche Überfahren der Endhaltestelle zu den bekannten und letztlich nicht
völlig vermeidbaren Fehlfunktionen eines Aufzugs gehört, wäre es angebracht,
einen wirksamen Überfahrschutz vorzusehen. Wie erwähnt verfügte die hier zu
beurteilende Liftanlage zwar über einen Überfahrschutz, der jedoch seine
Funktion nicht erfüllte. Dass ein wirksamer Überfahrschutz im Vergleich zum
hier bestehenden ungenügenden Schutzmechanismus unter dem Gesichtspunkts der
Nutzen-Kosten-Relation nicht zumutbar sein soll, wird nicht geltend gemacht
und ist auch nicht ersichtlich. Wenn die betreffende Anlage aber trotz den
bekannten und mit dem Liftbetrieb eng verbundenen Risiken nicht über einen
wirksamen Überfahrschutz verfügt, liegt ein mangelhaftes Werk vor.

2.5 Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass die Vorinstanz das
Vorliegen eines Werkmangels zu Unrecht verneint hat. Die Berufung ist daher
gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache entsprechend
dem Antrag des Klägers zur Neuentscheidung an den Appellationshof
zurückzuweisen.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beklagte kosten- und
entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Appellationshofs des Kantons
Bern vom 25. August 2004 aufgehoben und die Sache zur Neuentscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 5'000.-- wird dem Beklagten auferlegt.

3.
Der Beklagte hat den Kläger für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.
6'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern,
Appellationshof, 1. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 2. März 2005

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: