Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4C.248/2004
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4C.248/2004 /lma

Urteil vom 14. September 2004

I. Zivilabteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichterin Rottenberg Liatowitsch,
Bundesrichter Nyffeler, Favre, Bundesrichterin Kiss,
Gerichtsschreiber Huguenin.

A. C.________,
B.C.________,
Kläger und Berufungskläger, beide vertreten durch Rechtsanwalt Alfred Gilgen,

gegen

D.________,
E.________,
Beklagte und Berufungsbeklagte, beide vertreten durch Rechtsanwältin Anita
Thanei.

Kündigungsschutz,

Berufung gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, II.
Zivilkammer, vom 10. Mai 2004.

Sachverhalt:

A.
D. ________ und E.________ (Beklagte) wohnen seit dem Juni 2002 als Mieter in
dem ihnen von A.C.________ und B.C.________ (Kläger) vermieteten
8-Zimmer-Einfamilienhaus in X.________. Der Mietzins beträgt Fr. 2'500.-- pro
Monat. Die Kläger kündigten das Mietverhältnis mit amtlichen Formular vom 28.
August 2002 ausserordentlich auf den 30. November 2002 unter Berufung auf
wichtige Gründe im Sinne von Art. 266g Abs. 1 OR. Mit Eingabe vom 11.
September 2002 beantragten die Beklagten hierauf der Schlichtungsbehörde die
Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung, eventuell deren
Ungültigerklärung.

Mit amtlichem Formular vom 5. November 2002 kündigten die Kläger das
Mietverhältnis ordentlich auf den 31. März 2003. Auch diese Kündigung fochten
die Beklagten bei der Schlichtungsbehörde an. Diese stellte mit Beschluss vom
16. Dezember 2002 die Ungültigkeit der beiden Kündigungen fest, weil die
Voraussetzungen von Art. 266g Abs. 1 OR nicht erfüllt seien. Das hierauf von
den Klägern angerufene Mietgericht des Bezirks Meilen schrieb in seinem
Urteil vom 21. November 2003 das Verfahren betreffend die beantragte
Feststellung der Gültigkeit der ausserordentlichen Kündigung vom 28. August
2002 und betreffend Feststellung der einseitigen Unverbindlichkeit des
Mietvertrages als durch Rückzug erledigt ab. Sodann stellte es die Gültigkeit
der ordentlichen Kündigung vom 5. November 2002 fest und erstreckte das
Mietverhältnis bis 30. September 2004. Das Mietgericht kam zum Schluss, dass
das von den Beklagten eingeleitete Schlichtungsverfahren an sich geeignet
sei, eine Sperrfrist im Sinne von Art. 271a Abs. 1 lit. d OR auszulösen. Es
hielt die Kündigung vom 5. November 2002 aber dennoch für gültig, weil es die
Berufung der Beklagten auf die Sperrfrist als rechtsmissbräuchlich
betrachtete.

B.
Die Beklagten zogen das Urteil das Bezirksgerichts an das Obergericht des
Kantons Zürich weiter, das mit Beschluss vom 10. Mai 2004 in Gutheissung der
Berufung die Ungültigkeit der ordentlichen Kündigung vom 5. November 2002 auf
den 31. März 2003 feststellte. Das Obergericht teilte die Ansicht des
Bezirksgerichts, wonach das Schlichtungsverfahren eine Sperrfrist ausgelöst
habe, hielt jedoch im Gegensatz zum Bezirksgericht die Berufung der Beklagten
auf diese Sperrfrist nicht für rechtsmissbräuchlich im Sinne von Art. 2 Abs.
2 ZGB.

C.
Die Kläger führen eidgenössische Berufung mit dem Antrag, die ordentliche
Kündigung der Kläger vom 5. November 2002 auf den 31. März 2003 als gültig zu
erklären und das Mietverhältnis endgültig bis zum 30. September 2004 zu
erstrecken.

Die Beklagten schliessen auf Abweisung der Berufung, soweit darauf
einzutreten sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Kläger kritisieren mit der Berufung die Auslegung von Art. 271a Abs. 1
lit. d OR durch die Vorinstanz. Sie bringen vor, die Vorinstanz habe sich
ausschliesslich auf den Gesetzeswortlaut abgestützt und sei auf diese Weise
zu einem sinn- und zweckwidrigen, vom Gesetzgeber offensichtlich nicht
gewollten Ergebnis gelangt. Sie schildern die Entstehungsgeschichte der Norm
und legen dar, dass diese ursprünglich als "Flankenschutz des Mieters vor
einer unfairen und zweckfremden Kündigung in einem Verfahren betreffend
Mietzinsanfechtung" gedacht gewesen sei, weshalb Art. 24 BMM, die
Vorläuferbestimmung des Art. 271a Abs. 1 lit. d OR, die Nichtigkeit der
Vermieterkündigung während der Dauer des Schlichtungs- und des gerichtlichen
Verfahrens vorgesehen habe. Auch wenn in Art. 271a Abs. 1 OR nur noch davon
die Rede sei, unter bestimmten Voraussetzungen sei eine Kündigung anfechtbar,
sei damit lediglich die missbräuchliche Kündigung gemeint und keine
Ausdehnung der Vermieterkündigung auf nicht missbräuchliche
Vermieterkündigungen beabsichtigt gewesen, wie denn auch sämtliche
anfechtbaren Vermieterkündigungen nach Art. 271 und 271a OR vom Gesetzgeber
als missbräuchlich identifiziert seien. Der Wortlaut von Art. 271a Abs. 1
lit. d OR ("mit dem Mietverhältnis zusammenhängend") sei somit nicht derart
eindeutig, dass er nicht historischer, geltungszeitlicher und teleologischer
Auslegung bedürfte, was die Vorinstanz verkannt habe.

2.
Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem
Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der
Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die
Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon
der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten
verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige
Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes
Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen
Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen
Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen
(BGE 128 I 34 E. 3b S. 40 f.). Es können auch die Gesetzesmaterialien
beigezogen werden, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort geben
und dem Richter damit weiterhelfen (BGE 102 II 401 E. 3a S. 405).

3.
3.1 Nach Art. 271a Abs. 1 lit. d OR ist eine durch den Vermieter
ausgesprochene Kündigung anfechtbar, wenn sie während eines mit dem
Mietverhältnis zusammenhängenden Schlichtungs- oder Gerichtsverfahrens
ausgesprochen wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Lehre
gilt dieser Anfechtungsgrund für alle Schlichtungs- und Gerichtsverfahren,
selbst Schiedsgerichtsverfahren, sofern sie mit der Mietsache zusammenhängen
(Urteil 4C.39/1995 vom 28. Dezember 1995, E. 4b mit Hinweisen; SVIT-Kommentar
Mietrecht, 2. Aufl., Zürich 1998, N. 29 zu Art. 271a OR; Higi, Zürcher
Kommentar, N. 236-245 zu Art. 271a OR). Ausgenommen sind bloss die in Art.
271a Abs. 3 OR ausdrücklich genannten Streitigkeiten. Dass die wegen des
zeitlichen Kündigungsschutzes als missbräuchlich vermutete Kündigung auch
tatsächlich missbräuchlich zu sein hat, lässt sich dem Wortlaut nicht
entnehmen. Wenn die Vorinstanz diesen insoweit als klar erachtete, ist ihr
ohne Weiteres beizupflichten.

3.2 Sinn und Zweck von Art. 271a Abs. 1 lit. d OR liegen darin, zu
verhindern, dass die Vermieterschaft ein ihr missliebiges Gerichtsverfahren
durch Kündigung des Mietverhältnisses beendigen kann (SVIT-Kommentar, N. 27
f. zu Art. 271a OR; Higi, a.a.O., N. 232 zu Art. 271a OR; Peter Zihlmann, Das
Mietrecht, 2. Aufl., Zürich 1995, S. 215). Der Kündigungsschutz reicht über
jenen vor offensichtlichem Rechtsmissbrauch, selbst über die umfassende
Wahrung des Prinzips von Treu und Glauben, hinaus. Das Gesetz ist weit eher
von positiven Loyalitätskriterien und vom Sozialschutzgedanken getragen denn
vom negativ geprägten Missbrauchsbegriff, was sich nicht nur bei den
Sperrfristen gemäss Art. 271a Abs. 1 lit. d und e sowie Art. 271a Abs. 2 OR,
sondern auch beim Familienschutz gemäss Art. 271a Abs. 1 lit. f OR
manifestiert (Roger Weber, Basler Kommentar, 3. Auflage, N. 1 zu Art.
271/271a OR). Diesem Schutzgedanken liefe die von den Klägern befürwortete
Einschränkung der gesetzlichen Kündigungssperre zuwider.

3.3 Wie sich aus den Materialien ergibt, übernimmt die in Art. 271a Abs. 1
lit. d OR verankerte Bestimmung die Funktion des Art. 24 BMM, dehnt aber den
Kündigungsschutz auf alle Verfahren aus, die mit dem Mietverhältnis
zusammenhängen. Sie erfasst nicht mehr nur solche, die den Mietzins zum
Gegenstand haben (Botschaft des Bundesrats zur Revision des Miet- und
Pachtrechts vom 27. März 1985, BBl 1985 I 1389 ff., 1460). Es ist denn auch
bei vielfältigen Auseinandersetzungen, nicht nur bei solchen um den Mietzins,
denkbar, dass wegen eines missliebigen Gerichtsverfahrens gekündigt wird.
Damit Art. 271a Abs. 1 lit. d OR seine Zweckbestimmung erfüllen kann, darf
sein Anwendungsbereich nicht eng gefasst werden. Den Interessen des
Vermieters trägt dabei Art. 271a Abs. 3 OR Rechnung. Art. 271a Abs. 1 lit. d
OR schliesst zudem die Berufung auf diese Bestimmung aus, wenn der Mieter in
missbräuchlicher Absicht handelt. Eine darüber hinaus reichende Einschränkung
des Anwendungsbereichs ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte nicht.

3.4 Dieses Ergebnis wird durch die Systematik des Gesetzes untermauert. Der
Gesetzgeber listet in Art. 271a Abs. 1 und 2 OR jene Fälle auf, in denen die
Missbräuchlichkeit der Kündigung zu vermuten ist. Alsdann zählt er in Art.
271a Abs. 3 OR jene Fälle abschliessend auf, bei deren Vorliegen die
gesetzlichen Vermutungen des zeitlichen Kündigungsschutzes widerlegt werden
(Lachat, Commentaire Romand, N. 1 zu Art. 271a OR; Higi, a.a.O., N. 184 zu
Art. 271a OR). Ob dabei statt von Gründen für eine Widerlegung der
gesetzlichen Vermutung gestützt auf den Gesetzeswortlaut ("nicht anwendbar")
von Ausnahmen gesprochen wird, die den zeitlichen Kündigungsschutz
einschränken, ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang (vgl. die
diesbezügliche Kritik bei Higi, a.a.O., N. 183 zu Art. 271a OR). Wesentlich
ist, dass das Gesetz abschliessend aufzählt, unter welchen Bedingungen die
Folgen der nach Art. 271a Abs. 1 lit. d oder e OR vermutungsweise
missbräuchlichen Vermieterkündigung nicht einzutreten haben. Es sind dies
dringender Eigenbedarf des Vermieters (lit. a), Zahlungsrückstand des Mieters
(lit. b), schwere Verletzung der Pflicht des Mieters zu Sorgfalt und
Rücksichtnahme (lit. c), Veräusserung der Sache (lit. d), wichtige Gründe
(lit. e) oder Konkurs des Mieters (lit. f). Damit ist den berechtigten
Interessen der Vermieterschaft hinreichend Rechnung getragen. Für eine
weitere Beschränkung des zeitlichen Kündigungsschutzes entgegen dem
Gesetzeswortlaut bleibt kein Raum. Dass eine wortgetreue Auslegung des
Gesetzes zu einem stossenden Ergebnis führen würde und deshalb eine unechte
Gesetzeslücke vorliegt, wie sie die Kläger festgestellt haben wollen, trifft
nicht zu (vgl. dazu Dürr, Zürcher Kommentar, N. 95 zu Art. 1 ZGB).

3.5 Aus den dargelegten Gründen legt weder eine historische noch eine
teleologische oder systematische Auslegung der anwendbaren Norm nahe, dass zu
prüfen wäre, ob sich eine bei hängigem Verfahren betreffend das
Mietverhältnis vermieterseitig ausgesprochene Kündigung im Einzelfall
tatsächlich als missbräuchlich erweist.

3.6 An diesem Ergebnis vermag der Hinweis der Kläger, die zweite Kündigung
stelle einen Teilrückzug der ersten dar, nichts zu ändern. Die ursprüngliche
Kündigung als Gestaltungsrecht hat entweder unmittelbar zur Auflösung des
Mietvertrages geführt oder sie blieb wirkungslos. Die zweite Kündigung strebt
eine neue, anders geartete Gestaltung der Rechtslage an, nämlich die
Beendigung des Mietvertrages auf ein späteres Datum. Ihre Zulässigkeit ist
nach den im Zeitpunkt ihrer Vornahme herrschenden Umständen zu prüfen. Stehen
ihr rechtliche Hindernisse - etwa ein Verbot wegen eines hängigen Verfahrens
über die Gültigkeit der ersten Kündigung - entgegen, ist dem nicht durch
Umdeutung in einen "Teilrückzug" beizukommen. Damit würde genau das erreicht,
wovor der Gesetzgeber die Mieterschaft mit dem zeitlichen Kündigungsverbot
bewahren wollte, nämlich die Beendigung des Vertragsverhältnisses bzw. des
Verfahrens betreffend die Anfechtung der (ersten) Kündigung (SVIT-Kommentar,
N. 27 zu Art. 271a OR). Schon aus diesem Grunde kann dem klägerischen Konzept
eines Teilrückzuges der Kündigung kein Erfolg beschieden sein, abgesehen
davon, dass es sich mit der Rechtsnatur der Kündigung als Gestaltungsrecht
wie dargelegt nicht vereinbaren liesse. Die Vorinstanz ist daher zu Recht der
in der Lehre vertretenen Gegenmeinung nicht gefolgt (vgl. dazu
SVIT-Kommentar, N. 31 zu Art. 271a OR mit Hinweis; Zihlmann, a.a.O., S. 220
N. 5.7).
3.7 Die Kläger betonen auch im Berufungsverfahren vor Bundesgericht, dass sie
die ordentliche Kündigung, deren Gültigkeit sie beanspruchen, aus den
gleichen Gründen wie die erste (ausserordentliche) ausgesprochen haben. Sie
berufen sich somit auf keinen der in Art. 271a Abs. 3 OR aufgeführten Gründe,
mit denen sie die Missbrauchsvermutung zu Fall bringen könnten. Damit hat es
insoweit bei der Ungültigkeit der (ordentlichen) Kündigung sein Bewenden.

4.
Für den Fall der Annahme einer Kündigungssperre rügen die Kläger als
Verletzung von Art. 2 ZGB, dass die Vorinstanz einen Rechtsmissbrauch der
Beklagten bei der Anrufung von Art. 271 Abs. 1 lit. d OR verneint hat. Was
sie zur Begründung vortragen, beschränkt sich indessen auf die Darlegung
ihrer Auffassung, wonach dem Vermieter ungeachtet des zeitlichen
Kündigungsschutzes gestattet sein muss, während laufendem Verfahren eine neue
ordentliche Kündigung auszusprechen. Weshalb die Anrufung von Art. 271a Abs.
1 lit. d OR treuwidrig sein soll, zeigen die Kläger nicht auf und ist nicht
ersichtlich. Der Berufung ist auch insoweit kein Erfolg beschieden.

5.
Aus den dargelegten Gründen erweist sich die Berufung als unbegründet. Dem
Verfahrensausgang entsprechend ist die Gerichtsgebühr den Klägern
aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG), die zudem die Beklagten für das
bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen haben (Art. 159 Abs. 1 und 2
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Berufung wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird den Klägern unter solidarischer
Haftbarkeit auferlegt.

3.
Die Kläger haben die Beklagten unter solidarischer Haftbarkeit für das
bundesgerichtliche Verfahren mit insgesamt Fr. 3'500.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II.
Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 14. September 2004

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: