Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Zivilabteilung 4C.224/2004
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4C.224/2004 /lma

Urteil vom 29. September 2004

I. Zivilabteilung

Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichterinnen Rottenberg Liatowitsch, Kiss,
Gerichtsschreiber Huguenin.

A. ________,
Kläger und Berufungskläger, vertreten durch Rechtsanwalt Bernhard Rubin,

gegen

Spital B.________,
Beklagter und Berufungsbeklagter, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Thomas
Kellenberger,

Anfechtung der Kündigung/Mieterstreckung/Forderung aus Mietrecht,

Berufung gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Präsidentin der
III. Zivilkammer, vom

22. April 2004.

Sachverhalt:

A.
A. ________ (Kläger) hatte vom Spital B.________ (Beklagter) im Personalhaus
an der X.________-Strasse ab dem 1. Mai 2002 ein möbliertes Zimmer gemietet.
Am 21. August 2003 kündigte das Spital B.________ das Mietverhältnis auf den
30. September 2003.

B.
Der Kläger erhob fristgerecht Einsprache bei der Schlichtungsstelle für
Mietverhältnisse des Gerichtskreises St. Gallen, welche mit Entscheid vom 24.
September 2003 die Kündigung für gültig erklärte und das Mietverhältnis bis
zum 30. November 2003 erstmals erstreckte.

C.
Am 7. November 2003 stellte der Kläger dem Kreisgericht St. Gallen die
Anträge, es sei die Kündigung vom 21. August 2003 für ungültig zu erklären
und aufzuheben. Der Beklagte sei zu verpflichten, den Telefonanschluss im
Zimmer des Klägers wieder einzuschalten, die bisherigen Telefonrechnungen zu
korrigieren und künftig korrekte Telefongebühren zu verrechnen. Ferner sei
der Mietzins für die Zeit vom 11. Juli 2003 bis zur Behebung der erwähnten
Mängel betreffend Telefon um Fr. 60.-- pro Monat bzw. um 20 % herabzusetzen,
und der Beklagte sei zur Zahlung einer Genugtuung von Fr. 1'000.-- an den
Kläger zu verpflichten. Mit Entscheid vom 9. Januar 2004 trat das
Kreisgericht St. Gallen, Präsidium der I. Abteilung, auf die Klage nicht ein.
Es hielt dafür, die dreissigtägige Klagefrist gemäss Art. 274f Abs. 1 OR sei
nicht eingehalten worden. Die zur Entgegennahme von Postsendungen für den
Kläger berechtigte Angestellte am Auskunftsschalter des Spitals B.________
habe den am 30. September 2003 eingeschrieben versandten Entscheid der
Schlichtungsstelle am 1. Oktober 2003 von der Post entgegengenommen und dafür
quittiert. Die dreissigtägige Frist sei daher am 31. Oktober abgelaufen, die
Klage vom 7. November 2003 mithin verspätet.

D.
Der Kläger beantragte dem Kantonsgericht St. Gallen mit Berufung, den
Entscheid des Kreisgerichts vom 9. Januar 2004 aufzuheben und die
Angelegenheit zu erneuter Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem
verlangte er die Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung samt
Rechtsbeistand.
Ohne Anhörung der Gegenpartei wies die Präsidentin der III. Zivilkammer des
Kantonsgerichts St. Gallen das Gesuch des Klägers um unentgeltliche
Prozessführung sowie die Berufung mit Entscheid vom 22. April 2004 ab. Zur
Begründung wurde ausgeführt, der Kläger habe unterschriftlich akzeptiert,
dass die an die Mieter adressierte Post am Auskunftsschalter der
Geriatrischen Klinik abgegeben und dort während den Öffnungszeiten abgeholt
werden könne. Die Präsidentin verwarf den Einwand des Klägers, dass die
Regelung wegen Doppelvertretung ungültig sei. Zum einen sei in der
vereinbarten blossen Entgegennahme der Sendungen und deren nachträglicher
Aushändigung an den Kläger eine Dienstleistung zu erblicken, welche keine
Gefahr der Benachteiligung des vertretenen Klägers berge. Auch könne nach
herrschender Lehre der Vertretene die Doppelvertretung ausdrücklich oder
stillschweigend gestatten. Zum andern ist nach Auffassung der Präsidentin das
Verhältnis zwischen dem Kläger und der am Auskunftsschalter des Beklagten
tätigen Person als blosses Botenverhältnis zu betrachten. Eine vom Boten
entgegengenommene Erklärung gelte als zugegangen, wenn die Übermittlung an
den Geschäftsherrn nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge erwartet werden
dürfe. Dieser Erwartung entspreche, dass die Mieter täglich ihre Post
abholen. Aus diesen Gründen habe die Frist dem auf die ordentliche
Aushändigung des Entscheides an einen Angestellten des Beklagten folgenden
Tage, dem 2. Oktober 2003, zu laufen begonnen und am 31. Oktober 2003
geendet. Die Klage vom 7. November 2003 sei somit verspätet.

Darüber hinaus befasste sich die Präsidentin der III. Zivilkammer mit dem
Einwand des Klägers, wonach der kündigende Beklagte den Kläger von der
gerichtlichen Anfechtung der Kündigung abgehalten habe. Der Kläger hatte
ausgeführt, der Brief der Schlichtungsstelle sei in dem Buch, in welches die
Angestellten des Beklagten die eingeschriebenen Briefe einzutragen hatten,
unter dem 9. Oktober eingetragen gewesen, obwohl der Eingang des Briefes
bereits unter dem 1. Oktober vermerkt worden sei. Der Kläger habe für das
Datum des 9. Oktober 2003 quittiert. Der Kläger habe wegen dieser groben
Täuschung über den Zeitpunkt des Eingangs der Sendung beim Spital B.________
annehmen können, müssen und dürfen, die Frist sei mit Klageeinreichung vom 7.
November 2003 gewahrt. Die Vorinstanz traf keine Feststellungen über die
Richtigkeit der Behauptung betreffend die im Buch eingetragenen Daten. Sie
ging davon aus, die vom Kläger gestützt darauf beantragte Wiederherstellung
der Frist von Art. 274f Abs. 1 OR komme ohnehin nicht in Frage, weil es sich
dabei um eine bundesrechtliche Verwirkungsfrist handle, auf welche weder die
kantonalen Vorschriften betreffend Wiederherstellung einer Frist noch jene
von Art. 35 OG anwendbar seien.

E.
Der Kläger beantragt dem Bundesgericht mit eidgenössischer Berufung die
Aufhebung des Entscheides des Kantonsgerichts und die Rückweisung der
Angelegenheit zu materieller Beurteilung an das erstinstanzliche Gericht,
eventuell die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Rückweisung der
Angelegenheit zur Ergänzung der Tatsachenfeststellungen an die Vorinstanz.

Der Beklagte schliesst in seiner Berufungsantwort auf Abweisung der Berufung.

Dem Begehren des Klägers um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege im
Sinne von Art. 152 Abs. 1 und 2 OG wurde mit Beschluss vom 15. Juli 2004
entsprochen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Berufung ist gemäss Art. 48 Abs. 1 OG in der Regel erst gegen die
Endentscheide der oberen kantonalen Gerichte zulässig. Der Kläger macht nicht
geltend und es ist auch nicht ersichtlich, dass die Berufung im vorliegenden
Fall ausnahmsweise gegen einen Endentscheid eines unteren Gerichts erhoben
werden kann (vgl. Art. 48 Abs. 2 OG). Damit ist die Berufung unzulässig,
soweit sich die Anträge auch gegen den erstinstanzlichen Entscheid richten.

2.
2.1 Der Kläger rügt, die Vorinstanz habe bundesrechtliche Grundsätze verkannt,
indem sie zu prüfen abgelehnt habe, ob ihm aufgrund seiner Vorbringen die
Klagefrist wiederherzustellen sei. Bei Art. 35 OG, der die Wiederherstellung
versäumter Fristen regle, handle es sich - anders als bei Art. 34 OG über den
Stillstand der Fristen - um einen allgemeinen Grundsatz, der auch auf
bundesrechtliche Fristen wie jene nach Art. 274f Abs. 1 OR zumindest analog
anwendbar sei.

2.2 Die Frage der Zulässigkeit der Wiederherstellung einer Frist nach Art.
274f Abs. 1 OR stellt sich von vornherein nur, sofern die Klage nach Ablauf
der Frist eingereicht wurde. Die Antwort darauf hängt davon ab, wann die
Frist zu laufen begann. Das ist der Fall, sobald die fristauslösende
Zustellung ordnungsgemäss erfolgt ist (Poudret/ Sandoz-Monod, Commentaire de
la loi fédérale d'organisation judiciaire, Band I, N. 1.4 zu Art. 35 OG). Bei
Erledigung des Schlichtungsverfahrens durch einen Entscheid im Sinne von Art.
274e Abs. 2 OR wird der Lauf der dreissigtägigen Frist von Art. 274f Abs. 1
OR durch die Eröffnung des Entscheids ausgelöst (Higi, Zürcher Kommentar, N.
56 zu Art. 274f OR). In welcher Form die Eröffnung zu erfolgen hat, bestimmt
sich grundsätzlich nach kantonalem Prozessrecht (Art. 274 OR). Die Kantone
dürfen aber keine die Anwendung des Bundesrechts hindernden Vorschriften
aufstellen (BGE 120 II 28 E. 4). So wird denn auch die Frage, wann die
dreissigtägige Frist nach Art. 274f Abs. 1 OR zu laufen beginnt und wie sie
zu berechnen ist, vom Bundesrecht beherrscht (BGE 123 III 67 E. 2; 122 III
316 E. 2). Die kantonalen Verfahrensgesetze regeln gewöhnlich nicht
ausdrücklich, in welchem Zeitpunkt eine Gerichtsurkunde als zugestellt gilt.
Entsprechend allgemeiner schweizerischer Rechtsauffassung ist aber im
Normalfall eine Zustellung vollendet, wenn der Adressat die Sendung empfangen
hat. Massgebend für den Beginn von Fristen, die durch die Zustellung einer
Gerichtsurkunde ausgelöst werden, ist nach einem heute in der Schweiz
allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz der Zeitpunkt des Eintreffens im
Machtbereich des Adressaten (BGE 122 III 316 E. 4b S. 320 mit Hinweisen).

2.3 Gemäss dem angefochtenen Urteil hat der Kläger im kantonalen Verfahren
vorgetragen, der Beklagte habe ihn über den Zeitpunkt des Eingangs des
Entscheides getäuscht. Nach den Vorbringen in der kantonalen
Berufungsschrift, auf welche die Vorinstanz hinweist, werden eingeschriebene
Sendungen von den Angestellten des Beklagten in einem speziellen Buch mit
Eingangsdatum eingetragen. Beim Abholen nehmen die Empfänger dieses Datum zur
Kenntnis und quittieren den Empfang der Sendung. Der Kläger habe das Urteil
der Schlichtungsstelle nach dem 9. Oktober 2003 ausgehändigt erhalten und
dabei als Eingangsvermerk das Datum des 9. Oktober 2003 gesehen. Erst nachdem
der Rechtsvertreter des Klägers Einsicht in das Buch gefordert hatte, habe
sich herausgestellt, dass der Brief bereits einmal unter dem 1. Oktober 2003
eingetragen worden sei, was der Kläger nicht habe wissen können.

2.4 Sollte sich diese Sachdarstellung des Klägers, für welche er Beweise
anerboten hat, als zutreffend erweisen, könnte nicht davon ausgegangen
werden, der Entscheid der Schlichtungsstelle sei bereits am 1. Oktober 2003
im Machtbereich des Klägers eingetroffen, wäre doch dazu erforderlich, dass
der Kläger den wahren Zeitpunkt des Zugangs kannte, was die Angestellten des
Beklagten durch das behauptete Verhalten verhindert hätten. Daran ändert
nichts, dass die Angestellten des Beklagten, welche die behaupteten
Machenschaften vornahmen, an sich zur Entgegennahme eingeschriebener
Sendungen für den Kläger befugt waren. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz
war in der besonderen Konstellation ein offenkundiger Interessenkonflikt
gegeben, denn der Arbeitgeber der zur Entgegennahme der Post des Klägers
ermächtigten Personen lag mit diesem im Streit über das Mietverhältnis. Er
hatte im Gegensatz zum Kläger ein Interesse daran, dass der für ihn günstige
Entscheid der Schlichtungsstelle nicht weitergezogen würde, wie der Kläger
zutreffend vorbrachte. Unter diesen besonderen Umständen liefe es dem
Grundsatz von Treu und Glauben zuwider (vgl. BGE 101 II 86 E. 2 S. 88 mit
Hinweisen), das behauptete Verhalten der Angestellten des Beklagten dem
Kläger zuzurechnen. Vielmehr wäre der Kläger, sollten sich seine Angaben
bewahrheiten, so zu stellen, als ob ihm der Entscheid der Schlichtungsbehörde
erst am 9. Oktober 2003 zugestellt worden wäre.

2.5 An diesem Ergebnis vermögen die Vorbringen des Beklagten in der
Berufungsantwort nichts zu ändern. Zwar trifft grundsätzlich zu, dass der
Kläger ab dem 9. Oktober 2003 selbst bei Berechnung der Frist ab dem 1.
Oktober 2003 noch genügend Zeit gehabt hätte, die Klage rechtzeitig
einzureichen. Der Beklagte lässt indes ausser Acht, dass der Kläger so oder
anders für seine Fristberechnung auf eine korrekte Information über den
Zeitpunkt der Zustellung angewiesen war, welche die Angestellten des
Beklagten dem Kläger nach dessen Darstellung vorenthalten haben. Auch dass
der Kläger die Sendung schon vor dem 9. Oktober 2003 hätte am Schalter
abholen können, ist nicht von Bedeutung, da er dazu nicht verpflichtet war.

3.
Die Vorinstanz hat die dargelegten bundesrechtlichen Grundsätze verkannt, als
sie davon absah, den Sachverhalt entsprechend den Vorbringen des Klägers zu
ermitteln. Der angefochtene Entscheid ist deshalb in Gutheissung der Berufung
aufzuheben und die Sache ist zur Ergänzung des Sachverhalts und zu neuer
Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend ist die Gerichtsgebühr dem Beklagten
aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Dieser hat den Kläger für das
bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG). Im
Fall der Uneinbringlichkeit der Parteientschädigung wird diese dem Kläger
zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege von der
Bundesgerichtskasse ausbezahlt (Art. 152 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Berufung wird der Entscheid des Kantonsgerichts St.
Gallen, Präsidentin der III. Zivilkammer, vom 22. April 2004 aufgehoben und
die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und zu neuer Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beklagten auferlegt.

3.
Der Beklagte hat den Kläger für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr.
2'500.-- zu entschädigen. Im Falle der Uneinbringlichkeit der
Parteientschädigung wird diese dem Kläger von der Bundesgerichtskasse
ausbezahlt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen,
Präsidentin der III. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. September 2004

Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:   Der Gerichtsschreiber: