Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.99/2004
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1P.99/2004 /whl

Urteil vom 11. Juni 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Bundesrichter Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Härri.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Rolf Schmid,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, 3. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau.

Strafverfahren; Beweiswürdigung, Willkür, Grundsatz
"in dubio pro reo",

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, 3. Strafkammer,
vom 8. Januar 2004.

Sachverhalt:

A.
Mit Strafbefehl vom 21. Februar 2001 verurteilte das Bezirksamt Baden
X.________ wegen Führens eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand,
Überholens mit Behinderung des Überholten, Nichtbeherrschens des Fahrzeugs,
mehrfacher fahrlässiger Körperverletzung, Führerflucht sowie Vereitelung der
Blutprobe zu 21 Tagen Gefängnis, bedingt bei einer Probezeit von zwei Jahren,
und Fr. 1'200.-- Busse. Es ging von folgendem Sachverhalt aus: X.________ sei
am 6. August 2000, kurz nach Mitternacht, mit seinem Personenwagen in
A.________ auf der Autobahn A1 unterwegs gewesen. Dabei sei er mit einem
anderen Personenwagen zusammengestossen, worauf dieser in die Leitplanke
katapultiert worden sei. Die vier Insassen dieses anderen Wagens seien
verletzt worden. X.________ habe sich von der Unfallstelle entfernt, ohne
sich um den Personen- und Sachschaden zu kümmern.

Gegen den Strafbefehl erhob X.________ Einsprache.

Mit Anklageverfügung vom 12. März 2001 beantragte die Staatsanwaltschaft des
Kantons Aargau dem Bezirksgericht Baden, X.________ gemäss Strafbefehl zu 60
Tagen Gefängnis, bedingt bei einer Probezeit von drei Jahren, und Fr.
1'200.-- Busse zu verurteilen.

Am 10. Dezember 2002 stellte das Bezirksgericht das Verfahren betreffend
Überholen mit Behinderung des Überholten sowie Nichtbeherrschen des
Fahrzeuges zufolge Verjährung ein. Es sprach X.________ vom Vorwurf des
Fahrens in angetrunkenem Zustand frei. Hingegen erkannte es ihn schuldig der
mehrfachen fahrlässigen Körperverletzung, des pflichtwidrigen Verhaltens nach
Unfall sowie der Vereitelung der Blutprobe und bestrafte ihn mit 35 Tagen
Gefängnis, bedingt bei einer Probezeit von drei Jahren, und Fr. 1'200.--
Busse.

Dagegen erhob X.________ Berufung, welche er auf den Schuldspruch der
mehrfachen fahrlässigen Körperverletzung beschränkte. Er machte im
Wesentlichen geltend, der Gutachter halte eine narkoleptische Schlafattacke
für möglich. Nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" sei von diesem möglichen
Sachverhalt auszugehen. Sei X.________ auf der Fahrt von einer
krankheitsbedingten Schlafattacke betroffen worden und habe er somit den
Verkehrsunfall schlafend verursacht, sei sein Bewusstsein vorübergehend so
schwer gestört gewesen, dass er nicht in der Lage gewesen sei, seinem Willen
und seiner Einsicht entsprechend zu handeln. Er sei unzurechnungsfähig im
Sinne von Art. 10 StGB gewesen, weshalb er nicht wegen fahrlässiger
Körperverletzung strafbar sei.

Am 8. Januar 2004 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Berufung ab.

B.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichtes aufzuheben.

C.
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. Die Staatsanwaltschaft
hat sich nicht vernehmen lassen.

D.
Mit Verfügung vom 9. März 2004 hat der Präsident der I. öffentlichrechtlichen
Abteilung der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht habe die Beweise willkürlich
gewürdigt und den Grundsatz "in dubio pro reo" verletzt.

1.1 Das Obergericht begründet sein Urteil im Wesentlichen wie folgt:

Über den Beschwerdeführer habe Prof. Dr. med. Claudio Bassetti, Leiter der
Neurologischen Poliklinik des Universitätsspitals Zürich, am 14. Oktober 2002
ein Gutachten erstellt (act. 68 ff.). Prof. Bassetti führe aus, der
Beschwerdeführer leide mindestens seit 1998 unter einer exzessiven
Tagesschläfrigkeit; die Diagnose einer Narkolepsie (Schlafkrankheit) im
engeren Sinne sei unsicher; es komme auch ein relatives Schlafmanko bei
unregelmässigen Schlafzeiten als Ursache der Tagesschläfrigkeit in Frage; es
sei möglich, dass der Unfall im Rahmen einer Schlafattacke aufgetreten sei.

Das Obergericht legt dar, die vom Gutachter festgestellte Möglichkeit einer
Schlafattacke könne ausgeschlossen werden. Der Beschwerdeführer habe die
Schäden an seinem Wagen inspiziert, nachdem er sich zuvor der Verfolgung
durch einen den Unfall beobachtenden Lenker zu entziehen versucht habe. Zudem
sei er nicht - wie geplant - zu sich nach Hause gefahren, sondern zu einem
Kollegen. Der Beschwerdeführer mache geltend, von der Inspektion der Schäden
nichts zu wissen und sich nicht erklären zu können, weshalb er zu seinem
Kollegen und nicht zu sich nach Hause gefahren sei. Kein Lenker handle aber
derart gezielt, wenn er z.B. unter einer posttraumatischen Belastungsstörung
leide. Auch der Gutachter halte die Hypothese eines automatischen Handelns
als Ursache des Verhaltens nach dem Unfall bzw. der prolongierten Amnesie für
unwahrscheinlich. Damit sei erstellt, dass der Beschwerdeführer mit Bezug auf
seine Bewusstseinslage nach der Kollision gelogen habe. Diese Falschaussage
anerkenne der Beschwerdeführer nun implizit auch dadurch, dass er die
Schuldsprüche des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall sowie der
Vereitelung der Blutprobe im Berufungsverfahren unangefochten habe in
Rechtskraft erwachsen lassen. Mit diesen offensichtlichen Schutzaussagen
würden aber auch die Angaben des Beschwerdeführers zur Bewusstseinslage vor
der Kollision zweifelhaft. Hätte er einen Schlafanfall erlitten, bliebe auch
unerklärlich, weshalb er sich nicht bis unmittelbar vor dem angeblichen
Einschlafen an die Fahrt habe erinnern können. Die Angaben des
Beschwerdeführers seien als unglaubwürdige Schutzbehauptungen zu
qualifizieren. Mangels einer Schlafattacke sei der bezirksgerichtliche
Schuldspruch der mehrfachen fahrlässigen Körperverletzung zu bestätigen.

Das Obergericht bemerkt weiter, selbst wenn der Beschwerdeführer eine
Schlafattacke erlitten haben sollte, wäre ihm die mehrfache fahrlässige
Körperverletzung im Sinne einer fahrlässigen actio libera in causa zur Last
zu legen, da er sich der im Gutachten mindestens als Symptom bestätigten
exzessiven Tagesschläfrigkeit mit pathologischer Einschlafneigung bewusst
gewesen sei und er nach dem Konsum von Alkohol sowie des Medikaments "Efexor"
eine derartige Attacke hätte voraussehen können und müssen. Deshalb hätte er
spät in der Nacht keine Fahrt von B.________ nach C.________ mehr antreten
dürfen.

1.2 Das angefochtene Urteil beruht somit auf einer Haupt- und einer
Eventualbegründung. Es genügt, wenn eine der beiden Begründungen vor der
Verfassung standhält.

1.3 Der Beschwerdeführer bringt (S. 4 Ziff. 3) gegen die Annahme einer
fahrlässigen actio libera in causa einzig vor, wenn das Obergericht ausführe,
er hätte nach dem Konsum von Alkohol sowie des Medikaments "Efexor" eine
Schlafattacke voraussehen können und müssen, missachte es die Feststellungen
des Gutachters.
Soweit der Beschwerdeführer damit eine willkürliche Würdigung des Gutachtens
als Beweismittel rügt, ist das Vorbringen im Verfahren der staatsrechtlichen
Beschwerde zulässig (BGE 106 IV 97 E. 2b, 236 E. 2a).

Nach den Darlegungen im Gutachten (S. 4) gab der Beschwerdeführer an, seit
mindestens 4-5 Jahren unter einer erhöhten Einschlafneigung bzw.
Tagesschläfrigkeit zu leiden; "richtig bewusst" geworden sei ihm dieses
Problem, als er zweimal während seiner beruflichen Tätigkeit als
Lastwagenchauffeur am Steuer eingeschlafen sei und dabei Verkehrsunfälle
verursacht habe; der erste Unfall habe sich im März, der zweite im September
1998 ereignet; das eine Mal sei er morgens um 9 Uhr am Lenkrad eingeschlafen,
das andere Mal abends um 8 Uhr. Der Gutachter führt (S. 8) aus, der vom
Beschwerdeführer angegebene Konsum von Alkohol (ca. 4 dl Rotwein) am Abend
des 5. August 2000 könnte zu einer Schlafattacke beigetragen haben; es sei ja
bekannt, dass Alkohol eine latente Schlafneigung manifest machen könne. Beim
Medikament "Efexor" sei ebenfalls eine verstärkte Einschlafneigung bei bis zu
20 % der behandelten Patienten zu beobachten. Der Gutachter bemerkt (S. 9)
sodann, das Autofahren in der Nacht vom 5. auf den 6. August 2000 nach
Alkoholkonsum unter einer Behandlung mit "Efexor" bei einer zugrunde
liegenden Tagesschläfrigkeit und einer Anamnese von schweren Verkehrsunfällen
in der Vergangenheit (mit entsprechendem befristeten Entzug des
Führerausweises) dürfe beim Beschwerdeführer sicher als eine mit Risiko
belastete Handlung eingestuft werden. Im Lichte dieser Ausführungen beruht es
nicht auf einer offensichtlich unhaltbaren Würdigung des Gutachtens, wenn das
Obergericht angenommen hat, der Beschwerdeführer - der sich seiner erhöhten
Einschlafneigung bewusst war - hätte nach dem Konsum von Alkohol und des
Medikaments "Efexor" eine Schlafattacke voraussehen können und müssen.
Willkür ist zu verneinen. Eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo"
macht der Beschwerdeführer im vorliegenden Zusammenhang nicht geltend.

1.4 Ist die Eventualbegründung danach verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden, kann offen bleiben, wie es sich insoweit mit der Hauptbegründung
verhält. Der Beschwerdeführer hat kein rechtlich geschütztes Interesse an der
Behandlung der entsprechenden Vorbringen.

2.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art.
156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Aargau, 3. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. Juni 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: