Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.735/2004
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1P.735/2004 /ggs

Urteil vom 7. April 2005

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Reeb,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Michael Nonn,

gegen

Y.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Thomas Dufner,
Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8510 Frauenfeld,
Obergericht des Kantons Thurgau, Promenadenstrasse 12, 8500 Frauenfeld.

Strafverfahren; Beweiswürdigung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Thurgau vom 13. Juli 2004.

Sachverhalt:

A.
Die Kommission des Bezirksgerichts Bischofszell verurteilte X.________ am 20.
Februar 2004 wegen Tätlichkeiten im Sinne von Art. 126 StGB zu 10 Tagen
Gefängnis bedingt und verwies die Forderung des Geschädigten Y.________ auf
den Zivilweg. Sie hielt für erwiesen, dass er am 28. Mai 2003, nach 21 Uhr,
im Restaurant "Rothbrücke" in St. Pelagiberg, Y.________ in den
"Schwitzkasten" genommen und ihn mit der Faust mehrmals auf die Stirn
geschlagen hat.

Gegen dieses Urteil erhoben Y.________ Berufung und X.________
Anschlussberufung. Ersterer verlangte eine Verurteilung von X.________ wegen
Körperverletzung, die Feststellung, dass dieser schadenersatzpflichtig sei
und eine Genugtuung von mindestens 2'000 Franken, letzterer einen Freispruch.
Mit Urteil vom 13. Juli 2004 befand das Obergericht des Kantons Thurgau, die
Berufung sei teilweise begründet, die Anschlussberufung unbegründet, und
erkannte:
"1.Der Berufungsbeklagte ist der einfachen Körperverletzung als leichter Fall
schuldig und wird in Anwendung von Art. 123 Ziff. 1 Abs. 2 StGB zu einer
Gefängnisstrafe von drei Wochen unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs
mit einer Probezeit von zwei Jahren verurteilt.

2. a)Es wird festgehalten, dass der Berufungsbeklagte dem Berufungskläger für
die Folgen aus dem Ereignis vom 28. Mai 2003 zu 100 % ersatzpflichtig ist.
b)Der Berufungsbeklagte wird verpflichtet, dem Berufungskläger als Genugtuung
Fr. 500.-- zuzüglich 5 % Zins seit 28. Mai 2003 zu bezahlen.

3.  .. (Gerichtskosten und Parteientschädigung zu Lasten des
Berufungsbeklagten)

4. .. (Mitteilungen)"

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 15. Dezember 2004 wegen willkürlicher
Beweiswürdigung und Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" beantragt
X.________, dieses Urteil des Obergerichts aufzuheben. Ausserdem ersucht er,
der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

C.
Mit Verfügung vom 28. Januar 2005 erkannte der Präsident der I.
öffentlichrechtlichen Abteilung der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu.

D.
Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Das Obergericht
äussert sich zu verschiedenen Punkten der Beschwerde, ohne einen Antrag zu
stellen. Y.________ beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Beim angefochtenen Entscheid des Obergerichts handelt es sich um einen
letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der
Beschwerdeführer ist durch die strafrechtliche Verurteilung in seinen
rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), weshalb er befugt ist,
die Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu rügen. Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde einzutreten ist.

1.2 Die staatsrechtliche Beschwerde ermöglicht indessen keine Fortsetzung des
kantonalen Verfahrens. Das Bundesgericht prüft in diesem Verfahren nur in der
Beschwerdeschrift erhobene, detailliert begründete und soweit möglich belegte
Rügen. Der Beschwerdeführer muss den wesentlichen Sachverhalt darlegen, die
als verletzt gerügten Verfassungsbestimmungen nennen und überdies dartun,
inwiefern diese verletzt sein sollen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 127 I 38
E. 3c; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c). Soweit im Folgenden auf Ausführungen
in der Beschwerde nicht eingegangen wird, genügen sie diesen Anforderungen
nicht.

2.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Willkürverbotes (Art. 9 BV)
sowie des in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten
Grundsatzes "in dubio pro reo".

2.1 Art. 9 BV gewährleistet den Anspruch darauf, von den staatlichen Organen
ohne Willkür behandelt zu werden. Auf dem Gebiet der Beweiswürdigung steht
den kantonalen Instanzen ein weiter Ermessensspielraum zu. Willkür in der
Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen
ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen
oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dabei genügt es nicht, wenn sich
der angefochtene Entscheid lediglich in der Begründung als unhaltbar erweist;
eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis
verfassungswidrig ist (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; 124 IV 86 E. 2a S. 88, je
mit Hinweisen).

2.2
2.2.1Aus der in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten
Unschuldsvermutung wird die Rechtsregel "in dubio pro reo" abgeleitet (vgl.
dazu BGE 127 I 38 E. 2a S. 41 f.; 124 IV 86 E. 2a S. 88; 120 Ia 31 E. 2c und
d S. 36). Diese bedeutet als Beweislastregel, dass es Sache des Staates ist,
die Schuld des Angeklagten zu beweisen, und nicht dieser seine Unschuld
nachweisen muss. Der Grundsatz "in dubio pro reo" ist verletzt, wenn der
Strafrichter einen Angeklagten (einzig) mit der Begründung verurteilt, er
habe seine Unschuld nicht nachgewiesen. Ebenso ist die Maxime verletzt, wenn
sich aus den Urteilserwägungen ergibt, dass der Strafrichter von der falschen
Meinung ausging, der Angeklagte habe seine Unschuld zu beweisen, und dass er
ihn verurteilte, weil ihm dieser Beweis misslang.

2.2.2 Als Beweiswürdigungsregel besagt der Grundsatz "in dubio pro reo", dass
sich der Strafrichter nicht von einem für den Angeklagten ungünstigen
Sachverhalt überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel
bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat (vgl. BGE 127 I 38 E.
2a mit Hinweisen). Die Maxime ist verletzt, wenn der Strafrichter an der
Schuld des Angeklagten hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und
theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und
absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Es muss sich um erhebliche
und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln, d.h. um solche, die sich nach
der objektiven Sachlage aufdrängen. Bei der Frage, ob angesichts des
willkürfreien Beweisergebnisses erhebliche und nicht zu unterdrückende
Zweifel hätten bejaht werden müssen und sich der Sachrichter vom für den
Angeklagten ungünstigen Sachverhalt nicht hätte überzeugt erklären dürfen,
greift das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung ein, da der Sachrichter diese
in Anwendung des Unmittelbarkeitsprinzips zuverlässiger beantworten kann.

2.2.3 Der Beschwerdeführer macht geltend, die obergerichtliche Argumentation
sei "als sachlich unrichtig, an unauflösbaren inneren Widersprüchen leidend,
in stossender Art und Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufend und
daher willkürlich im Sinne von Art. 9 BV zu qualifizieren" (Beschwerde S.
17); dadurch habe das Obergericht (auch) gegen den Grundsatz "in dubio pro
reo" in seiner Funktion als Beweislastregel verstossen.

Mit einer solchen Argumentation kritisiert der Beschwerdeführer indessen nach
dem in E. 2.2.1 und 2.2.2 Dargelegten einzig die Beweiswürdigung, nicht die
Beweislastverteilung. Es ist daher allein zu prüfen, ob das Obergericht den
Grundsatz "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel verletzt hat.

3.
Unbestritten ist, dass sich der Beschwerdeführer am 28. Mai 2003 ab circa 18
Uhr im Restaurant "Rothbrücke" in St. Pelagiberg aufhielt und am Stammtisch
zunächst Apfelwein und dann Weisswein trank. Um circa 20:30 Uhr stiess auch
der gehbehinderte Beschwerdegegner zum Stammtisch, trank eine Stange Bier und
wollte das Lokal um circa 21 Uhr wieder verlassen.

3.1 Nach der Überzeugung des Obergerichts geschah dann Folgendes: Der
Beschwerdeführer folgte dem Beschwerdegegner und hinderte ihn am Verlassen
des Lokals. Er sprach ihn auf eine alte Schuld an, doch der Beschwerdegegner
wollte sich nicht auf eine Diskussion einlassen und versuchte, an ihm vorbei
zur Tür zu gehen. Darauf hin nahm ihn der Beschwerdeführer mit dem rechten
Arm in den "Schwitzkasten" und schlug ihm mit der linken Faust mehrmals gegen
den Kopf, was zu einer blutenden Rissquetschwunde an der Stirn sowie zu
Hämatomen rechts und links oberhalb der Augenbraue führte. Z.________, der
als Gast im Restaurant weilte, wurde auf die Auseinandersetzung aufmerksam.
Er griff ein und hielt den Beschwerdeführer von hinten fest, worauf der
Beschwerdegegner das Lokal verliess (angefochtenes Urteil E. 3 S. 6 ff.,
Zusammenfassung E. 3 d/ee S. 14).

3.2 Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, geht teils an der Sache
vorbei. Dies gilt etwa für seine Kritik, soweit sie sich nicht gegen das
angefochtene Urteil, sondern dasjenige der ersten Instanz oder das Verhalten
der Staatsanwaltschaft richtet (Art. 86 Abs. 1 OG). Teils erschöpfen sich die
Rügen in weitschweifiger appellatorischer Kritik an der obergerichtlichen
Beweiswürdigung, indem sich der Beschwerdeführer im Wesentlichen darauf
beschränkt, seine Sicht der Dinge darzulegen und den Nachweis schuldig
bleibt, inwiefern die obergerichtlichen Schlussfolgerungen willkürlich sein
sollen:
Nach seiner Darstellung hat der Beschwerdeführer den Beschwerdegegner vor dem
Ausgang des Restaurants auf eine ältere, seiner Ansicht nach offene
Geldschuld angesprochen. Dieser habe ihn daraufhin aus dem Weg schieben
wollen, um das Restaurant zu verlassen, worauf sie sich im Sinne einer
Rangelei gegenseitig an den Armen festgehalten hätten. Er sei dann von einem
anderen Gast festgehalten worden, worauf der Beschwerdegegner das Lokal
verlassen habe und er selber in den Schankraum zurückgekehrt sei.

Der Beschwerdeführer anerkennt damit den äusseren Ablauf des Kerngeschehens,
wie ihn das Obergericht annimmt, und bestreitet nur, dass er dem
Beschwerdegegner mehrmals die linke Faust ins Gesicht schlug und ihm dadurch
eine Rissquetschwunde und Hämatome zufügte. Fest steht indessen, und der
Beschwerdeführer bestreitet dies nicht oder jedenfalls nicht in einer den
gesetzlichen Anforderungen genügenden Weise, dass der Beschwerdegegner, als
er den Stammtisch verliess, keine Verletzungen im Gesicht aufwies. Als die
Polizei um 21:18 Uhr am Tatort eintraf, war er, wie die Beamten fotografisch
festhielten, unzweifelhaft am Gesicht verletzt. Nach der Aussage des Zeugen
Z.________, der die Streitenden trennte, indem er den Beschwerdeführer von
hinten umklammerte, hatte der Beschwerdegegner in diesem Moment eine "rote
Stirn" bzw. einen "Chratz am Grind"; Genaueres habe er nicht gesehen, da er
sich um den Beschwerdeführer gekümmert habe. Diese Beschreibung des Zeugen
passt ohne weiteres auf die offene Wunde an der Stirn des Beschwerdegegners.
Das Obergericht konnte unter diesen Umständen ohne Willkür annehmen, die bei
diesem festgestellten Verletzungen seien auf Faustschläge des
Beschwerdeführers zurückzuführen und andere Ursachen, wie einen Zusammenprall
mit der Türkante beim Verlassen des Lokals oder eine Selbstverstümmelung,
ausschliessen. Dieser Schluss verletzt weder das Willkürverbot noch den
Grundsatz "in dubio pro reo", die Rüge ist offensichtlich unbegründet.

4.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art.
156 OG). Ausserdem hat er dem Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Der Beschwerdeführer hat dem Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. April 2005

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: