Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.720/2004
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1P.720/2004 /ggs

Urteil vom 11. Mai 2005

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Störi.

Ehepaar X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. David
Brunner,

gegen

10 Beamte der Kantonspolizei St. Gallen,
Y.________,
Beschwerdegegner,
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Uznach,
Grynaustrasse 3, 8730 Uznach,
Anklagekammer des Kantons St. Gallen, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.

Art. 9, Art. 10 Abs. 2, Art. 13, 26, Art. 29 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1 BV, Art.
5, 8 und 13 EMRK (Eröffnung eines Strafverfahrens),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 16. September 2004.
Sachverhalt:

A.
Das Ehepaar X.________ reichte am 27. Juli 2004 gegen 10 Beamte der
Kantonspolizei St. Gallen (Oblt A.________, Wm B.________, Wm C.________, Kpl
D.________, Kpl E.________, Kpl F.________, Pm G.________, Pb H.________, Pm
I.________, Wm J.________) sowie gegen den Gemeindepräsidenten von Weesen,
Y.________, Strafklage wegen Begünstigung, Hausfriedensbruchs,
Freiheitsberaubung, Sachbeschädigung, Amtsmissbrauchs und Tierquälerei ein.
Diese Vorwürfe begründeten sie mit folgenden drei Vorfällen:
Am 12. Juli 2002 habe er (XA.________) die Polizei gerufen, da sein Nachbar,
K.________, in ihren Garten eingedrungen sei und dort den Ast eines Baumes
abgeschnitten habe. Er habe gegenüber Wm J.________, der auf seinen Anruf
gekommen sei, gegen seinen Nachbarn Strafanzeige wegen Hausfriedensbruchs und
Sachbeschädigung erhoben. Er habe dann festgestellt, dass dieser Vorgang
nicht rapportiert worden sei. Oblt A.________ habe ihm mitgeteilt, dass Wm
J.________ den Vorfall in Absprache mit ihm nicht rapportiert habe. Durch
dieses Vorgehen hätten die Beiden versucht, seinen Nachbarn der
Strafverfolgung zu entziehen.
Am 27. Juli 2002 seien einige Mitglieder der Musikgesellschaft L.________ im
benachbarten Restaurant M.________ eingekehrt. Um die Mittagszeit hätten sie
einen Tisch und Stühle aus der Gartenwirtschaft hinausgetragen und auf die
Verkehrsinsel gestellt. Statt für Ruhe und Ordnung und Sicherheit zu sorgen
habe sie der Wirt, K.________, dort weiter bewirtet, wodurch die Sonntagsruhe
gestört und die Verkehrssicherheit gefährdet worden sei. Um 16 Uhr hätten sie
über die kantonale Notrufzentrale die Polizei alarmiert, welche indessen erst
um 19:35 Uhr vor Ort erschienen sei; kurz zuvor habe die Gesellschaft auf
Intervention des damaligen Gemeindepräsidenten die Verkehrsinsel geräumt
gehabt. Sie hätten ausdrücklich Strafanzeige wegen Widerhandlung gegen das
Gastwirtschaftsgesetz und das Strassenverkehrsgesetz sowie wegen Ruhestörung
erhoben. Die Beamten hätten deren Aufnahme verweigert, weshalb gegen sie eine
Strafuntersuchung wegen Begünstigung eröffnet werden müsse.
Am 28. April 2004 soll XA.________ nach den Angaben der Sekretärin der Chefin
des kantonalen Justiz- und Polizeidepartementes, N.________, angerufen und,
nachdem sie ihm ein Telefongespräch mit Regierungsrätin O.________ verwehrt
habe, die Drohung ausgestossen haben, dass er dieser denselben Schaden
zufügen werde, wie er ihn erlitten habe, und dass es Tote geben würde, wie in
Escholzmatt. N.________ reichte gegen XA.________ Strafanzeige ein wegen
Drohung, worauf das Untersuchungsamt Flums eine Strafuntersuchung gegen
XA.________ eröffnete. Es liess ihn gleichentags verhaften und sein Haus nach
Waffen durchsuchen. Dabei sei die Kantonspolizei, der an sich bekannt gewesen
sei, dass er (XA.________) harmlos sei, mit einem achtköpfigen
Überfallkommando angerückt und habe ihn mit Handschellen gefesselt und
abgeführt. Daraufhin habe man offenbar im Beisein des Gemeindepräsidenten von
Weesen sein Haus durchsucht, wobei sie offensichtlich zunächst den Hund
betäubt hätten. Dadurch hätten die an dieser Aktion Beteiligten
Tätlichkeiten, Freiheitsberaubung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch und
Tierquälerei begangen.
Am 3. August 2004 überwies die Staatsanwaltschaft die Strafklage des Ehepaars
X.________ der Anklagekammer des Kantons St. Gallen zur Durchführung eines
Ermächtigungsverfahrens.

Die Anklagekammer holte bei Y.________ und der Kantonspolizei
Vernehmlassungen ein und entschied am 16. September 2004, es werde kein
Strafverfahren eröffnet.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 8. Dezember 2004 wegen Willkür und
Verletzung des rechtlichen Gehörs beantragt das Ehepaar X.________, diesen
Entscheid der Anklagekammer aufzuheben.

Y. ________ verzichtet auf Vernehmlassung. Das Kommando der Kantonspolizei
St. Gallen verzichtet in Vertretung und nach Rücksprache mit den betroffenen
Beamten auf Vernehmlassung. Die Anklagekammer beantragt, die Beschwerde
abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Nach ständiger Praxis des Bundesgerichts ist der durch eine angeblich
strafbare Handlung Geschädigte grundsätzlich nicht legitimiert, gegen die
Einstellung des Strafverfahrens oder gegen ein den Angeschuldigten
freisprechendes Urteil staatsrechtliche Beschwerde zu erheben. Der
Geschädigte hat an der Verfolgung und Bestrafung des Angeschuldigten nur ein
tatsächliches oder mittelbares Interesse im Sinne der Rechtsprechung zu Art.
88 OG. Der Strafanspruch, um den es im Strafverfahren geht, steht
ausschliesslich dem Staat zu, und zwar unabhängig davon, ob der Geschädigte
als Privatstrafkläger auftritt oder die eingeklagte Handlung auf seinen
Antrag hin verfolgt wird (BGE 128 I 218 E. 1.1 mit Hinweisen). Unbekümmert um
die fehlende Legitimation in der Sache selbst ist der Geschädigte aber
befugt, mit staatsrechtlicher Beschwerde die Verletzung von Verfahrensrechten
geltend zu machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung
darstellt. Das nach Art. 88 OG erforderliche rechtlich geschützte Interesse
ergibt sich diesfalls nicht aus einer Berechtigung in der Sache, sondern aus
der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen. Ist der Beschwerdeführer in
diesem Sinne nach kantonalem Recht Partei, kann er die Verletzung jener
Parteirechte rügen, die ihm nach dem kantonalen Verfahrensrecht oder
unmittelbar aufgrund der Bundesverfassung zustehen. Der in der Sache selbst
nicht Legitimierte, dem im kantonalen Verfahren jedoch Parteistellung zukam,
kann beispielsweise geltend machen, er sei nicht angehört worden (BGE 128 I
218 E. 1.1; 120 Ia 157 E. 2a/aa und bb). Soweit der Geschädigte indes Opfer
im Sinne von Art. 2 Abs. 1 OHG ist, steht ihm eine auf materiellrechtliche
Fragen erweiterte Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde zu, wenn er
sich bereits vorher am Verfahren beteiligt hat und soweit der Entscheid seine
Zivilansprüche betrifft oder sich auf deren Beurteilung auswirken kann (Art.
8 Abs. 1 lit. c OHG; BGE ; 128 I 218 E. 1.1; 120 Ia 101 E. 2a, 157 E. 2c).

1.2 Die Beschwerdeführer haben gegen die Beschwerdegegner Strafklage erhoben
und waren damit nach Art. 42 Abs. 1 des St. Galler Strafprozessgesetzes vom
1. Juli 1999 (StP) befugt, im Strafverfahren Parteirechte auszuüben. Dies
gilt jedenfalls für das Untersuchungs- und das Gerichtsverfahren (Niklaus
Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, Bern 1994, S. 186, zu Art. 35
aStP). Fraglich könnte höchstens sein, ob die Strafkläger auch an dem
vorgelagerten Ermittlungs- oder hier Ermächtigungsverfahren, in dem
entschieden wird, ob ein Strafverfahren eröffnet wird, als Partei teilnahmen.
Davon geht die Anklagekammer offensichtlich aus. Auf dem Deckblatt des
angefochtenen Entscheids wird das Ermächtigungsverfahren jedenfalls als
Zweiparteienverfahren "Strafkläger" gegen "Angezeigte" geführt, und die
Beschwerdeführer erhielten diesen als Gerichtsurkunde zugestellt, was darauf
schliessen lässt, dass sie die Anklagekammer als Partei betrachtete. Vor
allem aber bezeichnet die Anklagekammer in ihrem Entscheid GVP 1988 Nr. 74,
auf den sie ausdrücklich verweist mit dem Hinweis, die Regeln des
Ermittlungsverfahrens gälten analog auch für das Ermächtigungsverfahren, die
Verfahrensbeteiligten als Parteien. Da die Auslegung des kantonalen
Strafprozessrechts, soweit sie dafür zuständig ist, in erster Linie Sache der
Anklagekammer ist, ist somit mit ihr davon auszugehen, dass die
Beschwerdeführer als Strafkläger im kantonalen Ermächtigungsverfahren
Parteistellung hatten.

2.
Die Beschwerdeführer rügen, die Anklagekammer habe ihren Anspruch auf
rechtliches Gehör verletzt, indem sie das Verfahren nach Eingang der
Vernehmlassungen der Angezeigten abgeschlossen und entschieden habe, ohne
ihnen diese zuvor zugestellt und ihnen Gelegenheit gegeben zu haben, sich zu
den "unhaltbaren Verharmlosungen" und den "tatsachenwidrigen Vorbringen" der
Kantonspolizei zu äussern.

2.1 Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör bemisst sich in erster
Linie nach kantonalem Recht, subsidiär nach den aus Art. 29 Abs. 1 und 2 BV
und Art. 6 Ziff. 1 EMRK abgeleiteten Mindestgarantien (BGE 121 I 225 E. 2a;
119 Ia 136 E. 2c S. 138, mit Hinweisen). Die Beschwerdeführer machen nicht
geltend, das kantonale Recht gewähre einen über die bundesverfassungs- bzw.
konventionsrechtlichen Garantien hinausgehenden Anspruch auf Akteneinsicht.

Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK - worauf sich die Beschwerdeführer ohne weiteres
berufen können, da sie mit ihrer Strafklage insbesondere auch zivilrechtliche
Entschädigungsansprüche geltend machen dürfen - und Art. 29 Abs.1 und 2 BV
hat jede Verfahrenspartei grundsätzlich Anspruch, von allen dem Gericht
eingereichten Beweisen und Eingaben Kenntnis zu erhalten (BGE 129 I 249 E. 3
S. 253; 122 I 153 E. 6a S. 161). Nach einer eher beiläufigen Bemerkung des
EGMR (Urteil Nr. 33499/96 vom 21. Februar 2002 i.S. Ziegler gegen Schweiz,
in: VPB 2002 Nr. 113 S. 1307, § 33 S. 1314) hat sie zudem einen unbedingten
Anspruch, sich dazu zu äussern. Bestünde indessen tatsächlich ein unbedingter
Anspruch jeder Verfahrenspartei, sich zu jeder Eingabe der Gegenpartei zu
äussern, könnte ein Verfahren gar nie abgeschlossen werden, es sei denn, eine
Partei würde - vielleicht nach dem x-ten Schriftenwechsel - auf ihr Recht,
sich zur letzten Eingabe der Gegenpartei zu äussern, ausdrücklich verzichten.
Der Anspruch kann daher vernünftigerweise nur in Bezug auf Eingaben gelten,
die geeignet sind, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen.

2.2 Im vorliegenden Fall haben die Beschwerdeführer in ihrer Strafklage den
Angezeigten klarerweise strafbares Verhalten unterstellt bzw. verschiedene
Vorfälle in einer Weise dargestellt, die auf ein strafbares Verhalten der
Angezeigten schliessen lassen bzw. es jedenfalls nicht erlauben, ein solches
ohne weitere Ermittlungen auszuschliessen. Dies müsste nach den Ausführungen
der Anklagekammer im Entscheid GVP 1988 Nr. 74, auf den sie verweist, zur
Eröffnung eines Untersuchungsverfahrens führen. Die Beschwerdegegner haben in
ihren Vernehmlassungen dieser Darstellung der Ereignisse in den erheblichen
Punkten widersprochen und vehement verneint, sich in irgend einer Weise
strafbar gemacht zu haben. Der angefochtene Entscheid, mit welchem die
Anklagekammer die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen die Beschwerdegegner
ablehnt, beruht wesentlich auf deren Sachverhaltsdarstellung. Diese
Vernehmlassungen waren daher für den Ausgang des Ermächtigungsverfahrens
klarerweise erheblich, weshalb die Anklagekammer nach dem in E. 2.1.
dargelegten den Beschwerdeführern hätte Gelegenheit einräumen müssen, dazu
Stellung nehmen. Die Anklagekammer hat diese Vernehmlassungen den
Beschwerdeführern nicht zugestellt und ihnen keine Gelegenheit gegeben, sich
dazu zu äussern. Damit hat sie deren rechtliches Gehör verletzt, die Rüge ist
begründet.

3.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben, ohne dass die weiteren Rügen zu prüfen wären. Bei diesem Ausgang
des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 OG). Hingegen hat der
Kanton St. Gallen den Beschwerdeführern für das bundesgerichtliche Verfahren
eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid der
Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 16. September 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton St. Gallen hat den Beschwerdeführern für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft, Untersuchungsamt
Uznach, und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 11. Mai 2005

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: