Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.716/2004
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1P.716/2004 /gij

Urteil vom 22. Dezember 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Bundesrichter Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Jans,

gegen

Kreisgericht St. Gallen, Haftrichterin, Bohl 1, Postfach, 9004 St. Gallen,
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt St. Gallen,
Spisergasse 15, 9001 St. Gallen,
Anklagekammer des Kantons St. Gallen, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.

Fortsetzung der Untersuchungshaft,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid
der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom

26. Oktober 2004.

Sachverhalt:

A.
Das Untersuchungsamt des Kantons St. Gallen führt gegen X.________ eine
Strafuntersuchung wegen Betäubungsmittelhandels. Es verdächtigt ihn, im Raum
St. Gallen während circa 1 ½ Jahren mit mindestens einem Kilogramm Kokain
gehandelt und seine Ehefrau beauftragt zu haben, im Juni 2004 ein Kilogramm
Kokain von Brasilien in die Schweiz einzuführen. X.________ wurde am 25. Juni
2004 festgenommen und tags darauf vom Haftrichter des Kreisgerichts
Untertoggenburg-Gossau in Untersuchungshaft versetzt. Am 10. September 2004
reichte X.________ beim Untersuchungsrichter ein Haftentlassungsgesuch ein.
Dieser hielt an der Untersuchungshaft fest und leitete das
Haftentlassungsgesuch an die zuständige Haftrichterin weiter, wobei er
gleichzeitig beantragte, die Untersuchungshaft bis zum 10. Dezember 2004 zu
verlängern.

Am 21. September 2004 wies die Haftrichterin das Gesuch um Haftentlassung ab
und verlängerte die Haft vorläufig bis zum 24. November 2004.

Am 11. Oktober 2004 reichte X.________ bei der Anklagekammer des Kantons St.
Gallen eine Rechtsverweigerungsbeschwerde ein mit dem Antrag, den
Haftentscheid vom 21. September 2004 aufzuheben und ihn aus der
Untersuchungshaft zu entlassen.

Die Anklagekammer wies die Beschwerde am 26. Oktober 2004 ab, soweit sie
darauf eintrat (Dispositiv-Ziffer 1), auferlegte dem Beschwerdeführer die
Entscheidgebühr sowie die Kosten der amtlichen Verteidigung
(Dispositiv-Ziffer 2) und entschädigte den Rechtsvertreter des
Beschwerdeführers aus der Staatskasse (Dispositiv-Ziffer 3).

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung "der durch Art. 2 BV
garantierten persönlichen Freiheit" beantragt X.________, Dispositiv-Ziffern
1 und 2 dieses Entscheids der Anklagekammer aufzuheben und ihn unverzüglich
aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

Die Haftrichterin, der Untersuchungsrichter und die Anklagekammer verzichten
auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der kantonal letztinstanzliche Entscheid der Anklagekammer erging auf eine
Rechtsverweigerungsbeschwerde hin, mit welcher, nebst Rechtsverweigerung und
-verzögerung sowie Amtsmissbrauch, einzig Willkür gerügt werden kann (Art.
254 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons St. Gallen vom 1. Juli 1999;
StPO). Eine solche Willkürrüge brachte der Beschwerdeführer allerdings nicht
vor, sondern machte bloss geltend, die Haftrichterin habe zu Unrecht
Fluchtgefahr angenommen. Damit rügte er sinngemäss, die Voraussetzungen für
die Fortsetzung der Untersuchungshaft seien nicht mehr gegeben, weshalb ihre
Fortsetzung mit der in Art. 10 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 1 BV garantierten
persönlichen Freiheit unvereinbar sei. Die Anklagekammer prüfte diese Rüge
auch frei (angefochtener Entscheid E. 5). Unter diesen Umständen steht einem
Eintreten auf die gleiche Rüge, es bestehe keine Fluchtgefahr, unter dem
Gesichtspunkt der Letztinstanzlichkeit nichts entgegen. Da diese und die
übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde,
unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE
127 I 38 E. 3c; 125 I 492 E. 1b), einzutreten.

1.1 Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Aufrechterhaltung von
Untersuchungshaft kann, ausser der Aufhebung des angefochtenen Entscheids,
auch die sofortige Entlassung aus der Haft verlangt werden (BGE 115 Ia 293 E.
1a). Der entsprechende Antrag des Beschwerdeführers ist daher zulässig.

1.2 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit gegen die
Aufrechterhaltung von Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht die
Auslegung und die Anwendung des kantonalen Rechts grundsätzlich frei (BGE 117
Ia 72 E. 1; 114 Ia 281 E. 3)

2.
Nach Art. 113 StPO kann der Angeschuldigte verhaftet werden, wenn er eines
Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthafte
Anhaltspunkte dafür bestehen, dass er sich dem Strafverfahren durch Flucht
entziehen könnte. Ist neben dem allgemeinen Haftgrund des dringenden
Tatverdachts der besondere der Fluchtgefahr gegeben, steht der Anordnung von
Untersuchungshaft grundsätzlich auch unter dem Gesichtspunkt der persönlichen
Freiheit von Art. 10 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 1 BV nichts entgegen. Dass der
Beschwerdeführer dieses Grundrecht im Zweckartikel Art. 2 BV verortet, ist
zwar unverständlich, schadet ihm aber nicht.

2.1 Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, mit einem Kilogramm Kokain
gehandelt und die Einfuhr eines weiteren Kilogramms in Auftrag gegeben zu
haben. Er bestreitet nicht, dass er dieser Taten dringend verdächtig ist,
macht aber geltend, die Vorwürfe seien in Bezug auf die Rauschgiftmengen
übertrieben. Dies ändert nichts daran, dass der allgemeine Haftgrund des
dringenden Tatverdachts gegeben ist.

2.2 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts genügt die Höhe der zu
erwartenden Freiheitsstrafe für sich allein nicht für die Annahme von
Fluchtgefahr. Eine solche darf nicht schon angenommen werden, wenn die
Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete
Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als
wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe
kann immer nur neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen
herangezogen werden (BGE 125 I 60 E. 2a; 117 Ia 69 E. 4a; 108 Ia 64 E. 3; 107
Ia 3 E. 6).

2.3 Der Beschwerdeführer muss nach der zutreffenden Einschätzung der
Anklagekammer im Fall eines Schuldspruchs in allen Punkten mit einer
empfindlichen, unbedingten Gefängnisstrafe rechnen, selbst wenn er "nur" die
Einfuhr von 700 g Kokain in Auftrag gegeben haben und auch die von ihm
gehandelte Rauschgiftmenge unter einem Kilogramm liegen sollte. Mit einer
solchen Strafe wäre das weitere Fortkommen des als Asylbewerber eingereisten
nigerianischen Beschwerdeführers in der Schweiz erheblich kompromittiert;
nach Auskunft des Ausländeramtes des Justiz- und Polizeidepartementes des
Kantons St. Gallen müsste er jedenfalls bei einer Verurteilung zu einer 24
Monate übersteigenden Gefängnisstrafe mit einer Nichtverlängerung der
Aufenthaltsbewilligung rechnen. Der Beschwerdeführer hat zwar eine
Schweizerin - seine Komplizin, die das Rauschgift in die Schweiz einführte -
geheiratet, und diese erwartet ein Kind von ihm. Die Einschätzung der
Anklagekammer, der Beschwerdeführer, der hier keine weiteren ersichtlichen
Wurzeln hat und auch der Landessprache nicht mächtig ist, werde dadurch nicht
von einer Flucht abgehalten, ist indessen nicht zu beanstanden, da es nicht
ausgeschlossen erscheint, dass die Ehefrau nach Verbüssung einer allfälligen
Freiheitsstrafe einen regelmässigen Kontakt zu ihrem geflüchteten Gatten
ausserhalb der Schweiz aufrechterhalten oder diesem gar ins Ausland
nachfolgen könnte. Ihre Schwangerschaft hielt sie, wie die Anklagekammer
zutreffend anführt, auch nicht davon ab, Drogen von Brasilien in die Schweiz
zu transportieren. Die Rüge, es bestehe keine Fluchtgefahr, ist
offensichtlich unbegründet.

3.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Damit wird der Beschwerdeführer
kostenpflichtig (Art. 156 OG). Er hat zwar ein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches indessen abgewiesen werden
muss, da die Beschwerde aussichtslos war (Art. 152 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
2.1 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
abgewiesen.

2.2 Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer
auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Kreisgericht St. Gallen,
Haftrichterin, sowie der Staatsanwaltschaft, Untersuchungsamt St. Gallen, und
der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. Dezember 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: