Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.709/2004
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1P.709/2004 /ggs

Urteil vom 15. April 2005

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Nay,
Gerichtsschreiber Pfisterer.

Evangelische Kirchgemeinde Zizers, 7205 Zizers,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Andrin Perl,

gegen

Baugesellschaft "Am Schlossweg", bestehend aus:
X.________,
Y.________,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Christian Schreiber,
Gemeinde Zizers, 7205 Zizers, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Reto Marugg,
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 4. Kammer, Obere Plessurstrasse 1,
7001 Chur.

Art. 9 und 29 BV (Baueinsprache),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Graubünden, 4. Kammer, vom 26. Oktober 2004.
Sachverhalt:

A.
Die Baugesellschaft "Am Schlossweg", bestehend aus X.________ und Y.________
(nachfolgend Baugesellschaft), plant die Erstellung von zwei
Mehrfamilienhäusern A + B mit Einstellhalle auf der in der Gemeinde Zizers
gelegenen Parzelle Nr. 1548 (Stöcklistrasse). Innert Frist erhob unter
anderem die Evangelische Kirchgemeinde Zizers (nachfolgend Kirchgemeinde)
Einsprache gegen das Vorhaben. Sie machte insbesondere geltend, die
Bauvorhaben verletzten die Vorschriften über die Gebäudehöhe sowie über die
Gebäude- und Grenzabstände. Zudem werde das Ortsbild beeinträchtigt. Zur
Unterstützung ihrer Ansicht reichte die Kirchgemeinde eine Stellungnahme der
kantonalen Denkmalpflege vom 19. April 2002 ein.

Die Gemeinde Zizers (nachfolgend Gemeinde) hiess die Einsprache der
Kirchgemeinde am 26. Juni 2003 teilweise gut, soweit sie darauf eintrat und
diese nicht gegenstandslos geworden war. Auf das Argument der Verletzung der
Bestimmungen über den Ortsbildschutz trat sie nicht ein. Sie führte u. a.
aus, das Verwaltungsgericht habe in einem Urteil vom 27. November 2001
festgestellt, die beiden Bauvorhaben hielten die in der Kernzone geltenden
Bauvorschriften gemäss Art. 45 BG ein. Die Gemeinde erteilte daraufhin der
Baugesellschaft die Baubewilligung.

Die Kirchgemeinde und ein weiterer Rekurrent erhoben gegen diesen Entscheid
am 25. Juli 2003 Rekurs beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Das
Verwaltungsgericht hiess den Rekurs am 11. Dezember 2003 gut und hob die
Baubewilligung auf, soweit damit die Balkone von Haus A gegenüber der
Parzelle Nr. 433 bewilligt worden waren. Im Übrigen wies es den Rekurs ab. Es
verneinte eine Verletzung der Bestimmungen über den Orts- und
Landschaftsbildschutz und erkannte, die Grenz- und
Gebäudeabstandsvorschriften seien eingehalten, mit Ausnahme der erwähnten
Balkone von Haus A.

Die Evangelische Kirchgemeinde Zizers führte mit Eingabe vom 11. März 2004
staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts. Sie
machte nach wie vor geltend, die Bauvorhaben seien mit den Bestimmungen über
den Orts- und Landschaftsbildschutz nicht vereinbar. Die Realisierung des
Bauvorhabens habe sehr bedeutende materielle und ideelle nachteilige
Auswirkungen auf ihr Kirchengebäude. Dies habe sie mit einer Stellungnahme
der kantonalen Denkmalpflege untermauert. Auf den Antrag, allenfalls eine
Expertise bei der Denkmalpflege einzuholen, sei das Verwaltungsgericht nicht
eingegangen. Dadurch habe es ihr rechtliches Gehör verletzt.

Das Bundesgericht hiess die staatsrechtliche Beschwerde am 14. September 2004
wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs gut und hob den Entscheid des
Verwaltungsgerichts vom 11. Dezember 2003 auf (Urteil 1P.165/2004).

B.
Das Verwaltungsgericht nahm das Verfahren daraufhin wieder auf und bestätigte
am 26. Oktober 2004 seinen Entscheid vom 11. Dezember 2003. Es bejahte erneut
die Verletzung des Grenzabstandes durch die Balkone des Hauses A gegenüber
der Parzelle Nr. 433. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens lehnte
es hingegen ab, u. a. weil es daraus keine entscheidrelevanten neuen
Erkenntnisse erwartete. Sodann verneinte es, dass die beiden Häuser die
kantonalen und kommunalen Vorschriften über den Orts- und
Landschaftsbildschutz verletzten, da sie den Bauvorschriften entsprächen.

C.
Die Kirchgemeinde reichte gegen diesen Entscheid mit Eingabe vom 1. Dezember
2004 staatsrechtliche Beschwerde ein. Sie stellt insbesondere den Antrag, das
Urteil des Verwaltungsgerichts vom 26. Oktober 2004 sei insoweit aufzuheben,
als es den Rekurs abweise.

Das Verwaltungsgericht, die Gemeinde Zizers und die Baugesellschaft
beantragen die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werde.

D.
Das Gesuch um Gewährung der aufschiebenden Wirkung wurde am 20. Januar 2005
gutgeheissen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Wie bereits im Urteil 1P.165/2004 vom 14. September 2004, E. 1.3
ausgeführt, kann sich die Beschwerdeführerin als Nachbarin des
Baugrundstückes auf die Funktion und den Zweck der Ortsbild- und
Heimatschutzbestimmungen berufen. Diese Bestimmungen dienen neben
öffentlichen Interessen zugleich dem Schutze der einzelnen historischen
Bauten. Als Eigentümerin des zu schützenden historischen Kirchengebäudes
macht die Beschwerdeführerin damit eigene rechtlich geschützte Interessen
geltend. Sie ist daher zur staatsrechtlichen Beschwerde in der Sache selbst
befugt (vgl. Art. 88 OG).

1.2 Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die
staatsrechtliche Beschwerde einzutreten.

2.
2.1 In der Hauptsache macht die Kirchgemeinde geltend, das Verwaltungsgericht
habe willkürlich verkannt, dass das beabsichtigte Bauvorhaben das Ortsbild
von Zizers und das schützenswerte Baudenkmal Evangelische Kirche klar
verletze.

Nach ihrer Ansicht bilden die zwei Mehrfamilienhäuser mitten im
schützenswerten Ortsbild zwischen Kirche sowie oberem und unterem Schloss
einen von Ost nach West verlaufenden Riegel von rund 40m Länge und 17m Höhe.
Art. 1 des Baugesetzes der Gemeinde Zizers vom 18. Juni 2000 (BG) verlange
die Erhaltung und Verbesserung des Orts- und Landschaftsbildes. Art. 12 BG
gestatte Neubauten, sofern sie sich in die Umgebung einpassten. Art. 45 Abs.
2 BG halte fest, dass die Siedlungsstruktur und Bauweise in der Kernzone
erhalten und ergänzt werden sollen. Gemäss diesen drei positiven
Ästhetikklauseln müssten Bauvorhaben der Erhaltung und Verbesserung des
Ortsbildes gerecht werden. Diesem Postulat werde das fragliche Bauvorhaben
bei Weitem nicht gerecht.

2.2 Das Verwaltungsgericht hat festgehalten, dass das fragliche Bauvorhaben
den Zonenvorschriften von Art. 45 BG (Kernzone) entspreche, mit Ausnahme des
Balkons von Haus A gegenüber der Parzelle Nr. 433. Einzig die Zufahrtsrampe
zur Tiefgarage liege im so genannten "Anpassungsbereich" gemäss Art. 12 BG.
Diese könne nicht verweigert werden, da dagegen keine ortsbildschützerischen
Einwände vorlägen. Dies gelte im Ergebnis auch für die beiden geplanten
Häuser in der Kernzone. Ihre Auswirkungen seien im Lichte der rechtskräftigen
Grundordnung aus dem Jahre 1997 zu prüfen (Zonenplan, Genereller
Gestaltungsplan, Baugesetz). Aus dieser ergäben sich die möglichen Vorgaben
(so u. a. das zulässige Nutzungsmass, Bestimmungen über die zulässigen
Gebäudehöhen und -längen, Gebäude- und Grenzabstände). In diesem Zusammenhang
sei auch zu beachten, dass der Gesetzgeber beim Erlass der Grundordnung eine
erste Interessenabwägung (so u. a. mit Blick auf allfällige ortsbild- und
landschaftsschützerische Probleme) vorgenommen habe.
Es sei unbestritten, dass die kommunale Grundordnung rechtskräftig sei und
dass sich die beiden geplanten Baukuben an den in der Grundordnung
festgelegten Rahmen hielten. Es möge zutreffen, dass weniger voluminöse und
weniger massiv genutzte Mehrfamilienhäuser am geplanten Standort
wünschenswert und auch möglich gewesen wären. Die beiden Bauten bewegten sich
aber im Rahmen dessen, was vom kommunalen Gesetzgeber im Rahmen der
Grundordnung für den fraglichen Bereich als planerisch, gestalterisch und
nutzungsmässig sinnvoll erachtet worden sei. Es könne einer Bauherrschaft
nicht verwehrt werden, diesen Rahmen auszuschöpfen, solange sich ihr Projekt
in die Umgebung einfüge. Die von den beiden Bauten ausgehenden Auswirkungen
seien auch deshalb hinzunehmen, weil bei der 1997 erfolgten Totalrevision der
Grundordnung von einem (planerisch durchaus möglichen) vertieften Schutz der
historischen Bauten im Allgemeinen und der Evangelischen Kirche mit dem
umliegenden Friedhof im Speziellen abgesehen worden sei. Aus ortsbild- und
landschaftsschützerischer Sicht sei zudem festzuhalten, dass jeder Neubau im
fraglichen Bereich zu einer Beeinträchtigung der Evangelischen Kirche und der
übrigen historischen Bauten führen werde. Vorliegend bewegten sich die
Auswirkungen der neuen Bauten im Rahmen des bau- und zonenrechtlich
Zulässigen, weshalb sie hinzunehmen seien.

2.3 Bauten haben nicht nur die geltenden Baunormen einzuhalten, sondern auch
allfällige strengere ästhetische Schutzvorschriften zu erfüllen (vgl. z. B.
BGE 115 Ia 370, Altstadt von Bern; 115 Ia 363, Municipalité d'Ormont-Dessus;
101 Ia 213). Denn Ästhetikvorschriften haben eine eigenständige Bedeutung.
Sie sind nicht vorneweg eingehalten, sofern die Bauvorschriften respektiert
sind, da sich die Schutzbereiche der Ästhetik- bzw. der Bauvorschriften nicht
zwingend decken. Die Anwendung einer Vorschrift zum Schutze des Ortsbildes
kann daher im Einzelfall zu einer Reduktion des nach der Zonenordnung
zulässigen Bauens führen (vgl. BGE 115 Ia 370 E. 5).

2.4 Das Verwaltungsgericht nahm an, das kommunale Baugesetz enthalte ein
Einfügungsgebot (positive Ästhetikklausel), das über das Verunstaltungsverbot
(negative Ästhetikvorschrift) in Art. 8 KRG hinausgehe; erforderlich sei eine
Beurteilung der Wirkung des Neubauteils auf das bestehende Landschafts-,
Orts- und Strassenbild, unter Berücksichtigung des Projekts selbst, seines
Eindrucks auf den Betrachter und des ästhetischen Werts der konkreten
baulichen Umgebung. Allerdings führte das Verwaltungsgericht diese
Beurteilung "im Lichte der rechtskräftigen Grundordnung aus dem Jahre 1997"
durch, unter Berücksichtigung der angeblich schon vom Gesetzgeber bei Erlass
der Grundordnung vorgenommenen Interessenabwägung mit Blick auf ortsbild- und
landschaftsschützerische Probleme. Letztlich schloss das Verwaltungsgericht
allein von der Grundordnungs- bzw. Zonenkonformität der Bauvorhaben auf deren
Vereinbarkeit mit den Bestimmungen des Ortsbildschutzes. Eine darüber hinaus
gehende Prüfung der Vereinbarkeit des Projekts mit den Bestimmungen des
Ortsbildschutzes des gemeindlichen Baugesetzes (Erhaltung und Verbesserung
des Orts- und Landschaftsbildes: Art. 1 Abs. 1 BG; Anpassung an die Bauweise
in der Umgebung: Art. 12 Abs. 2 BG; Erhaltung von Siedlungsstruktur und
Bauweise in der Kernzone: Art. 45 Abs. 2 BG), auf die sich die
Beschwerdeführerin beruft, hat es indessen nicht vorgenommen. Es schloss
allein aufgrund der Grundordnungs- bzw. Zonenkonformität auf die
Vereinbarkeit der Bauvorhaben mit den Bestimmungen des Ortsbildschutzes. Dies
ist aber nicht in jedem Fall zutreffend. Denn wie vorstehend ausgeführt (E.
2.3), können die Vorschriften zum Schutze des Ortsbildes zu einer Reduktion
des nach der Zonenordnung zulässigen Bauens führen. Es kann auch nicht gesagt
werden, bei der Totalrevision der Grundordnung sei auf einen vertieften
Schutz der historischen Bauten im Allgemeinen und der evangelischen Kirche
mit dem umliegenden Friedhof im Speziellen verzichtet worden. Die angeführten
Bestimmungen des Ortsbildschutzes, die auch das Verwaltungsgericht als
positive Ästhetikvorschriften betrachtet, behielten ihre Gültigkeit und sie
hätten keinen Sinn, wenn dieser nicht darin bestünde, einen über die übrigen
Grundordnungs- und Zonenvorschriften hinausgehenden Schutz zu gewähren. Das
Verwaltungsgericht hat diesen selbständigen Gehalt der Vorschriften über den
Ortsbildschutz verkannt. Es entleert diese damit ihres Sinnes und enthebt sie
ihrer Funktion. Die Vereinbarkeit der Bauvorhaben mit den Regeln über den
Ortsbildschutz allein mit der Einhaltung der Bestimmungen der Grundordnung zu
bejahen, hält daher vor dem Willkürverbot nicht Stand. Die staatsrechtliche
Beschwerde ist aus diesem Grunde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben.

2.5 Das Verwaltungsgericht wird in einem neuerlichen Entscheid die  Frage der
Vereinbarkeit des Projektes mit den Anliegen des Ortsbildschutzes gemäss
ihrer selbständigen Bedeutung und Funktion zu prüfen und sein Urteil in
diesem Punkte gemäss den Erwägungen des Entscheides des Bundesgerichts vom
14. September 2004 genügend zu begründen haben. Es führt im angefochtenen
Urteil im Übrigen selber aus, weniger voluminöse Mehrfamilienhäuser wären am
geplanten Standort wünschenswert und möglich gewesen.

Zur sachgerechten Beurteilung dieser Frage kann die Einholung eines
Sachverständigengutachtens notwendig sein. In der Stellungnahme vom 19. April
2002 hielt der Kantonale Denkmalpfleger fest, die grossen neuen Bauvolumen
würden wohl den baurechtlichen Vorschriften gerecht, störten aber das
Ortsbild und die Baudenkmäler von Zizers. Sie seien zudem eine grosse
Beeinträchtigung der gegen Westen ausgerichteten Bauten am Schlossweg. Der
direkt neben dem Friedhof geplante Bau B stelle einen schweren Eingriff in
die Umgebung dar. Das Projekt nehme weder in der Gestalt noch in der Stellung
der Bauten Rücksicht auf die historische Bausubstanz. Daran hielt dieser auch
am Augenschein im Wesentlichen fest. Wenn er einräumte, die Bauvorhaben seien
grundordnungs- und zonenkonform, so ist dies nach dem oben Gesagten
unerheblich. Ob letztlich ein Gutachten nötig ist, wird das
Verwaltungsgericht zu entscheiden haben.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wären die bundesgerichtlichen Kosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 und 2 OG) und sie hätte die
Beschwerdeführerin zudem angemessen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 1 und 2
OG). Da dieser jedoch das notwendig gewordene neuerliche Verfahren vor
Bundesgericht in keiner Weise angelastet werden kann, sind keine Kosten zu
erheben und der Kanton Graubünden ist zu verpflichten, der Beschwerdeführerin
eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden, 4. Kammer, vom 26. Oktober 2004
aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Graubünden hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Gemeinde Zizers und dem
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 4. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. April 2005

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: