Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.704/2004
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1P.704/2004 /gij

Urteil vom 29. Dezember 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Féraud,
Gerichtsschreiber Forster.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Raess,

gegen

Bezirksanwaltschaft Zürich,
Büro B-3, Badenerstrasse 90, Postfach, 8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter,
Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Art. 9 und 10 Abs. 2 BV (Ersatzmassnahmen für Haft),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung
des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter, vom

11. November 2004.

Sachverhalt:

A.
Die Bezirksanwaltschaft Zürich führt eine Strafuntersuchung gegen X.________.
Der Angeschuldigte wird einer Vergewaltigung dringend verdächtigt. Am 10.
November 2004 stellte die Bezirksanwaltschaft beim Haftrichter den Antrag auf
Anordnung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr. Mit Verfügung vom 11.
November 2004 wies der Haftrichter des Bezirksgerichtes Zürich das Gesuch um
Haftanordnung ab. Stattdessen ordnete er als Ersatzmassnahmen eine Pass- und
Schriftensperre zu Lasten des Angeschuldigten an sowie eine "regelmässige
Meldepflicht nach Ermessen der Untersuchungsbehörde".

B.
Gegen die Verfügung des Haftrichters vom 11. November 2004 gelangte
X.________ mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 18. November 2004 an das
Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides,
soweit darin Ersatzmassnahmen für Untersuchungshaft gegen ihn verfügt werden.
Der Haftrichter des Bezirksgerichtes Zürich verzichtete am 3. Dezember 2004
auf eine Stellungnahme. Die Bezirksanwaltschaft Zürich liess sich am 7.
Dezember 2004 vernehmen. Der Beschwerdeführer replizierte am 13. Dezember
2004.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer wird durch die streitigen strafprozessualen
Zwangsmassnahmen (Ersatzmassnahmen anstelle von Haft) beschwert und in seinen
verfassungsmässigen Individualrechten tangiert. Seine Beschwerdelegitimation
ist daher zu bejahen (Art. 88 OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen
geben zu keinen Bemerkungen Anlass

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die gesetzlichen Voraussetzungen für den
Erlass der streitigen Ersatzmassnahmen seien nicht erfüllt. Das zürcherische
Strafprozessrecht verlange hierfür das Vorliegen ausreichender Haftgründe. An
den Nachweis von Fluchtgefahr seien die gleichen Anforderungen zu stellen wie
beim Erlass von Untersuchungshaft. Zwar habe er sich bei der
haftrichterlichen Verhandlung "mit einer Pass- und Schriftensperre
einverstanden erklärt für den Fall, dass Fluchtgefahr gegeben ist". Den
Haftgrund der Fluchtgefahr habe er jedoch "nie akzeptiert". Er lebe "seit
mehreren Jahren in intakter Ehe mit einer Schweizerin" und habe sich im
Verkehr mit den Behörden korrekt verhalten. Zwar habe er im vergangenen
Herbst eine längere Reise nach Gambia geplant, aber ein Retourticket gekauft
und ein Rückreisevisum beantragt. Fluchtgefahr sei in seinem Fall nicht
gegeben, weshalb der angefochtene Entscheid Art. 9 und Art. 10 Abs. 2 BV
verletze. Den dringenden Tatverdacht einer Vergewaltigung bestreitet der
Beschwerdeführer nicht.

3.
Nach Zürcher Strafprozessrecht darf Untersuchungshaft nur angeordnet werden,
wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig
ist und ausserdem aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ein besonderer Haftgrund,
etwa Fluchtgefahr, ernsthaft befürchtet werden muss (§ 58 Abs. 1 Ziff. 1
StPO/ZH). Anstelle von Untersuchungshaft werden eine oder mehrere
Ersatzmassnahmen (gemäss §§ 72 f. StPO/ZH) verfügt, wenn und solange sich der
Haftzweck auch auf diese Weise erreichen lässt. Als Ersatzmassnahmen sind
namentlich die Pass- und Schriftensperre sowie die regelmässige Meldung bei
einer Behörde vorgesehen (§ 72 StPO/ZH).

4.
Falls bei einem Angeschuldigten, der eines Verbrechens oder Vergehens
dringend verdächtig ist, ausreichend konkrete Anhaltspunkte für eine
erhebliche Fluchtgefahr vorliegen, welcher mit blossen Ersatzmassnahmen nicht
mehr ausreichend zu begegnen ist, kann sich zur Wahrung der Ziele des
Strafverfahrens die Anordnung von Untersuchungshaft als sachlich geboten und
zulässig erweisen. Für die Annahme einer solchen - erheblichen und konkreten
- Fluchtgefahr würde nach der Praxis des Bundesgerichtes der blosse Hinweis
grundsätzlich nicht genügen, dass dem Angeschuldigten im Falle einer
strafrechtlichen Verurteilung eine schwere Strafe droht (vgl. BGE 125 I 60 E.
3a S. 62; 123 I 31 E. 3d S. 36 f.; 117 Ia 69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen).
Bei der Pass- und Schriftensperre sowie bei der Pflicht zur regelmässigen
Meldung bei einer Behörde handelt es sich demgegenüber um mildere
Ersatzmassnahmen für strafprozessuale Haft, mit denen - in weniger
ausgeprägten Fällen bzw. unter Beachtung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes
- einer gewissen Fluchtneigung des Angeschuldigten vorgebeugt werden kann
(vgl. BGE 130 I 234 E. 2.2 S. 236 mit Hinweisen).

4.1 Im vorliegenden Fall wird der Beschwerdeführer zwar eines schweren
Verbrechens (kollektive Vergewaltigung) dringend verdächtigt. Im
angefochtenen Entscheid wird jedoch die Ansicht vertreten, es sei keine
ausgeprägte, hohe Fluchtgefahr gegeben, welche eine Inhaftierung notwendig
erscheinen liesse. Nach Ansicht des kantonalen Haftrichters bestehen aber
gewisse Fluchtindizien, die jedenfalls eine Pass- und Schriftensperre sowie
eine Meldepflicht als mildere Ersatzmassnahmen rechtfertigen.

Der Beschwerdeführer beruft sich auf die Bundesgerichtspraxis zu den
Anforderungen an die Annahme einer erheblichen und konkreten Fluchtgefahr als
Voraussetzung für die Anordnung von Untersuchungshaft. Im vorliegenden Fall
ist allerdings keine strafprozessuale Haft streitig. Es wurden vielmehr
mildere Ersatzmassnahmen angeordnet, bei denen (gemäss der oben dargelegten
Praxis) bereits gewisse Anzeichen für eine mögliche Fluchtneigung genügen
können. Der kantonale Haftrichter ist nach ausführlicher Abwägung der
persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers und der übrigen Umstände des
vorliegenden Falles zum Schluss gelangt, dass hier zwar "von einer konkreten
Fluchtgefahr auszugehen" sei; diese erscheine jedoch nicht als derart
markant, dass sie nicht durch Ersatzmassnahmen für Untersuchungshaft
ausreichend gebannt werden könnte. Der Beschwerdeführer vertritt die Ansicht,
bei der Anordnung von Ersatzmassnahmen dürften an den Nachweis der
Fluchtgefahr "keine geringeren Anforderungen gestellt werden" als bei
Untersuchungshaft, und er beruft sich dabei auf eine in der Literatur
vertretene Auffassung (nämlich Andreas Donatsch, in: Donatsch/Schmid [Hrsg.],
Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Zürich 1996 ff., N. 6
zu § 72 StPO). Dieser Auffassung kann nach dem Gesagten nicht gefolgt werden.
Der mit Untersuchungshaft verbundene Freiheitsentzug stellt eine deutlich
schärfere Zwangsmassnahme dar, für deren Erlass schon unter dem Gesichtspunkt
der Verhältnismässigkeit in der Regel höhere Anforderungen zu gelten haben
als für die Anordnung einer blossen Pass- und Schriftensperre bzw. einer
Meldepflicht. Die zitierte gegenteilige Lehrmeinung wird demgegenüber nicht
näher begründet, so dass für eine Praxisänderung keine Veranlassung besteht.

4.2 Anhaltspunkte für eine mögliche Fluchtneigung sind im vorliegenden Fall
offensichtlich gegeben. Der Beschwerdeführer ist einer qualifizierten
Vergewaltigung (Art. 190 i.V.m. Art. 200 StGB) dringend verdächtig. Es droht
ihm im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung eine empfindliche
Freiheitsstrafe. Nach eigener Darstellung pflegt er familiäre Kontakte nach
Afrika. Zuletzt plante er "im Laufe des Oktobers" 2004 "eine Reise nach
Gambia", um für einige Monate "familiäre Angelegenheiten zu regeln". Wie sich
aus den Akten ergibt, verfügt der Beschwerdeführer sodann über keine
Berufsausbildung, er hat keine feste Arbeitsstelle und spricht nur wenig
deutsch. Ausserdem wurde die Aufenthaltsbewilligung B des Beschwerdeführers
(welche am 2. Januar 2005 abläuft) aufgrund der hängigen Strafuntersuchung
nicht verlängert. Es kann hier offen bleiben, ob diese Fluchtindizien in
ihrer Gesamtheit betrachtet sogar Untersuchungshaft rechtfertigen könnten.
Für die Anordnung der hier streitigen Ersatzmassnahmen reichen sie allemal.
Im Übrigen erscheint es etwas widersprüchlich, wenn der Beschwerdeführer, wie
er selbst einräumt, bei der Hafteinvernahme zwar einer Pass- und
Schriftensperre als Ersatzmassnahme für drohende Untersuchungshaft noch
ausdrücklich zustimmt, die gleiche Ersatzmassnahme dann aber unmittelbar
darauf beim Bundesgericht anficht.

5.
Die Beschwerde erweist sich nach dem Gesagten als unbegründet.

Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und
Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt erscheinen
(und sich insbesondere die Bedürftigkeit des Gesuchstellers aus den Akten
ergibt), kann dem Gesuch stattgegeben werden (Art. 152 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Dr. Markus Raess, wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Bezirksanwaltschaft Zürich und
dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 29. Dezember 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: