Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.691/2004
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1P.691/2004 /ggs

Urteil vom 16. Februar 2005

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Gerber.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Walter
Locher,

gegen

Y.________, Beschwerdegegner,
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Altstätten,
Postfach, 9450 Altstätten,
Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.

Art. 9 BV (Ersatz der klägerischen Vertretungskosten),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St.
Gallen, Strafkammer,
vom 16. August 2004.

Sachverhalt:

A.
Am 22. November 2000 erstatteten X.________ und die A.________ AG gegen
Y.________ Strafanzeige wegen Drohung. Diesem wurde vorgeworfen, im Anschluss
an die vorzeitige Auflösung seines Arbeitsvertrags verschiedene Drohungen
gegen X.________ geäussert zu haben.

B.
Mit Strafbescheid vom 18. März 2003 wurde Y.________ wegen Drohung
verurteilt, weil er am 21. November 2002 gegenüber B.________ gesagt habe, er
werde X.________ umbringen.

C.
Nachdem Y.________ gegen den Strafbescheid Einsprache erhoben hatte,
verurteilte ihn der Einzelrichter des Kreisgerichts Rheintal am 5. November
2003 wegen Drohung zu einer Busse von Fr. 500.--, bedingt löschbar auf eine
Probezeit von zwei Jahren. Der Einzelrichter auferlegte die Kosten von Fr.
1'500.-- dem Angeklagten und verpflichtete ihn, an X.________ eine
Parteientschädigung von Fr. 1'764.65 zu bezahlen.

D.
Gegen diesen Entscheid erhob Y.________ Berufung beim Kantonsgericht St.
Gallen. Am 16. August 2004 wies das Kantonsgericht die Berufung ab und
auferlegte dem Angeklagten die Kosten des Berufungsverfahrens. X.________,
dessen Rechtsvertreter im Berufungsverfahren zwei schriftliche Stellungnahmen
eingereicht hatte, wurde keine Entschädigung zugesprochen.

E.
Gegen den kantonsgerichtlichen Entscheid erhebt X.________ staatsrechtliche
Beschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid betreffend
Entschädigung der Vertretungskosten des Strafklägers sei aufzuheben und die
Streitsache zu neuer Entscheidung an das Kantonsgericht zurückzuweisen.

F.
Das Kantonsgericht weist in seiner Vernehmlassung darauf hin, dass gewisse
Vorbringen des Beschwerdeführers in seiner staatsrechtlichen Beschwerde neu
seien; im Übrigen verzichtet es auf eine Stellungnahme. Die
Staatsanwaltschaft und Y.________ haben sich nicht vernehmen lassen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Strafentscheid des
Kantonsgerichts, der nur im Kostenpunkt wegen Verletzung des Willkürverbots
(Art. 9 BV) bemängelt wird. Hierfür steht nur die staatsrechtliche Beschwerde
ans Bundesgericht zur Verfügung (Art. 84 Abs. 2 OG; Art. 269 Abs. 2 BStP).
Der Beschwerdeführer ist als Partei des Berufungsverfahrens, dem keine
Parteientschädigung zugesprochen wurde, in rechtlich geschützten Interessen
berührt und somit zur Beschwerde legitimiert (Art. 88 OG). Auf die
rechtzeitig erhobene staatsrechtliche Beschwerde ist daher einzutreten.

2.
Art. 271 des St. Galler Strafprozessgesetzes vom 1. Juli 1999 (StP) lautet:
"1.Dem Angeschuldigten werden die Kosten der privaten Verteidigung ersetzt,
soweit ihm keine Kosten nach Art. 266 dieses Gesetzes auferlegt werden. Im
Rechtsmittelverfahren werden die Kosten nach Obsiegen und Unterliegen
verlegt.

2. Dem Kläger werden die Vertretungskosten ersetzt, wenn besondere Umstände
es rechtfertigen."
2.1 Das Kantonsgericht erwog im angefochtenen Entscheid, dass "besondere
Umstände" i.S.v. Art. 271 Abs. 2 StP im Berufungsverfahren weder konkret
geltend gemacht worden noch ersichtlich seien. Der Strafkläger habe durch
seine Mitwirkung nicht (mehr) massgeblich zur Abklärung der Strafsache
beigetragen und es habe sich in diesem Stadium weder um einen (u.a. in
rechtlicher Hinsicht) komplexen Fall gehandelt noch sei die Mandatsausübung
im Hinblick auf eine Zivilforderung erforderlich gewesen. Es habe auch keine
mündliche Verhandlung stattgefunden. Dem Kläger seien deshalb die Kosten der
Vertretung im Berufungsverfahren nicht zu ersetzen. Der Rechtsvertreter des
Beschwerdeführers rügt dies als willkürlich.

2.2 Willkür liegt nach der Rechtsprechung nicht schon dann vor, wenn eine
andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder sogar vorzuziehen wäre. Das
Bundesgericht weicht vom Entscheid der kantonalen Instanz nur ab, wenn dieser
offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem
Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass
verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft
(BGE 125 I 166 E. 2a S. 168; 125 II 10 E. 3a S. 15, 129 E. 5b S. 134; je mit
Hinweisen).

3.
Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, dass er in seinen beiden
Eingaben vom 12. Februar und vom 18. März 2004 die Abweisung der Berufung
unter Kosten- und Entschädigungsfolge zu Lasten des Angeschuldigten beantragt
habe. Es bestehe dagegen keine gesetzliche Pflicht für den Strafkläger, den
Kostenantrag zu begründen und die besonderen Umstände nach Art. 271 StP
darzulegen. Es sei daher willkürlich, die beantragte Entschädigung
abzuweisen, weil keine besonderen Umstände konkret geltend gemacht worden
seien.

Das Kantonsgericht hat jedoch seinen Kostenspruch damit begründet, dass
besondere Umstände nach Art. 271 StP weder geltend gemacht noch ersichtlich
seien. Insofern hat es nicht allein auf die fehlende Geltendmachung
abgestellt, sondern auch geprüft, ob besondere Gründe aus den Akten
ersichtlich seien, die eine Entschädigung rechtfertigen würden.

4.
Der Beschwerdeführer rügt weiter, es sei willkürlich, das Berufungsverfahren
gesondert zu betrachten und besondere Umstände, welche die Zusprechung einer
Entschädigung rechtfertigten, nur für das erstinstanzliche Verfahren zu
bejahen. "Besondere Umstände" würden nach der Praxis des Kantonsgerichts in
der Regel dann angenommen, wenn der Strafkläger durch seine Mitwirkung im
Strafverfahren massgeblich zur Abklärung einer Strafsache und zur
Verurteilung des Täters beigetragen habe. Da die Untersuchungshandlungen in
aller Regel vor Anklageerhebung abgeschlossen seien, könne der Strafkläger
vor allem im Untersuchungs- und allenfalls noch im erstinstanzlichen
Verfahren massgeblich zur Abklärung der Strafsache beitragen, nicht aber mehr
im Berufungsverfahren.

Im angefochtenen Entscheid werden allerdings weitere Umstände genannt, die
den Ersatz der klägerischen Verteidigungskosten rechtfertigen können, wie
z.B. die Komplexität des Falles und die Mandatsausübung im Hinblick auf eine
Zivilforderung. Diese Kriterien können durchaus auch auf ein
Berufungsverfahren zutreffen.

Aber selbst wenn die gesonderte Betrachtung der verschiedenen Instanzen dazu
führen sollte, dass dem Strafkläger in der Regel nur die Vertretungskosten
des erstinstanzlichen Verfahrens ersetzt werden, belegt dies noch nicht das
Vorliegen von Willkür: Gemäss Art. 271 Abs. 2 StP werden die
Vertretungskosten des Strafklägers nicht generell, sondern nur ausnahmsweise,
bei Vorliegen besonderer Gründe, ersetzt. Dann aber erscheint es nicht
offensichtlich unhaltbar, wenn das Kantonsgericht die Regelung restriktiv in
dem Sinne auslegt, dass die "besonderen Gründe" für jede Instanz gesondert
geprüft werden, d.h. Vertretungskosten nur ersetzt werden, wenn die
anwaltliche Vertretung des Strafklägers in der jeweiligen Instanz aus
besonderen Gründen gerechtfertigt war.

5.
Schliesslich macht der Beschwerdeführer geltend, dass er ein besonderes
Interesse an der Bestätigung des Schuldspruchs der ersten Instanz durch das
Kantonsgericht gehabt habe: Zum einen sei er Opfer der erstinstanzlich
verurteilten Drohungen gewesen; zum anderen habe Y.________ gegen ihn
Strafklage wegen übler Nachrede, Verleumdung, falscher Anschuldigung,
Irreführung der Rechtspflege und falschem Zeugnis erhoben. Das Verfahren
gegen ihn sei mit Verfügung vom 27. April 2004 vorläufig eingestellt worden,
um den Entscheid des Kantonsgerichts im Verfahren gegen Y.________
abzuwarten. Aus diesem Grund sei es dem Beschwerdeführer besonders wichtig
gewesen, sich aktiv am Berufungsverfahren zu beteiligen.

5.1 Das Kantonsgericht macht in seiner Vernehmlassung geltend, diese
Vorbringen seien neu: Im kantonalen Berufungsverfahren sei einzig bekannt
gewesen, dass Y.________ Strafklage gegen den Beschwerdeführer erhoben habe;
dagegen sei weder die nun geltend gemachte Interessenlage noch der Fortgang
des Strafverfahrens aktenkundig geworden.

Immerhin enthalten die Akten des Strafverfahrens gegen Y.________ dessen
Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer vom 13. Februar 2004 wegen
Falschaussage, Verleumdung, Ehrverletzung und übler Nachrede. Auch die
Staatsanwaltschaft wies in ihrer Stellungnahme an das Kantonsgericht vom 16.
Februar 2004 auf die Strafklagen des Beschwerdegegners hin.

Insofern musste dem Kantonsgericht - auch ohne Kenntnis der Verfügung vom 27.
April 2004 - bewusst sein, dass sein Entscheid, und namentlich seine
Würdigung der Aussagen des Beschwerdeführers, präjudizielle Wirkung für das
von Y.________ angestrengte Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer haben
würde. Die Interessenlage des Beschwerdeführers war somit aus den Akten
ersichtlich und konnte vom Kantonsgericht bei seinem Kostenentscheid
berücksichtigt werden.

5.2 Zu prüfen ist deshalb, ob es willkürlich war, die präjudizielle Bedeutung
des Berufungsverfahrens gegen Y.________ für den weiteren Fortgang des
Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer nicht als besonderen Grund i.S.v.
Art. 271 Abs. 2 StP anzuerkennen.

Nach dem st. gallischen Strafprozessgesetz hat der im Rechtsmittelverfahren
obsiegende Angeschuldigte grundsätzlich Anspruch auf Ersatz seiner
Verteidigungskosten, unabhängig davon, ob der Beizug eines Vertreters
aufgrund der Sach- und Rechtslage objektiv gerechtfertigt war (Art. 271 Abs.
1 StP; Niklaus Oberholzer, Gerichts- und Parteikosten im Strafprozess S. 52
f., in: Christian Schöbi [Hrsg.], Gerichtskosten, Parteikosten,
Prozesskaution, unentgeltliche Prozessführung, Bern 2001). Dies spricht
dafür, auch die Vertretungskosten des Strafklägers zu ersetzen, der sich zu
seiner eigenen Verteidigung am Berufungsverfahren des Angeschuldigten aktiv
beteiligt.

Allerdings bestand kein zwingender Zusammenhang zwischen dem Ausgang der
beiden Strafverfahren: Selbst wenn Y.________ im Berufungsverfahren in
Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" freigesprochen worden wäre,
hätte daraus nicht unbedingt auf das Vorliegen einer falschen Anschuldigung
durch den Beschwerdeführer geschlossen werden können.

Dass es dem Beschwerdeführer in erster Linie nicht um seine eigene
Verteidigung sondern darum ging, die Verurteilung von Y.________ zu erwirken,
erhellt auch der zeitliche Ablauf: Die erste Strafanzeige von Y.________
stammt vom 13. Februar 2004. Sie wurde also erst nach der ersten anwaltlichen
Eingabe des Beschwerdeführers im Berufungsverfahren am 12. Februar 2004
erhoben und kann für diese nicht kausal gewesen sein.

Schliesslich ist zu berücksichtigen, dass die vorliegende Interessenlage
nicht ungewöhnlich ist: Belastet der Strafkläger den Angeschuldigten mit
seiner Aussage, so muss er, falls das Gericht seiner Aussage nicht glaubt,
mit einem Strafverfahren wegen Ehrverletzungs- und Rechtspflegedelikten
rechnen. Würde diese Interessenlage genügen, um den Strafkläger für seine
Vertretungskosten zu entschädigen, müssten diese Kosten in vielen, wenn nicht
gar den meisten Strafverfahren ersetzt werden. Dies widerspricht jedoch den
gesetzgeberischen Intentionen, wonach die Vertretungskosten des Strafklägers
nur ausnahmsweise, bei Vorliegen "besonderer" Gründe, zu ersetzen sind.
Nach dem Gesagten kann der Entscheid des Kantonsgerichts, dem
Beschwerdeführer keine Entschädigung für seine Vertretungskosten im
Berufungsverfahren zuzusprechen, nicht als willkürlich bezeichnet werden.

6.
Die Beschwerde ist daher als unbegründet abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten und hat keinen
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 156 und 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft, Untersuchungsamt
Altstätten, und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 16. Februar 2005

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: