Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.690/2004
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1P.690/2004 /gij

Urteil vom 14. Dezember 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Bundesrichter Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Härri.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Mario
Bortoluzzi,

gegen

Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich, Büro B-4, Molkenstrasse 15/17,
Postfach 1233, 8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Persönliche Freiheit (Untersuchungshaft),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung
des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter, vom

19. November 2004.

Sachverhalt:

A.
X. ________ wurde am ........ 1983 geboren und stammt aus dem Kosovo. Die
Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich führt gegen ihn eine
Strafuntersuchung wegen des Verdachts des bandenmässigen Raubes und sexueller
Handlungen mit einem Kind. Es wird ihm vorgeworfen, zwischen Oktober und
Dezember 2003 mit zwei weiteren Beteiligten sechs Raubüberfälle begangen zu
haben; ausserdem habe er mehrmals mit einem 15-jährigen Mädchen den
Geschlechtsverkehr vollzogen.

X. ________ befand sich vom 22. Januar bis zum 27. Februar 2004 in
Untersuchungshaft.

Am 29. März 2004 wurde er erneut festgenommen. Am 31. März 2004 verfügte der
Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich gegen ihn die Untersuchungshaft wegen
Kollusionsgefahr.

Am 16. September 2004 ersuchte X.________ um Haftentlassung.

Mit Verfügung vom 21. September 2004 wies der Haftrichter das Gesuch ab. Er
nahm an, es bestehe weiterhin Kollusionsgefahr.

Die von X.________ dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde hiess das
Bundesgericht am 10. November 2004 gut und hob die Verfügung des Haftrichters
vom 21. September 2004 auf (1P.616/2004). Es befand, der Haftrichter habe zu
Unrecht Kollusionsgefahr bejaht (E. 2.4). Die Haftentlassung durch das
Bundesgericht rechtfertige sich jedoch nicht. Der Beschwerdeführer als
junger, lediger Erwachsener mit kosovarischen Wurzeln, der im Falle einer
Verurteilung sein weiteres Fortkommen in der Schweiz erheblich kompromittiert
habe, könnte versucht sein, sich der - angesichts der Schwere der Tatvorwürfe
- drohenden empfindlichen Strafe durch Flucht in seine Heimat zu entziehen.
Die Annahme von Fluchtgefahr sei daher nicht ausgeschlossen. Der Haftrichter
werde diesen Haftgrund zu prüfen haben (E. 2.5).

Mit Verfügung vom 19. November 2004 wies der Haftrichter das
Haftentlassungsgesuch vom 16. September 2004 erneut ab und erstreckte die
Haftfrist bis zum 19. Februar 2005. Er bejahte Fluchtgefahr.

B.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, die Verfügung
des Haftrichters vom 19. November 2004 aufzuheben; er sei unverzüglich aus
der Haft zu entlassen; eventualiter unter Anordnung geeigneter
Ersatzmassnahmen.

C.
Der Haftrichter hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Die Bezirksanwaltschaft hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die
Beschwerde abzuweisen.

X. ________ hat zur Vernehmlassung der Bezirksanwaltschaft Bemerkungen
eingereicht. Er hält an seinen Anträgen fest.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist grundsätzlich kassatorischer Natur, das
heisst, es kann mit ihr nur die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, nicht
aber der Erlass positiver Anordnungen durch das Bundesgericht verlangt
werden. Eine Ausnahme gilt dann, wenn die von der Verfassung geforderte Lage
nicht schon mit der Aufhebung des kantonalen Entscheids hergestellt wird,
sondern dafür eine positive Anordnung nötig ist. Das trifft hinsichtlich
einer nicht oder nicht mehr gerechtfertigten Untersuchungshaft zu (BGE 124 I
327 E. 4 mit Hinweisen). Auf die Beschwerde ist deshalb einzutreten, soweit
der Beschwerdeführer die Haftentlassung beantragt.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt, der angefochtene Entscheid verletze sein Recht
auf persönliche Freiheit.

Gemäss Art. 10 Abs. 2 BV hat jeder Mensch das Recht auf persönliche Freiheit,
insbesondere auf Bewegungsfreiheit. Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die
gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen der
Fortführung der Untersuchungshaft erhoben werden, prüft das Bundesgericht die
Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts frei (BGE 123 I 268 E. 2d mit
Hinweis).

2.2 Gemäss § 58 Abs. 1 StPO/ZH darf Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn
der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird
und ausserdem aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden
muss, er werde sich der Strafverfolgung oder der zu erwartenden Strafe durch
Flucht entziehen.

Der Beschwerdeführer ist grundsätzlich geständig. Der dringende Tatverdacht
ist unbestritten. Der Beschwerdeführer macht geltend, es bestehe keine
Fluchtgefahr.

2.3 Nach der Rechtsprechung genügt für die Annahme von Fluchtgefahr die Höhe
der dem Angeschuldigten drohenden Freiheitsstrafe für sich allein nicht.
Fluchtgefahr darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der
Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan
werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich
erscheinen lassen. Die Höhe der drohenden Freiheitsstrafe kann immer nur
neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE
125 I 60 E. 3a mit Hinweisen).

Der Beschwerdeführer räumt (Beschwerde S. 7, 10 und 12) selber ein, dass er
mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe rechnen muss. Die Mindeststrafe für
bandenmässigen Raub beträgt zwei Jahre Zuchthaus (Art. 140 Ziff. 3 StGB). Der
Beschwerdeführer bringt vor, es komme auch eine Verurteilung lediglich wegen
Gehilfenschaft in Betracht, weshalb die Strafe gemäss Art. 25 in Verbindung
mit Art. 65 StGB gemildert werden könne. Wie es sich damit verhält, wird der
Sachrichter zu entscheiden haben. Seinem Urteil darf nicht vorgegriffen
werden. Wie sich den Akten entnehmen lässt, hat der Beschwerdeführer bei den
ihm vorgeworfenen Raubtaten im Wesentlichen Fahrerdienste geleistet. Einer
der Beteiligten sagte jedoch aus, die Raubtaten wären ohne Mitwirkung des
Beschwerdeführers unmöglich gewesen (Verfügung des Haftrichters vom 21.
September 2004 S. 3). Es bestehen sodann erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass
der Beschwerdeführer an der Beute beteiligt war. Insbesondere mit Blick
darauf steht keineswegs fest, dass der Sachrichter lediglich auf
Gehilfenschaft erkennen wird. Es kann deshalb nicht ausgeschlossen werden,
dass die Mindeststrafe von 2 Jahren Zuchthaus zur Anwendung kommen wird.
Angesichts dessen besteht für den Beschwerdeführer ein beträchtlicher
Fluchtanreiz.

Der Beschwerdeführer kam im dritten Lebensjahr in die Schweiz und ist hier
aufgewachsen. Zu seinem Heimatland hat er jedoch nach wie vor intakte
Beziehungen. Er spricht albanisch und besuchte sein Heimatland regelmässig.
Zuletzt verbrachte er im Sommer 2003 drei Wochen Ferien in seiner
Geburtsstadt im Kosovo. Seine Familie besitzt dort auch Fahrzeuge. In der
Schweiz verkehrte er vorwiegend mit Landsleuten. So soll er auch die ihm zur
Last gelegten Raubtaten zusammen mit zwei Männern begangen haben, die aus dem
Kosovo stammen. Er ist überdies ledig und hat keine feste Freundin. Ausserdem
ist er arbeitslos. Die letzte Stelle wurde ihm Ende Oktober 2003 gekündigt,
weil er einen Weiterbildungskurs hätte besuchen sollen, stattdessen aber in
die Ferien fuhr. Er ist in der Schweiz somit beruflich nicht integriert. Bei
einer Verurteilung wegen bandenmässigen Raubes würden seine Berufsaussichten
hier zusätzlich beeinträchtigt.

Zwar leben seine Eltern in der Schweiz; ebenso seine drei jüngeren
Geschwister, welche - im Gegensatz zu ihm - das Schweizer Bürgerrecht
erworben haben. Würdigt man die oben angeführten Umstände, besteht gleichwohl
nicht nur die abstrakte Gefahr, dass sich der Beschwerdeführer bei einer
Haftentlassung dem Verfahren durch Flucht entziehen würde; vielmehr sind
dafür konkrete Anhaltspunkte gegeben. Damit ist es verfassungsrechtlich nicht
zu beanstanden, wenn der Haftrichter Fluchtgefahr bejaht hat.

Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer nach seiner Haftentlassung am
27. Februar 2004 in der Schweiz geblieben ist. Damals stand er erst unter dem
Verdacht, an einem einzigen Raubüberfall beteiligt gewesen zu sein. Er konnte
deshalb noch mit einer wesentlich tieferen Strafe rechnen. Entsprechend war
der Fluchtanreiz deutlich geringer.

2.4 Der Beschwerdeführer beantragt eventualiter die Haftentlassung unter
Anordnung von Ersatzmassnahmen.

2.4.1 Der Haftrichter erwog dazu, eine Pass- und Schriftensperre, wie sie der
Verteidiger vorschlage, falle als taugliches Mittel zur Fluchthemmung ausser
Betracht, da der Beschwerdeführer nicht Schweizerbürger sei, so dass es ihm
jederzeit möglich wäre, über den konsularischen Weg in seinem Heimatland
Ersatzpapiere zu beschaffen und so die Schriftensperre zu unterlaufen. Der
Beschwerdeführer anerkennt diese Auffassung in der staatsrechtlichen
Beschwerde (S. 14 Ziff. 19) ausdrücklich als zutreffend.

2.4.2 Er macht hingegen geltend, die Fluchtgefahr könne herabgesetzt werden
durch die in § 72 StPO/ZH vorgesehene Weisung betreffend Aufenthaltsort sowie
die Pflicht, sich regelmässig bei einer Behörde zu melden. Das Vorbringen ist
unbehelflich. Allein durch eine Weisung betreffend den Aufenthaltsort und
eine Meldepflicht würde die Fluchtgefahr nicht in einem Ausmass herabgesetzt,
dass sich die Haftentlassung rechtfertigen könnte. Der Beschwerdeführer
könnte sich über die entsprechenden Anordnungen leicht hinwegsetzen.

2.4.3 Der Beschwerdeführer bringt (S. 14 f. Ziff. 20) ausserdem vor, in
Betracht komme auch eine Sicherheitsleistung nach § 73 StPO/ZH. Er selbst
verfüge über keine Mittel zur Leistung einer Kaution. Dasselbe gelte für
seine Familienangehörigen. Sein Vater, der als selbständig Erwerbender im
Gartenbau tätig ist, habe jedoch einen langjährigen Kunden, der ihm für eine
Kaution sofort einen Kredit von Fr. 10'000.-- gewähren würde.

Der Beschwerdeführer hat dies im kantonalen Verfahren nicht vorgebracht. In
seiner  Eingabe vom 19. November 2004 an den Haftrichter erwähnte er als
mögliche Ersatzmassnahme eine Pass- und Schriftensperre (act. 6 S. 11). Der
Haftrichter hat sich deshalb nicht ausdrücklich zur Frage einer
Haftentlassung gegen Kaution geäussert. Dies ist jedenfalls unter den
gegebenen Umständen nicht zu beanstanden. Denn wie der Beschwerdeführer
einräumt, verfügen weder er noch seine Familienangehörigen über die nötigen
Mittel zur Leistung einer Kaution. Dass ein Dritter das Geld für die
Sicherheitsleistung zur Verfügung stellen und um wen es sich dabei handeln
könnte, konnte der Haftrichter nicht von sich aus wissen. Es wäre Sache des
Beschwerdeführers gewesen, dies im kantonalen Verfahren darzulegen (Urteil
1P.334/1998 vom 10. Juli 1998 E. 3d).

Die Leistung einer Kaution durch einen Dritten kommt grundsätzlich in
Betracht (Urteil 1P.197/2004 vom 21. April 2004 E. 2.4). Die Fluchtgefahr
wird in diesem Fall gemindert, soweit anzunehmen ist, der Beschuldigte werde
dem Dritten den Verlust der Kaution ersparen wollen. Wesentlich sind bei
einer Kautionsleistung durch einen Dritten dessen finanziellen Verhältnisse
und die persönliche Beziehung der Beteiligten (vgl. Urteil 1P.197/2004 vom
21. April 2004 E. 2.4; Hans Hilger, in: Löwe-Rosenberg, Grosskommentar zur
deutschen Strafprozessordnung, 25. Aufl., Berlin 1997, § 116a N. 10). Im
vorliegenden Fall wäre insbesondere von Bedeutung zu wissen, welches die
finanziellen Verhältnisse des Kunden sind und in welcher persönlichen
Beziehung er zum Vater und dieser wiederum zum Beschwerdeführer steht. Wäre
beispielsweise der Kunde reich und anzunehmen, dass er dem Vater die
Rückzahlung des Kautionsbetrages gegebenenfalls erlassen würde, würde die
Fluchtgefahr durch die vorgeschlagene Kaution nicht wesentlich vermindert. Um
zu prüfen, ob eine Haftentlassung gegen eine von einem Dritten geleistete
Kaution in Betracht kommen könnte, wären danach wesentlich detailliertere
Angaben nötig, als sie der Beschwerdeführer in der staatsrechtlichen
Beschwerde macht. Schon aus diesem Grunde kommt im Übrigen die Haftentlassung
durch das Bundesgericht gegen Kaution nicht in Frage. Wie der Haftrichter in
der angefochtenen Verfügung (Dispositiv Ziff. 3) darlegt, kann der
Beschwerdeführer jederzeit bei der Bezirksanwältin ein Gesuch um Aufhebung
der Untersuchungshaft stellen. Es steht ihm frei, die Haftentlassung gegen
eine von einem Dritten zu leistende Kaution zu beantragen. Dabei hätte er
allerdings ein entsprechendes Begehren im Sinne der obigen Ausführungen näher
zu substantiieren.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen.

Die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers kann angenommen werden. Da die
Untersuchungshaft einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit
darstellt, konnte er sich zur Beschwerde veranlasst sehen. Die unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 152 OG wird deshalb bewilligt. Der
Beschwerdeführer trägt keine Kosten und seinem Vertreter wird eine
Entschädigung ausgerichtet.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Mario Bortoluzzi, wird aus
der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Bezirksanwaltschaft V für den
Kanton Zürich, Büro B-4, und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 14. Dezember 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: