Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.641/2004
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1P.641/2004 /sta

Urteil vom 7. Dezember 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Reeb,
Gerichtsschreiberin Scherrer.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Andreas
Mumenthaler,

gegen

Bezirksanwaltschaft Zürich, Büro G-5, Stauffacherstrassse 55, Postfach, 8026
Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Art. 9, 10 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK
(Haftentlassung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich,
Haftrichter, vom 22. Oktober 2004.
Sachverhalt:

A.
X. ________ stellte dem Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich am 19. Oktober
2004 ein Gesuch um Entlassung aus der Untersuchungshaft. Der Haftrichter wies
das Gesuch - nach Einsicht in den Antrag der Bezirksanwaltschaft auf
Fortsetzung der Untersuchungshaft - am 22. Oktober 2004 wegen
Wiederholungsgefahr ab: Gegen den Angeschuldigten bestehe der dringende
Tatverdacht der sexuellen Handlungen mit Kindern, der sexuellen Nötigung, der
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG; SR 812.121) im Sinne
von Art. 19 Ziff. 1 BetmG, der Hinderung einer Amtshandlung, der
Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung von
Ausländern (ANAG; SR 142.20) und der Körperverletzung. Dies werde von der
Verteidigung nicht bestritten. Beim Delikt des Betäubungsmittelhandels im
Sinne von Art. 19 Ziff. 1 BetmG handle es sich zweifellos um ein erhebliches
Vergehen, welches schwer wiege, weil dadurch eine Vielzahl von Personen
massiv an der Gesundheit geschädigt würden. Trotz pendenter Strafuntersuchung
habe der Angeschuldigte am 14. Juli 2004 einem Polizeibeamten in Zivil Kokain
verkauft. Ungeachtet der ihm gegenüber klar geäusserten Warnung anlässlich
der bezirksanwaltlichen Einvernahme vom 17. Juli 2004 habe der Angeschuldigte
am 14. September 2004 erneut an der Langstrasse Kokain verkauft. Da der
Angeschuldigte bereits im Jahre 2002 von einer Zeugin beim mehrfachen
Kokainverkauf beobachtet worden sei, bestehe - insbesondere aufgrund der
eingestandenen Delinquenz während des Untersuchungsverfahrens -
Wiederholungsgefahr.

B.
Gegen diese Verfügung erhebt X.________ mit Eingabe vom 19. November 2004
staatsrechtliche Beschwerde. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen
Entscheids und die sofortige Entlassung aus der Untersuchungshaft.
Gleichzeitig stellt er ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Verbeiständung.

Die Bezirksanwältin und der Haftrichter verzichten auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer ficht die Abweisung seines Haftentlassungsgesuches an
und verlangt nebst der Aufhebung der angefochtenen Verfügung die Entlassung
aus der Haft. Obwohl die staatsrechtliche Beschwerde grundsätzlich
kassatorischer Natur ist, ist im Rahmen der Beschwerde wegen Verletzung der
persönlichen Freiheit das Begehren zulässig, die kantonalen Behörden seien
anzuweisen, den Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen (BGE 124 I 327 E.
4b/aa S. 333; 115 Ia 293 E. 1a S. 297). Auf die gegen einen kantonal
letztinstanzlichen Entscheid erhobene und frist- und formgerecht eingereichte
Beschwerde ist einzutreten.

2.
2.1 Mit der Anordnung der Untersuchungshaft wurde die in Art. 10 Abs. 2 BV
garantierte persönliche Freiheit des Beschwerdeführers eingeschränkt. Ein
Eingriff in dieses Grundrecht ist zulässig, wenn er auf einer gesetzlichen
Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist;
zudem darf er den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36
BV; BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 127 I 6 E. 6 S. 18; 126 I 112 E. 3a S. 115,
je mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit
ein schwerwiegender Eingriff in die persönliche Freiheit in Frage. Eine
solche Einschränkung muss nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV im Gesetz selbst
vorgesehen sein.  Zudem darf auch nach Art. 31 Abs. 1 BV einer Person nur in
den vom Gesetz vorgesehenen Fällen die Freiheit entzogen werden.

2.2 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen Anordnung oder
Fortdauer der Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf
die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden
kantonalen Rechts frei. Soweit reine Sachverhaltsfeststellungen und damit
Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur
ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich
sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je
mit Hinweisen).

3.
Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht, stellt aber
den besonderen Haftgrund der Wiederholungsgefahr in Abrede. Unbestritten sei,
dass er am 14. Juli 2004 einem Polizeibeamten in Zivil zwei Portionen Kokain
von brutto 0.9 Gramm sowie am 14. September 2004 einer Polizeibeamtin, welche
ebenfalls als Scheinkäuferin auftrat, zwei Portionen Kokain von brutto 0.6
Gramm verkauft habe. Auch wenn dem Haftrichter darin zugestimmt werden könne,
dass es sich beim Delikt des Betäubungsmittelhandels i.S.v. Art. 19 Ziff. 1
BetmG um ein erhebliches Vergehen handle, sei angesichts der Drogenmenge
nicht von einem schwerwiegenden Vergehen auszugehen. Umso weniger habe dies
für die einzelnen Tathandlungen zu gelten. Der Beschwerdeführer vertritt die
Auffassung, es liege keine grössere Anzahl schwerer Delikte vor.

3.1 Die Voraussetzungen der Wiederholungsgefahr werden in § 58 Abs. 1 Ziff. 3
des Zürcherischen Gesetzes über den Strafprozess vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH; LS
321) aufgeführt. Neben dem allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachts
setzt die Verhängung von Untersuchungshaft gemäss § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH
voraus, dass aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden
muss, der Angeschuldigte werde, "nachdem er bereits zahlreiche Verbrechen
oder erhebliche Vergehen verübt hat, erneut solche Straftaten begehen". Zu
den verübten Taten gehören strafbare Handlungen, aufgrund welcher eine
Verurteilung erfolgt ist, sowie Delikte, die Gegenstand eines noch pendenten
Strafverfahrens bilden. Die Vorstrafenlosigkeit des Angeschuldigten steht der
Annahme der Wiederholungsgefahr damit nicht entgegen (Andreas Donatsch, in
Donatsch/Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, März
1996, N. 49 zu § 58 StPO/ZH; Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 3. Auflage,
Zürich 1997, N. 701b, S. 210). Unklar ist indessen, welche Tragweite dem
Begriff "zahlreiche" zukommt. Die Mindestzahl kann nicht in genereller Weise
festgelegt werden. Sie hängt von der Schwere der verübten Straftaten ab
(Donatsch, a.a.O., N. 50 zu § 58 StPO/ZH).

3.2 Der Inhalt einer Norm ist ausgehend von ihrem Wortlaut nach ihrem Sinn
und Zweck und den ihr zugrunde liegenden Wertungen zu ermitteln. Ziel der
Auslegung ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge,
ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis aus der ratio legis (BGE 128 III
113 E. 2a S. 114).

Die Anordnung von Haft wegen Wiederholungsgefahr nach § 58 Abs. 1 Ziff. 3
StPO/ZH verfolgt den Zweck, Verbrechen und Vergehen zu verhüten; die Haft ist
somit überwiegend Präventivhaft. Da die Präventivhaft einen schwerwiegenden
Eingriff in das Recht der persönlichen Freiheit darstellt, muss sie auf einer
hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse
liegen und verhältnismässig sein. Die Anordnung von Untersuchungshaft ist
verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und
anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Die rein
hypothetische Möglichkeit einer Verübung weiterer Delikte sowie die
Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen
dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen. Schliesslich gilt auch
bei der Präventivhaft - wie bei den übrigen Haftarten - dass sie nur als
ultima ratio angeordnet werden darf. Wo sie durch mildere Massnahmen (wie
z.B. ärztliche Betreuung, regelmässige Meldung bei einer Amtsstelle,
Anordnung von anderen evtl. stationären Betreuungsmassnahmen etc.) ersetzt
werden kann, muss von der Anordnung oder Fortdauer der Haft abgesehen und an
ihrer Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen angeordnet werden (BGE 125 I 60 E.
3a S. 62; 124 I 208 E. 5 S. 213; 123 I 268 E. 2c S. 271).

Aus dieser Rechtsprechung wird deutlich, dass es bei drohenden schweren
Verbrechen oder erheblichen Vergehen grundsätzlich nicht darauf ankommen
kann, ob der Angeschuldigte "zahlreich" delinquiert hat. Wohl ist bei der
Annahme, dass der Angeschuldigte weitere Verbrechen oder Vergehen begehen
könnte, Zurückhaltung geboten. Indes kann auch bei einer einmaligen Tat -
aufgrund der psychischen Verfassung des Verdächtigen beziehungsweise seiner
Unberechenbarkeit oder Aggressivität - Wiederholungsgefahr in Betracht
fallen. Anders zu entscheiden hiesse, die potentiellen Opfer von neuerlichen
Taten einem nicht verantwortbaren Risiko auszusetzen (Urteil 1P.462/ 2003 vom
10. September 2003 E. 3.3.2 mit Hinweis auf BGE 123 I 268 E. 2c und e S. 271
ff.).
3.3 Wie gesehen gehören zu den "verübten Taten" auch Delikte, die Gegenstand
eines noch hängigen Strafverfahrens sind (E. 3.1 hievor). Im vorliegenden
Fall sind darum neben den Verstössen gegen das BetmG auch die übrigen
Tatvorwürfe und deren zeitlicher Zusammenhang zu berücksichtigen: Dem
Angeschuldigten wird einerseits vorgeworfen, mit einem damals
vierzehnjährigen Mädchen zwischen dem 25. und dem 27. August 2002 mindestens
vier Mal Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, dies im Wissen um dessen Alter.
Während derselben Zeitspanne soll er von der nämlichen Zeugin mehrmals
beobachtet worden sein, wie er Drogen verkauft habe. Weiter wird er
beschuldigt, sich am 16. September 2002 gegen eine Verhaftung körperlich
gewehrt und versucht zu haben, zwei Polizisten von sich zu stossen. Zudem
habe er die Drogen, welche er im Mund gehabt haben soll, heruntergeschluckt.
Wie bereits erwähnt soll der Angeschuldigte sodann am 14. Juli 2004 wie auch
am 14. September 2004 erneut im Raum Langstrasse Kokain verkauft haben. Beim
zweiten Vorfall soll er zusätzlich versucht haben, sich der polizeilichen
Kontrolle zu entziehen. Überdies werden ihm mehrfache Widerhandlungen gegen
das ANAG zur Last gelegt. Im Jahre 2002 sei er mit falschen Papieren in die
Schweiz eingereist und habe ein Asylgesuch gestellt. Trotz Einreisesperre sei
er im Dezember 2003 wieder in die Schweiz gekommen. Der Beschwerdeführer wird
weiter der sexuellen Nötigung verdächtigt, da er am 5. September 2003 einen
Mann zum Oralverkehr gezwungen haben soll. Schliesslich wird ihm mehrfache
Körperverletzung vorgeworfen. Anlässlich eines verbalen Streits am 11. Mai
2004 soll es zu einem Handgemenge gekommen sein, in dessen Verlauf dem
angeblichen Opfer vom Angeschuldigten diverse Schürfungen zugefügt worden
sein sollen.

Der dringende Tatverdacht ist unbestritten. Auffallend ist die wiederholte
Straffälligkeit des Beschwerdeführers selbst während laufender
Untersuchungsverfahren. Auch der Aufenthalt in Untersuchunghaft hat ihn nicht
davon abgehalten, danach erneut zu delinquieren. Obwohl er anlässlich der
Haftentlassung am 17. Juli 2004 deutlich darauf hingewiesen worden war, er
könne bis zum Abschluss des Verfahrens in Untersuchungshaft versetzt werden,
wenn er erneut Kokain verkaufe, hat er dies dennoch kaum zwei Monate später
wieder getan. Die wiederholte Straffälligkeit während noch hängiger
Strafverfahren lässt auf eine hohe Wiederholungsgefahr schliessen. Zwar lässt
die bisherige Art der Delikte nicht schwere Gewaltverbrechen befürchten. Wie
der Beschwerdeführer selber zugesteht, sind jedoch insbesondere die Verstösse
gegen Art. 19 Ziff. 1 BetmG als erhebliche Vergehen zu qualifizieren. Auch
bei den Vorwürfen wegen sexueller Nötigung, sexueller Handlungen mit Kindern
und Körperverletzung handelt es sich mitnichten um Bagatelldelikte.
Abstellend auf die verfassungskonforme Auslegung von § 58 Abs.1 Ziff. 3
StPO/ZH vermag die Argumentation des Beschwerdeführers, die zugestandenen
zwei Verstösse gegen das BetmG am 14. Juli 2004 und 14. September 2004
erfüllten die Voraussetzungen für die Annahme von Wiederholungsgefahr nicht,
nicht zu überzeugen. Daran ändert auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer
jetzt um Verzeihung für den Drogenverkauf vom 14. September 2004 bittet,
nichts. Er war bei seiner Entlassung am 17. Juli 2004 ausdrücklich auf die
möglichen Konsequenzen einer erneuten Straffälligkeit hingewiesen worden, hat
sich aber davon nicht abhalten lassen.

3.4 Nach dem Gesagten verletzt es die Grundrechte des Beschwerdeführers
nicht, wenn im angefochtenen Entscheid die Wiederholungsgefahr bejaht wurde.
Ebenso wenig erscheint die Ansicht verfassungswidrig, die Untersuchungshaft
sei angesichts des in Frage stehenden deliktischen Verhaltens des
Beschwerdeführers verhältnismässig. Die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen
und zum Teil eingestandenen Delikte, die ungünstige Rückfallprognose und die
Schwere der zu befürchtenden Delikte rechtfertigen - gestützt auf die
verfassungskonforme Auslegung der Zürcher Bestimmung über die
Wiederholungsgefahr - die Fortsetzung der Untersuchungshaft.

4.
Aus den vorangehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Beschwerde als
unbegründet abzuweisen ist. Der Beschwerdeführer stellt das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege für das Verfahren vor Bundesgericht. Da die
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt erscheinen, kann dem Ersuchen
entsprochen werden (Art. 152 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird entsprochen.

2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Rechtsanwalt Andreas Mumenthaler wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit einem Honorar von Fr. 1'000.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Bezirksanwaltschaft Zürich, Büro
G-5, und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 7. Dezember 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: