Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.626/2004
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1P.626/2004 /ggs

Urteil vom 10. Februar 2005

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Nay, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Steinmann.

L. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Till
Gontersweiler,

gegen

Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich, Gewaltdelikte, Büro C-1,
Postfach 1233, 8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Art. 9 BV (Verfall der Barkaution),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich,
Haftrichter, vom 24. September 2004.

Sachverhalt:

A.
In der von den zürcherischen Strafverfolgungsbehörden gegen L.________ wegen
Betrugs, Veruntreuung, Misswirtschaft und andern Delikten geführten
Strafuntersuchung verordnete der zuständige Bezirksanwalt der
Bezirksanwaltschaft des Kantons Zürich gestützt auf § 73 StPO am 1. November
2000 anstelle der Untersuchungshaft u.a. folgende Ersatzanordnung:
"1.Der Angeschuldigte wird gegen Leistung einer Sicherheit in der Höhe von
Fr. 100'000.-- durch Hinterlegung einer Barkaution bei der Kasse der
Bezirksanwaltschaft I-IV aus der Untersuchungshaft entlassen.

2. Die Sicherheitsleistung verfällt dem Staat, wenn der Angeschuldigte
entweicht, untertaucht oder sich sonstwie der Untersuchungsbehörde, dem
Gericht oder dem Strafvollzug entzieht.

3. Es wird eine Pass- und Schriftensperre angeordnet. (...)"
Mit Verfügung vom 23. August 2004 erklärte der zuständige Bezirksanwalt die
geleistete Barkaution als verfallen. Zur Begründung führte er im Wesentlichen
aus, L.________ habe sich entgegen seinen Beteuerungen, ohne Schriften und
unter falschen Namen ins Ausland abgesetzt und sei untergetaucht. Er habe
sich damit der Strafverfolgung entzogen und es hätten ihm keine Vorladungen
mehr zugestellt werden können.

Gegen diese Verfügung erhob der Rechtsvertreter von L.________ bei der
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Rekurs. Dieser wurde
zuständigkeitshalber dem Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich überwiesen.
Mit Entscheid vom 24. September 2004 wies der Haftrichter den Rekurs ab.

B.
Gegen diesen Entscheid des Haftrichters hat der Rechtsvertreter von
L.________ beim Bundesgericht am 28. Oktober 2004 staatsrechtliche Beschwerde
erhoben. Er beantragt dessen Aufhebung sowie die Freigabe der Kaution. Er
rügt eine willkürliche Anwendung von § 73 StPO, weil L.________ während der
ganzen Zeit zu keiner einzigen Untersuchungshandlung vorgeladen worden sei
und daher die Voraussetzungen für die Verfallserklärung nicht erfüllt seien.

Die Bezirksanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde. Der
Haftrichter hat auf eine Stellungnahme verzichtet.
Der Beschwerdeführer hält in seiner Replik vom 17. Januar 2005 an seinen
Anträgen und seiner Begründung fest. Im Nachgang dazu liess er dem
Bundesgericht am 4. Februar 2005 weitere Unterlagen zukommen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.  Auf die
Beschwerde kann eingetreten werden. Indessen ist die unaufgeforderte und
ausserhalb der für die Replik eingeräumte Eingabe aus dem Recht zu weisen.

2.
Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Anwendung von § 73 Abs. 3 der
Strafprozessordnung des Kantons Zürich (StPO). Im Kapitel über
Ersatzanordnungen enthält die Strafprozessordnung in § 73 Abs. 1 und Abs. 3
folgende Bestimmungen:
"1.Die Untersuchungsbehörde kann dem Angeschuldigten eine Sicherheitsleistung
dafür auferlegen, dass er sich jederzeit zu Prozesshandlungen sowie zum
Antritt einer allfälligen Strafe oder Massnahme stellen werde.

3. Die Sicherheit wird als verfallen erklärt, wenn der Angeschuldigte einer
ordnungsgemässen Vorladung zu einer Prozesshandlung oder zum Vollzug einer
Strafe oder Massnahme ohne genügende Entschuldigung keine Folge leistet.
(...)"
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, seit seiner Entlassung aus der
Untersuchungshaft und der Kautionsleistung habe die Bezirksanwaltschaft keine
einzige Untersuchungshandlung vorgenommen, ihn insbesondere zu keiner
Prozesshandlung vorgeladen oder ihm gegenüber keinen Strafantrittsbefehl
erlassen. Die Bezirksanwaltschaft habe auch keine diesbezüglichen Versuche
unternommen und weder an die alte Adresse noch an diejenige des
Rechtsvertreters entsprechende Vorladungen zugestellt bzw. zuzustellen
versucht. Damit aber fehle es gemäss § 73 Abs. 3 StPO an den Voraussetzungen
für eine Verfallserklärung, weil diese Bestimmung den Verfall der Sicherheit
an das Vorliegen einer Missachtung einer ordnungsgemässen Vorladung zu einer
Prozesshandlung anknüpfe. Darüber hinaus habe die Aufrechterhaltung der
Kaution, welche insbesondere der Fluchtgefahr begegnen soll, mit der
Verhaftung des Beschwerdeführers am 25. März 2002 in der Tschechischen
Republik, seiner Auslieferung an Deutschland vom 20. September 2002 und dem
seitherigen Verbleib in Untersuchungshaft bzw. im vorzeitigen Strafvollzug
ihre Rechtfertigung verloren.
Demgegenüber vertreten der Haftrichter und die Bezirksanwaltschaft die
Auffassung, der Verfall der Sicherheit könne gleichermassen bei Flucht wie
bei Missachtung von ordnungsgemässen Vorladungen angeordnet werden. Mit
seiner Flucht ins Ausland und seinem Untertauchen habe sich der
Beschwerdeführer der Strafverfolgung entzogen. Er habe seinen Wohnsitz in der
Schweiz aufgegeben und sich ohne (gültige) Papiere unter falschem Namen nach
Liechtenstein bzw. Deutschland abgesetzt. Er sei national zur Festnahme und
auch international zur Fahndung ausgeschrieben worden. Bei dieser Sachlage
sei nicht entscheidend, dass der Beschwerdeführer nie zu einer Einvernahme
aufgeboten worden sei; eine solche Vorladung wäre von vornherein illusorisch
und damit für die Strafverfolgungsbehörden auch nicht zumutbar gewesen.

2.2 Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann nicht darauf
abgestellt werden, dass er seit dem 25. März 2002 in Haft ist und in dieser
Hinsicht die Kaution ihre Funktion nicht mehr erfüllen kann. Vielmehr ist
entscheidend, ob im Anschluss an die Kautionsleistung durch das Verhalten und
insbesondere die Flucht des Beschwerdeführers die Voraussetzungen für die
Verfallserklärung der Sicherheit geschaffen worden sind. Im Übrigen hat der
Umstand der Flucht ins Ausland die Annahme von Fluchtgefahr und damit die
Rechtfertigung für die Kaution bestätigt.

2.3 Nach § 73 Abs. 1 StPO kann dem Angeschuldigten eine Sicherheitsleistung
dafür auferlegt werden, dass er sich jederzeit zu Prozesshandlungen stellen
werde. Die Kaution verfolgt damit ganz allgemein den Zweck, den Gang der
Untersuchung sowie den Antritt einer Strafe oder Massnahme nicht dadurch zu
beeinträchtigen, dass sich der Beschuldigte den Strafverfolgungsbehörden
entzieht. Eine Beeinträchtigung erfolgt gleichermassen durch Nichtbeachtung
von Vorladungen zu Prozesshandlungen wie insbesondere auch durch Flucht.
Entzieht sich der Beschuldigte in dieser Weise den Strafverfolgungsbehörden
ohne genügende Entschuldigung, entspricht es dem generellen Zweck der
Kautionsleistung, diese grundsätzlich als verfallen zu erklären. Dies trifft
nach § 73 Abs. 3 StPO namentlich zu, wenn der Angeschuldigte einer
ordnungsgemässen Vorladung zu einer Prozesshandlung ohne hinreichende
Entschuldigung keine Folge leistet. In Anbetracht von Ziel und Zweck der
Sicherheitsleistung ist es nicht willkürlich, darüber hinaus auch die Flucht
ins Ausland als Tatbestand des Verfalls zu betrachten. Denn die Flucht stellt
die nachhaltigste Form einer Beeinträchtigung der Strafuntersuchung dar. In
diesem Sinne wird denn auch in der Literatur an erster Stelle die eigentliche
Flucht als Verfallsgrund genannt (vgl. Andreas Donatsch/ Niklaus Schmid,
Kommentar zur Strafprozesordnung des Kantons Zürich, Rz. 30 zu § 73). Daran
vermögen die detaillierten Ausführungen der genannten Autoren zur
Nichtbefolgung ordnungsgemässer Vorladungen (a.a.O., Rz. 31 ff. zu § 73), auf
die sich der Beschwerdeführer beruft, nichts zu ändern. Es wäre nicht
haltbar, im Falle einer Flucht eines Angeschuldigten ins Ausland von den
Strafverfolgungsbehörden zu verlangen, von vornherein unnütze Vorladungen an
alte Wohnadressen zu senden oder solche in einem amtlichen Publikationsorgan
zu veröffentlichen. Gleichermassen kann nicht verlangt werden, dass sie den
Beschwerdeführer nach dessen Flucht und nunmehrigen Haft in Deutschland
rechtshilfeweise befragen. Im vorliegenden Fall darf weiter berücksichtigt
werden, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht passiv geblieben sind,
sondern den Beschwerdeführer vielmehr national zur Festnahme und auch
international zur Fahndung ausgeschrieben haben. Erschwerend fällt in
Betracht, dass sich der Beschwerdeführer vorerst nach Deutschland begab, von
wo eine Auslieferung wegen seiner deutschen Nationalität von vornherein
ausgeschlossen war. An dieser Beurteilung vermag schliesslich der Einwand des
Beschwerdeführers nichts zu ändern, dass sein Rechtsvertreter, mit dem er in
Kontakt gestanden haben soll, jederzeit hätte angeschrieben werden können.
Denn es kann den Behörden angesichts von Flucht und Untertauchen unter
falschem Namen nicht zugemutet werden, diesen höchst unsicheren Weg zu
beschreiten, umso mehr als der Beschwerdeführer bei einem Erscheinen vor den
Strafverfolgungsbehörden - entgegen seiner Annahme - ernsthaft mit einer
Verhaftung hätte rechnen müssen.

Gesamthaft ergibt sich damit, dass dem Haftrichter nicht Willkür vorgehalten
werden kann, wenn er die Flucht des Beschwerdeführers als Grund für den
Verfall der Kaution betrachtete und dementsprechend den Verfall der
Sicherheit anordnete.

Die Beschwerde erweist sich damit als unbegründet.

3.

Demnach ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind
die bundesgerichtlichen Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Bezirksanwaltschaft V für den
Kanton Zürich, Gewaltdelikte, Büro C-1 sowie dem Bezirksgericht Zürich,
Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. Februar 2005

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied:  Der Gerichtsschreiber: