Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.616/2004
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1P.616/2004 /gij

Urteil vom 10. November 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Mario
Bortoluzzi,

gegen

Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich, Büro B-4, Molkenstrasse 15/17,
Postfach 1233, 8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

persönliche Freiheit (Haftentlassung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung
des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter,
vom 21. September 2004.

Sachverhalt:

A.
Die Bezirksanwaltschaft Zürich führt gegen X.________ ein Strafverfahren
wegen bandenmässigen Raubes und sexueller Handlungen mit einem Kind. Sie
wirft ihm vor, zwischen Oktober und Dezember 2003 in den Kantonen Schwyz und
Zürich mit zwei Komplizen sechs Raubüberfälle ausgeführt sowie mehrmals mit
der damals 15-jährigen Y.________ den Geschlechtsverkehr vollzogen zu haben.
X.________ wurde am 22. Februar 2004 erstmals verhaftet und am 27. Februar
2004 entlassen. Am 29. März 2004 wurde er erneut verhaftet; seit dem 31. März
2004 befindet er sich in Untersuchungshaft.

Am 16. September 2004 stellte X.________ ein Haftentlassungsgesuch, welches
vom Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich am 21. September 2004 mit der
Begründung abgewiesen wurde, es bestehe sowohl dringender Tatverdacht als
auch Kollusionsgefahr.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 25. Oktober 2004 wegen Verletzung der
persönlichen Freiheit beantragt X.________, diesen Haftrichterentscheid
aufzuheben und ihn - eventuell unter Anordnung geeigneter Ersatzmassnahmen -
unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

C.
Die Bezirksanwaltschaft Zürich beantragt unter Verweis auf ihren Antrag auf
Fortsetzung der Untersuchungshaft vom 16. September 2004 und den
angefochtenen Entscheid des Haftrichters, die Beschwerde abzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim angefochtenen Haftentscheid handelt es sich um einen kantonal
letztinstanzlichen Endentscheid, gegen den die staatsrechtliche Beschwerde
zulässig ist (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung
von verfassungsmässigen Rechten, wozu er befugt ist (Art. 88 OG). Da diese
und die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die
Beschwerde einzutreten.

1.1 Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Aufrechterhaltung von
Untersuchungshaft kann, ausser der Aufhebung des angefochtenen Entscheids,
auch die sofortige Entlassung aus der Haft verlangt werden (BGE 115 Ia 293 E.
1a). Der entsprechende Antrag des Beschwerdeführers ist daher zulässig.

1.2 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit gegen die
Aufrechterhaltung von Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht die
Auslegung und die Anwendung des kantonalen Rechts grundsätzlich frei (BGE 117
Ia 72 E. 1; 114 Ia 281 E. 3).

2.
Unbestritten ist, dass der Beschwerdeführer der ihm vorgeworfenen Taten
dringend verdächtig ist. Umstritten ist einzig, ob Kollusionsgefahr bestehe.

2.1 Untersuchungshaft kann im Kanton Zürich (u.a.) angeordnet werden, wenn
der Angeschuldigte eines Vergehens oder Verbrechens dringend verdächtig ist
und die Gefahr besteht, dass er in Freiheit fliehen oder Spuren oder
Beweismittel beseitigen, Dritte zu falschen Aussagen zu verleiten suchen oder
die Abklärung des Sachverhaltes auf andere Weise gefährden könnte (§ 58 der
Strafprozessordnung vom 4. Mai 1991, StPO). Liegt ausser dem allgemeinen
Haftgrund des dringenden Tatverdachts Kollusions- oder Fluchtgefahr vor,
steht einer Inhaftierung auch unter dem Gesichtswinkel der persönlichen
Freiheit von Art 10 Abs. 2 BV grundsätzlich nichts entgegen.

2.2 Kollusion bedeutet, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen,
Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten ins Einvernehmen
setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst. Die
Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass ein
Angeschuldigter die Freiheit dazu missbraucht, die wahrheitsgetreue Abklärung
des Sachverhaltes zu vereiteln oder zu gefährden. Dabei genügt nach der
Rechtsprechung die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in
Freiheit kolludieren könnte nicht, um die Fortsetzung der Haft unter diesem
Titel zu rechtfertigen, vielmehr müssen konkrete Indizien für eine solche
Gefahr sprechen (BGE 123 I 31 E. 3c; 117 Ia 257 E. 4b und c).

2.3 Das Untersuchungsverfahren gegen den Beschwerdeführer steht nach den
übereinstimmenden Darstellungen des Beschwerdeführers und der Bezirksanwältin
unmittelbar vor dem Abschluss. Insbesondere haben auch die
Konfrontationseinvernahmen des Beschwerdeführers mit seinen mitangeklagten
Komplizen bereits stattgefunden; ausstehend ist einzig noch die
Schlusseinvernahme. Der Haftrichter nimmt Kollusionsgefahr an, weil die
Aussagen der drei Beschuldigten offenbar gewisse Widersprüche - vor allem in
Bezug auf die genaue Rollenverteilung bei den Überfällen, den Waffeneinsatz
und die Verteilung der Beute - aufweisen, und weil der Beschwerdeführer als
junger Erwachsener die Wahl hat, vom Obergericht oder vom
Geschworenengericht, vor welchem das Unmittelbarkeitsprinzip gelte, beurteilt
zu werden.

2.4 Das vermag nicht zu überzeugen. Die beiden Komplizen des
Beschwerdeführers befinden sich, soweit ersichtlich, in Untersuchungshaft und
sind damit für den Beschwerdeführer unerreichbar, sodass eine mögliche
Kollusion jedenfalls zurzeit ausser Betracht fällt. Zudem ist der
Beschwerdeführer weitgehend geständig, und er wurde bereits mit seinen
Komplizen konfrontiert. Der Spielraum, seine Taten zu vertuschen und die
gerichtliche Wahrheitsfindung ernsthaft zu beeinträchtigen, erscheint unter
diesen Umständen sehr gering, auch für den (wohl wenig wahrscheinlichen)
Fall, dass der Beschwerdeführer eine Aburteilung durch das
Geschworenengericht verlangt, vor welchem das Unmittelbarkeitsprinzip gilt.
Dass der Beschwerdeführer mit weiteren Personen - etwa Geschädigten -
kolludieren könnte, nimmt der Haftrichter nicht an, und solches ist auch
nicht ersichtlich. Dies trifft insbesondere auch auf den Vorwurf der
sexuellen Handlungen mit Kindern zu, der sich auf das Geständnis des
Beschwerdeführers stützt, währenddem die Geschädigte bestreitet, je mit
diesem geschlafen zu haben. Der Haftrichter hat zu Unrecht Kollusionsgefahr
angenommen, die Rüge ist begründet.

2.5 Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher gutzuheissen und der
angefochtene Entscheid aufzuheben. Es rechtfertigt sich jedoch nicht, den
Beschwerdeführer durch das Bundesgericht aus der Haft zu entlassen. Der
Beschwerdeführer als junger, lediger Erwachsener mit kosovarischen Wurzeln,
der im Falle einer Verurteilung sein weiteres Fortkommen in der Schweiz
erheblich kompromittiert hat, könnte versucht sein, sich der - angesichts der
Schwere der Tatvorwürfe - drohenden empfindlichen Strafe durch Flucht in
seine Heimat zu entziehen. Die Annahme von Fluchtgefahr ist daher nicht
ausgeschlossen. Der zuständige Haftrichter wird namentlich auch diesen
besonderen Haftgrund zu prüfen und den Beschwerdeführer ohne Verzug entweder
aus der Untersuchungshaft zu entlassen oder das Haftentlassungsgesuch in
verfassungskonformer Weise abzuweisen haben.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 OG).
Hingegen hat der unterliegende Kanton Zürich dem Beschwerdeführer eine
angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG). Damit wird sein
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
1.1 Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des
Haftrichters des Bezirksgerichts Zürich vom 21. September 2004 aufgehoben.

1.2 Das Haftentlassungsgesuch wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'800.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Bezirksanwaltschaft V für den
Kanton Zürich, Büro B-4, und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. November 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: