Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.5/2004
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1P.5/2004 /gij

Urteil vom 14. Mai 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Leuthold.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Wagner,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.

Strafverfahren; Einstellungsverfügung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 14. November 2003.

Sachverhalt:

A.
Mit Eingabe vom 3. April 2003 erstattete X.________ beim Bezirksamt
Rheinfelden Strafanzeige gegen Y.________ wegen vorsätzlicher schwerer
Körperverletzung. Er machte geltend, er sei am 27. Oktober 2000 von seinem
damaligen Arbeitskollegen Y.________ bei einem Raufhandel verletzt worden,
was bleibende Schäden und eine Invalidität zur Folge gehabt habe. Die
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau stellte das Strafverfahren mit
Verfügung vom 22. September 2003 ein. Gegen die Einstellungsverfügung reichte
X.________ am 14. Oktober 2003 Beschwerde beim Obergericht des Kantons Aargau
ein. Mit Entscheid vom 14. November 2003 wies das Obergericht die Beschwerde
ab, soweit es darauf eintrat (Ziff. 1 des Dispositivs). Es wies das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ab (Ziff. 2 des Dispositivs), auferlegte die
obergerichtlichen Verfahrenskosten im Betrag von insgesamt Fr. 439.-- dem
Beschwerdeführer (Ziff. 3 des Dispositivs) und hielt fest, dieser habe seine
Parteikosten für das Beschwerdeverfahren selber zu tragen (Ziff. 4 des
Dispositivs).

B.
Gegen diesen Entscheid erhob X.________ mit Eingabe vom 5. Januar 2004 beim
Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde. Er beantragt, es seien die Ziff. 2
bis 4 des Dispositivs des angefochtenen Entscheids aufzuheben und die Sache
sei an das Obergericht zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.

C.
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Aargau stellen den
Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen. In einer Replik nahm der
Beschwerdeführer zur Vernehmlassung des Obergerichts Stellung. Dieses
äusserte sich in einer Duplik zur Replik des Beschwerdeführers.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die vorliegende Beschwerde richtet sich ausschliesslich gegen den
Kostenentscheid des Obergerichts. Der Beschwerdeführer beklagt sich über eine
Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV, weil sein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege abgewiesen wurde.

1.1 Nach dieser Vorschrift hat jede Person, die nicht über die erforderlichen
Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer
Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen
Rechtsbeistand. Ob der durch Art. 29 Abs. 3 BV garantierte Anspruch verletzt
wurde, prüft das Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht frei; soweit es um
tatsächliche Feststellungen der kantonalen Instanz geht, ist seine
Prüfungsbefugnis auf Willkür beschränkt (BGE 127 I 202 E. 3a S. 205 mit
Hinweisen).

Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer bedürftig im Sinne von Art. 29
Abs. 3 BV ist. Umstritten ist dagegen, ob seine Beschwerde gegen die
Einstellungsverfügung aussichtslos war.

1.2 Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
Prozessbegehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich
geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft
bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos,
wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder
jene nur wenig geringer sind als das Verlustrisiko. Massgebend ist, ob eine
Partei, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich bei
vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde (BGE 128 I 225
E. 2.5.3 S. 236; 125 II 265 E. 4b S. 275, je mit Hinweisen).

1.2.1 Der Beschwerdeführer hatte in seiner gegen die Einstellungsverfügung
der Staatsanwaltschaft erhobenen Beschwerde folgende Rechtsbegehren gestellt:

"1. Es sei die Einstellungsverfügung vom 22. September 2003 aufzuheben und
die Beschwerdegegnerin mit der Anklageerhebung, eventuell mit der Fortführung
der Untersuchung gegen den Beschuldigten wegen schwerer vorsätzlicher,
eventuell fahrlässiger Körperverletzung (Artikel 122/125 StGB) zu
beauftragen.

2. Es sei festzustellen, dass der Beschuldigte dem Beschwerdeführer für den
durch den Vorfall vom 27. Oktober 2000 gegenüber dem Beschwerdeführer
verursachten Schaden schadenersatz- und genugtuungspflichtig ist, mit einer
Haftungsquote von 100 %.

3.  Es sei dem Beschwerdeführer für das vorliegende Verfahren die ungeteilte
unentgeltliche Rechtspflege mit dem Unterzeichnenden als unentgeltlichem
Vertreter zu bewilligen".

Das Obergericht hielt im angefochtenen Entscheid fest, nicht zum Gegenstand
der Einstellungsverfügung gehöre die vom Beschwerdeführer beantragte
Feststellung der zivilrechtlichen Schadenersatzpflicht, welche erst in einem
Adhäsionsverfahren überprüft werden könnte. Auf dieses Beschwerdebegehren sei
daher mangels sachlicher Zuständigkeit nicht einzutreten. Sodann legte das
Obergericht dar, dass die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren zu Recht
eingestellt habe, weshalb die Beschwerde mit Bezug auf den in Ziff. 1
gestellten Antrag abzuweisen sei.

Entsprechend dem Ausgang des Beschwerdeverfahrens auferlegte das Obergericht
die Kosten dem Beschwerdeführer und sprach diesem keine Parteientschädigung
zu. Es wies das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege
und unentgeltlichen Rechtsbeistand ab. Zur Begründung führte es - soweit hier
wesentlich - Folgendes aus:

"Der Beschwerdeführer bezieht für die bei ihm als Folge des Vorfalls
festgestellte Teilinvalidität eine SUVA-Rente, und darüber hinausgehende
Schadenersatzforderungen erscheinen damit obsolet. In Frage kommen könnte
daher nur ein Anspruch auf Genugtuung gemäss Art. 49 Abs. 1 OR, die der
Beschwerdeführer, falls es zu einer Anklageerhebung oder Verurteilung des
Beschuldigten gekommen wäre, im gerichtlichen Verfahren adhäsionsweise hätte
geltend machen können. Auf die Zusprechung einer derartigen Genugtuung
bestünde mit Rücksicht auf den wahrscheinlich zugrunde liegenden
gegenseitigen Verlauf des Vorfalls wohl aber nur geringe Erfolgsaussicht. Das
Gesuch um unentgeltliche Rechtsverbeiständung ist daher abzuweisen. Dasselbe
gilt für die unentgeltliche Rechtspflege, da der Beschwerdeführer gewandt
genug ist, für sich selber zu handeln und das Begehren zudem wenig
aussichtsreich war."
1.2.2In der Vernehmlassung zur staatsrechtlichen Beschwerde erklärt das
Obergericht, für die Frage, ob die gegen die Einstellungsverfügung
eingereichte Beschwerde aussichtslos gewesen sei, komme es nicht auf die
Erfolgsaussicht der vom Beschwerdeführer geltend gemachten Zivilforderungen
an, da diese nicht Gegenstand des obergerichtlichen Beschwerdeverfahrens
hätten bilden können. Soweit im angefochtenen Entscheid bei der Beurteilung
des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege gleichwohl auf diese
Zivilforderungen Bezug genommen worden sei, handle es sich um unzutreffende
Erwägungen. Diese seien mit der Feststellung abgeschlossen worden, die
Beschwerde habe "nur geringe Erfolgsaussicht" gehabt. Das Obergericht betont,
es erachte diese Feststellung, "womit die Beschwerde, auch soweit auf sie
einzutreten war, als aussichtslos gewertet wurde", als zutreffend. Zur
Begründung für diese Auffassung verweist es auf die Akten und seinen
Entscheid über die Beschwerde, welche "im Wesentlichen in einer aktenwidrigen
(E. 2 S. 5), einer widersprüchlichen bzw. lebensfremden (E. 2 S. 5/6) und
einer an der Tatsache der unterbliebenen Strafanzeige nach der Rempelei mit
dem Beschuldigten vorbeigehenden (E. 2 S. 6 unten) Tatsachenbehauptung des
Beschwerdeführers" bestanden habe.

Der Beschwerdeführer macht in seiner Replikschrift geltend, die neuen
Erwägungen, mit denen das Obergericht in der Vernehmlassung die
Aussichtslosigkeit der gegen die Einstellungsverfügung gerichteten Beschwerde
begründet habe, seien unzutreffend.

1.2.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist ein mit
staatsrechtlicher Beschwerde angefochtener Entscheid erst dann aufzuheben,
wenn er im Ergebnis gegen die Verfassung verstösst, nicht schon dann, wenn
die Begründung verfassungswidrig ist. Das Bundesgericht hat somit die
Möglichkeit, die Motive des umstrittenen Entscheids zu ersetzen (BGE 124 I
208 E. 4a S. 211; 122 I 257 E. 5 S. 262).

Die Staatsanwaltschaft führte in der Einstellungsverfügung aus, es sei
unbestritten und werde durch Zeugen bestätigt, dass der Beschwerdeführer am
27. Oktober 2000 zur fraglichen Zeit forsch auf den Platz seiner
Arbeitgeberfirma gefahren und der Beschuldigte Y.________ zur Seite
gesprungen sei. Dieser habe ausgesagt, dass er den Beschwerdeführer wegen des
erwähnten Verhaltens am Kragen gepackt habe. Die anschliessende Situation sei
von keinem Zeugen im Detail beobachtet worden. Die Aussagen des Beschuldigten
und des Beschwerdeführers würden diesbezüglich extrem auseinander gehen und
jeder behaupte, er sei vom anderen grundlos geschlagen worden. Aufgrund der
beschriebenen Sachlage könne dem Beschuldigten nicht nachgewiesen werden,
dass er "mit Körpergewalt - ausser dem Packen am Kragen - gegen seinen
Kontrahenten vorgegangen" sei. Bereits aus diesem Grunde müsse das
Strafverfahren eingestellt werden. Im Übrigen könne aufgrund der beigezogenen
medizinischen Unterlagen eine "Kausalität der körperlichen Behinderung zur
Schlägerei" nicht hergestellt werden. Auch die ärztlichen Untersuchungen
hätten keinen Hinweis dafür erbracht, dass der Beschwerdeführer aufgrund der
Auseinandersetzung mit Y.________ eine schwere Körperverletzung erlitten
habe. In Berücksichtigung dieser Fakten sei erstellt, dass der Tatbestand der
schweren Körperverletzung nicht erfüllt sein könne. Auf den Tatbestand der
einfachen Körperverletzung müsse nicht eingegangen werden, weil der
erforderliche Strafantrag nicht gestellt worden sei.

In der gegen die Einstellungsverfügung erhobenen Beschwerde wurde, wie
erwähnt (E. 1.2.1 Abs. 2), mit dem Antrag Ziff. 2 ein unzulässiges Begehren
gestellt, auf welches das Obergericht nicht eintreten konnte. Die Beschwerde
war in diesem Punkt aussichtslos. Zum Antrag Ziff. 1, mit dem die Aufhebung
der Einstellungsverfügung verlangt worden war, hielt das Obergericht im
angefochtenen Entscheid fest, entscheidend für die Frage der Fortsetzung des
Strafverfahrens sei, ob dem Beschuldigten überhaupt eine schädigende Handlung
nachgewiesen werden könne. Das vom Beschuldigten zugegebene "Packen am
Kragen" genüge dazu jedenfalls nicht, da es sich dabei um keinen
tatbestandsrelevanten Eingriff in die körperliche Integrität des
Beschwerdeführers handle. Entgegen dessen Behauptung liessen sich keine
Augenzeugen finden, die den Beginn oder den Verlauf der Auseinandersetzung
zwischen dem Beschwerdeführer und dem Beschuldigten lückenlos hätten
beobachten können. Es lägen keine genügenden Anhaltspunkte dafür vor, dass
die Verletzung des Beschwerdeführers durch eine Handlung des Beschuldigten im
Sinne der Körperverletzungstatbestände von Art. 122 bis 125 StGB zugefügt
worden wäre, und dies lasse sich auch durch weitere Ermittlungen nicht besser
abklären. Ob es zu Tathandlungen im Sinne des Tätlichkeitstatbestands
gekommen sei, könne dahingestellt bleiben, da es sich dabei um ein
Antragsdelikt handle und die Antragsfrist gemäss Art. 29 StGB seit Januar
2001 abgelaufen sei. Aufgrund dieser Erwägungen des Obergerichts lässt sich
in vertretbarer Weise annehmen, mit Bezug auf den Antrag auf Aufhebung der
Einstellungsverfügung seien die Gewinnaussichten beträchtlich geringer
gewesen als die Verlustgefahren, weshalb die Beschwerde auch in diesem Punkt
aussichtslos gewesen sei. Fehlte es aber am Erfordernis der
Nichtaussichtslosigkeit der gegen die Einstellungsverfügung erhobenen
Beschwerde, so konnte das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
unentgeltlichen Rechtsbeistand ohne Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV
abgewiesen werden.
Mit dieser substituierten Begründung hält der angefochtene Kostenentscheid
des Obergerichts im Ergebnis vor der Verfassung stand. Die staatsrechtliche
Beschwerde ist daher abzuweisen.

2.
Da sich der Beschwerdeführer aufgrund der unzutreffenden Erwägungen im
obergerichtlichen Kostenentscheid in guten Treuen zur Beschwerdeführung
veranlasst sehen konnte, rechtfertigt es sich, für das bundesgerichtliche
Verfahren keine Kosten zu erheben und ihm zulasten des Kantons Aargau eine
Entschädigung zuzusprechen (Art. 159 Abs. 3 OG). Damit wird das Begehren um
unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 14. Mai 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: