Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.583/2004
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1P.583/2004 /ggs

Urteil vom 14. Dezember 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Féraud, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Gerber.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Urs Studer,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Bielstrasse 9, 4502 Solothurn,
Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, Amthaus 1, Postfach 157, 4502
Solothurn,

Mitbeteiligter:
Y.________.

Abschreibungsbeschluss,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons
Solothurn, Strafkammer, vom 3. September 2004.

Sachverhalt:

A.
Am 6. Mai 2004 verurteilte das Amtsgericht Olten-Gösgen X.________ wegen
unrechtmässiger Verwendung von Vermögenswerten zu einer bedingten
Gefängnisstrafe von 6 Monaten und verpflichtete ihn, der Zivilpartei
Y.________ Fr. 158'220.45 nebst 5% Zins ab 20. November 2001 zu bezahlen.

Gegen dieses Urteil erhob X.________ Appellation an das Obergericht des
Kantons Solothurn.

B.
Mit Schreiben vom 5. Juli 2004 teilte der Präsident der Strafkammer des
Obergerichts X.________ mit, dass er die Appellation aufgrund der Akten und
nach vorläufiger Prüfung als aussichtslos erachte und  deshalb empfehle, das
Rechtsmittel zurückzuziehen. Dem Schreiben lag ein Antworttalon bei, auf dem
X.________ ankreuzen sollte, ob er die Appellation ganz oder teilweise
zurückziehe oder sie vollumfänglich aufrechterhalte. Im Schreiben hiess es
weiter:
"Ohne Ihren ausdrücklichen Gegenbericht bis 26. Juli 2004 nehmen wir an, dass
Sie auf die Fortsetzung des Rechtsmittelverfahrens verzichten, und werden die
Appellation als durch Verzicht erledigt abschreiben".
Dieses Schreiben kam am 19. Juli 2004 wieder an die Gerichtskanzlei zurück,
nachdem es innerhalb der Frist von sieben Tagen nicht bei der Post abgeholt
worden war. Daraufhin schickte das Obergericht X.________ am 21. Juli 2004
eine weitere Rückzugsempfehlung, in der eine neue Frist bis 11. August 2004
gesetzt wurde.

C.
Am 3. September 2004 beschloss die Strafkammer des Obergerichts, dass die von
X.________ erhobene Appellation zufolge Verzichts auf die Durchführung des
Rechtsmittelverfahrens als erledigt von der Geschäftskontrolle abgeschrieben
werde; X.________ wurden die Prozesskosten in Höhe von Fr. 200.-- auferlegt.

D.
X.________ nahm erst am 5. September 2004, nach seiner Rückkehr von einem
Auslandsaufenthalt, von der Rückzugsempfehlung Kenntnis. Mit Schreiben vom 6.
September 2004 teilte er dem Obergericht mit, dass er seine Appellation
vollumfänglich aufrecht erhalte.

Die Strafkammer des Obergerichts antwortete mit Schreiben vom 7., 13. und 24.
September 2004, dass sie auf den Abschreibungsbeschluss nicht zurückkommen
werde.

E.
Am 11. Oktober 2004 erhob X.________ staatsrechtliche Beschwerde an das
Bundesgericht mit dem Antrag, der Abschreibungsbeschluss vom 3. September
2004 sei aufzuheben und das Obergericht sei anzuweisen, das
Appellationsverfahren durchzuführen. Zudem ersucht er um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege und der unentgeltlichen Verbeiständung.

F.
Das Obergericht beantragt Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde. Die
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn schliesst auf Nichteintreten.
Y.________ hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

In seiner Replik vom 29. November 2004 hält der Beschwerdeführer an seinen
Anträgen fest.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte
(Art. 84 Abs. 1 lit. a OG) steht nur gegen letztinstanzliche kantonale
Entscheide offen (Art. 86 Abs. 1 OG).

1.1 Die Staatsanwaltschaft macht geltend, gegen den Abschreibungsbeschluss
könne auf kantonaler Ebene noch ein Gesuch um Aufhebung der Säumnisfolgen
analog §§ 27, 168 und 178 Abs. 3 der Solothurner Strafprozessordnung vom 7.
Juni 1970 (StPO) gestellt werden. Das Schreiben des Beschwerdeführers vom 6.
September 2004 hätte als derartiges Gesuch behandelt werden müssen. Da ein
Entscheid darüber noch ausstehe, liege kein kantonal letztinstanzlicher
Entscheid vor.

1.2 Ein kantonaler Entscheid ist letztinstanzlich, wenn die Rügen, die
Gegenstand der staatsrechtlichen Beschwerde sind, vor keiner weiteren
Gerichts- oder Verwaltungsinstanz des Kantons vorgebracht werden können (BGE
116 Ia 76 E. 1 S. 77; 110 Ia 71 E. 2 S. 71; 105 Ia 15 E. 2 S. 18).

Im Verfahren der Aufhebung der Säumnisfolgen könnte der Beschwerdeführer
geltend machen, von der Abschreibungsempfehlung keine Kenntnis erhalten zu
haben oder aus wichtigen Gründen an der Einhaltung der darin enthaltenen
Frist gehindert gewesen zu sein (§ 27 Abs. 1 lit. a und b StPO analog). Im
vorliegenden Verfahren rügt der Beschwerdeführer jedoch etwas anderes: Er
macht geltend, es verstosse gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29
Abs. 2 BV) und das Willkürverbot (Art. 9 BV), ein Rechtsmittelverfahren ohne
eine ausdrückliche Rückzugserklärung abzuschreiben. Diese Rüge kann nicht mit
einem Gesuch um Aufhebung der Säumnisfolgen geltend gemacht werden. Der
Abschreibungsbeschluss ist deshalb als kantonal letztinstanzlich zu
betrachten.

1.3 Da alle übrigen Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen, ist auf die
staatsrechtliche Beschwerde einzutreten.

2.
2.1 Das Bundesgericht hat schon mehrfach entschieden, dass der Rückzug eines
Rechtsmittels klar, ausdrücklich und unbedingt erfolgen müsse (BGE 119 V 36
E. 1b S. 38 mit Hinweisen); insbesondere könne ein Rechtsmittel nicht
stillschweigend, durch Nichtreagieren auf eine gerichtliche
Rückzugsempfehlung, zurückgezogen werden (BGE 111 V 156 E. 3b S. 158 f.).
Dies gilt jedenfalls dann, wenn das anwendbare Prozessrecht den
stillschweigenden Verzicht auf ein Rechtsmittel nicht vorsieht.

2.2 Die Solothurner Strafprozessordnung regelt lediglich die Kostenfolge
eines Rückzugs (§ 170 Abs. 1 StPO) und den Eintritt der Rechtskraft infolge
Rückzugs eines Rechtsmittels (§ 171 Abs. 2 lit. d StPO); sie enthält dagegen
keine besonderen Bestimmungen über die Rückzugserklärung.

Art. 14 Abs. 3 des Geschäftsreglements des Obergerichts des Kantons Solothurn
und der ihm angegliederten Spezialgerichte vom 11. September 1998 erwähnt
zwar ausdrücklich "Empfehlungen, die Klage oder das Rechtsmittel
zurückzuziehen, wenn diese aussichtslos sind und die Rechtslage vollständig
klar ist". Es handelt sich jedoch lediglich um einen klärenden Vorbehalt zu
dem in Abs. 1 der genannten Bestimmung verankerten Gebot, wonach die
Mitglieder des Obergerichts sich grundsätzlich jeder Meinungsäusserung über
hängige Prozesse gegenüber Dritten zu enthalten haben. Die Bestimmung enthält
dagegen keine Aussage zur Rückzugserklärung selbst und erlaubt es
insbesondere nicht, vom Erfordernis einer ausdrücklichen Rückzugserklärung
abzusehen.

2.3 Unter diesen Umständen muss eine Partei, die Appellation erhoben hat,
nicht damit rechnen, dass ihre Appellation wegen blosser Untätigkeit, ohne
eine ausdrückliche Rückzugserklärung, abgeschrieben wird. Die Praxis des
Obergerichts würde darauf hinauslaufen, zusätzlich zur form- und
fristgerechten Appellationserklärung gemäss § 176 StPO eine weitere,
gesetzlich nicht vorgesehene "Festhaltenserklärung" zu verlangen, bevor das
Obergericht sich mit der Sache befasst (vgl.  BGE 111 V 156 E. 3b S. 159).
Das Abschreiben einer Appellation mangels rechtzeitiger Erklärung, an der
Appellation festhalten zu wollen, ist daher willkürlich und stellt eine
formelle Rechtsverweigerung dar, die Art. 29 Abs. 1 BV verletzt.

2.4 Zwar kann eine Partei nach Solothurner Recht ihr Appellations recht
verwirken, wenn sie an der dem Gericht zuletzt angegebenen Adresse nicht
vorgeladen werden kann oder wenn sie trotz gehöriger Vorladung in der
Hauptverhandlung ausbleibt (§ 178 StPO). Diese - gesetzlich ausdrücklich
geregelten - Fälle der Verwirkung liegen jedoch im vorliegenden Fall
unstreitig nicht vor. Im Übrigen zeigt diese Bestimmung, dass es auch ohne
den Rückgriff auf einen stillschweigend erklärten Rückzug Möglichkeiten gibt,
ein Appellationsverfahren zu beenden, an dessen Durchführung der Appellant
das Interesse verloren hat.

3.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene
Entscheid aufzuheben. Mit der Aufhebung des Abschreibungsbeschlusses ist die
Appellation automatisch wieder vor Obergericht hängig. Es bedarf deshalb
keiner besonderen Anweisung an das Obergericht, das Appellationsverfahren
durchzuführen.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens obsiegt der Beschwerdeführer und hat
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 OG). Sein Gesuch um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege und um Verbeiständung wird damit
gegenstandslos. Dem Kanton Solothurn sind keine Gerichtskosten aufzuerlegen
(Art. 156 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und der
Abschreibungsbeschluss des Obergerichts des Kantons Solothurn, Strafkammer,
vom 3. September 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Solothurn hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, sowie dem Mitbeteiligten
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 14. Dezember 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: