Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.571/2004
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1P.571/2004 /ggs

Urteil vom 6. Juni 2005

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Ersatzrichter Seiler,
Gerichtsschreiberin Gerber.

1. A.________,
2.B.________,
3.C.________,
4.D.________ und E.________,
Beschwerdeführer, alle vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Peter Clavadetscher,

gegen

X.________ AG, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Armon Vital,
Gemeinde Samnaun, 7562 Samnaun-Compatsch, vertreten durch Rechtsanwalt Dr.
Otmar Bänziger,
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 4. Kammer, Obere Plessurstrasse 1,
7001 Chur.

Baueinsprache,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil R 03 110 des Verwaltungsgerichts
des Kantons Graubünden,

4. Kammer, vom 30. Juni 2004.
Sachverhalt:

A.
Am 8. Oktober 2002 reichte die X.________ AG bei der Baubehörde der Gemeinde
Samnaun ein Baugesuch für die Erweiterung ihres bestehenden Ladengeschäfts im
Haus Y.________ auf der Parzelle Nr. 61 ein. Gegen das Gesuch erhoben
A.________, B.________, C.________ sowie D.________ und E.________
Einsprache. Am     27. November 2003 wies die Baubehörde die Einsprache ab
und erteilte die Baubewilligung.

B.
Dagegen erhoben die Einsprecher am 18. Dezember 2003 Rekurs an das
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, welches das Rechtsmittel mit
Urteil vom 30. Juni 2004, mitgeteilt am 6. September 2004, abwies (Urteil R
03 110).

C.
A.________, B.________, C.________ sowie D.________ und E.________ erhoben am
7. Oktober 2004 staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Verwaltungsgerichts sei aufzuheben.

Die X.________ AG teilt die Auffassung der Beschwerdeführer, wonach das
angefochtene Urteil aus formellen Gründen aufgehoben werden müsse, weist aber
die übrigen Vorbringen der Beschwerdeführer zurück. Die Gemeinde Samnaun und
das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden beantragen, die Beschwerde sei
abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.

In dem vom Bundesgericht angeordneten zweiten Schriftenwechsel halten die
Parteien an ihren Darlegungen fest.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gegen den kantonal letztinstanzlichen, auf kantonales Recht gestützten
Endentscheid ist grundsätzlich die staatsrechtliche Beschwerde zulässig (Art.
84 und 86 Abs. 1 OG).

1.1 Die Beschwerdeführer sind als Eigentümer bzw. Mieter benachbarter
Parzellen legitimiert, mit staatsrechtlicher Beschwerde eine willkürliche
Anwendung von Bauvorschriften zu rügen, die (auch) dem Schutz nachbarlicher
Interessen dienen (Art. 88 OG; BGE 127 I 44    E. 2c S. 46). Dazu gehören
auch Bestimmungen über die Gebäudeabstände und Ausnützungsziffern (BGE 127 I
44 E. 2d S. 47), deren willkürliche Anwendung die Beschwerdeführer in erster
Linie rügen.

1.2 Die Beschwerdeführer rügen zudem willkürliche Annahmen des
Verwaltungsgerichts beim Parkplatznachweis.

Vorschriften über die minimale Parkplatzzahl dienen nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht nachbarlichen, sondern öffentlichen
Interessen, so dass die Nachbarn nicht legitimiert sind, eine willkürliche
Anwendung solcher Vorschriften zu rügen (BGE 107 Ia 72 E. 2b S. 74 f.; Urteil
1P.309/1994 vom 29. Dezember 1994, publ. in RDAF 1995 S. 162, E. 3a). Die
Beschwerdeführer stellen diese Rechtsprechung für Samnaun in Frage, da sich
grosse Touristenströme in das Dorf ergiessen und die fehlenden Parkplätze bei
einem Einkaufszentrum regelmässig dazu führten, dass auf den Plätzen der
Nachbarn parkiert werde. Es kann offen bleiben, ob an der bisherigen
bundesgerichtlichen Rechtsprechung festzuhalten ist, weil die Beschwerde auch
materiell unbegründet wäre:

Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Entscheid ausgeführt, da das
Bauvorhaben keine zusätzliche Ausnützungsziffer (AZ) benötige und auch der
Nutzungszweck derselbe bleibe, also keine Nutzungsintensivierung vorliege,
erübrige sich die Einholung eines Parkplatznachweises. Dies mag etwas
unpräzis formuliert sein, da gemäss dem kommunalen Parkplatzreglement für den
Parkplatzbedarf nicht auf die AZ, sondern (unter anderem) auf die Ladenfläche
abzustellen ist. Wenn - wie die Beschwerdeführer vorbringen - die Ladenfläche
zunähme, wären somit zusätzliche Parkplätze zu erstellen.

Indessen weist die Gemeinde in ihrer Vernehmlassung unter Hinweis auf die
Baupläne detailliert nach, dass zwar einerseits eine zusätzliche Ladenfläche
von 27.84 m2 geschaffen, zugleich aber auch eine bisherige Ladenfläche von
28.72 m2 aufgehoben werde, so dass netto keine zusätzliche Ladenfläche
geschaffen werde. Die Beschwerdeführer berechnen demgegenüber im zweiten
Schriftenwechsel die zusätzliche Ladenfläche mit 28.77 m2, die aufgehobene
mit 25.17 m2, so dass netto die Ladenfläche vergrössert werde. Welche
Berechnung richtig ist, kann dahingestellt bleiben: Ein zusätzlicher
Parkplatz wäre nach der von den Beschwerdeführern selber zitierten Bestimmung
des Parkplatzreglements nur pro 12 m2 Ladenverkaufsfläche erforderlich, was
auch nach der Berechnung der Beschwerdeführer bei weitem nicht erreicht ist.
Offensichtlich unbegründet ist sodann die Kritik, das Verwaltungsgericht habe
die im kantonalen Verfahren vorgebrachten Rügen bezüglich der bestehenden
Parkplätze nicht geprüft. Streitig war ein Umbauvorhaben. In diesem Rahmen
sind nur die infolge dieses Vorhabens allenfalls zusätzlich erforderlichen
Parkplätze rechtserheblich. Hingegen kann ein Umbauvorhaben nicht als Anlass
dienen, die Rechtmässigkeit der bestehenden Anlage umfassend zu prüfen. Es
ist daher keine Gehörsverletzung, wenn das Verwaltungsgericht auf die Kritik
an den bisherigen Parkplätzen nicht eingegangen ist.

2.
Das Verwaltungsgericht ist mit der Baubehörde Samnaun davon ausgegangen, die
vorliegend umstrittene Umnutzung beanspruche gegenüber der bisherigen,
rechtskräftig bewilligten Nutzung keine zusätzliche Bruttogeschossfläche.
Gemäss der Praxis der Gemeinde könne in Fällen, bei welchen lediglich eine
Umlagerung im Rahmen der bisherigen rechtskräftig bewilligten Flächen erfolge
und nicht mehr AZ als bisher beansprucht werde, von einer detaillierten
Neuberechnung der AZ über die ganze Baute abgesehen werden.

2.1 Die Beschwerdeführer stellen die Rechtmässigkeit der Praxis in Frage, bei
einem AZ-neutralen Umbau auf einen vollständigen AZ-Nachweis für das ganze
bestehende Gebäude zu verzichten. Indessen hat das Bundesgericht mit
Entscheid vom heutigen Tag in dem die gleichen Parteien betreffenden
Verfahren 1P.487/2004 (E. 3.2) entschieden, dass diese Praxis
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Davon ist auch für das
vorliegende Verfahren auszugehen.

2.2 Unbegründet ist auch die Rüge der Beschwerdeführer, das
Verwaltungsgericht habe seine Kognition in unzulässiger Weise eingeschränkt.
Auch hierfür kann auf den Entscheid im Verfahren 1P.487/2004 (E. 3.1)
verwiesen werden.

2.3 Im zweiten Schriftenwechsel machen die Beschwerdeführer zudem geltend,
die Ladenfläche werde vergrössert (vgl. vorne E. 1.2). Abgesehen davon, dass
im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde die Rügen in der
Beschwerdeschrift vorzubringen sind und nicht erst im zweiten
Schriftenwechsel (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG), würde dies auch nichts ändern:
Da sowohl Laden-, als auch Büro-, Lager- und Treppenflächen anrechenbar sind,
hat die Umwandlung der einen in die andere Nutzung keine Erweiterung der
AZ-pflichtigen BGF zur Folge.

3.
Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung der Bestimmungen über die
Gebäudeabstände.

3.1 Das bestehende Gebäude ist in seinem östlichen Teil eingeschossig, wobei
die Decke eine Terrasse mit Brüstung bildet. Das Bauvorhaben sieht vor, in
diesem Bereich die Decke um 50 cm anzuheben, ohne aber die Brüstung der
Terrasse zu erhöhen. Das Verwaltungsgericht hat erwogen, diese Anhebung gehe
zulasten der bestehenden Brüstung, die bereits bei der Ermittlung der
massgebenden Gebäudehöhe im Zuge der früheren Baubewilligungsverfahren
mitentscheidend gewesen sei. Durch die Anhebung der Decke werde daher die
massgebende Gebäudehöhe nicht verändert, weshalb auch kein grösserer
Gebäudeabstand einzuhalten sei. Das Verwaltungsgericht berief sich hierfür
auf Art. 42 des Baugesetzes der Gemeinde Samnaun vom    15. Juli 1985 (BG),
wonach als An- und Nebenbauten oberirdische Baukörper gelten, deren
Gebäudehöhe an keinem Punkt mehr als 3.5 Meter (inkl. Brüstung und
Einführung) beträgt.
Die Beschwerdeführer machen geltend, der fragliche Teil sei keine Anbaute im
Sinne dieser Bestimmung. Für die Ermittlung der Gebäudehöhe sei daher Art. 47
BG massgebend, wonach sich die Höhe nicht bis Oberkante Brüstung, sondern bis
zum Schnitt von Wand und Dachfläche bemesse. Durch die Anhebung der Decke
werde also die Gebäudehöhe verändert, so dass die massgebenden
Gebäudeabstände zu respektieren wären.

3.2 Das Bundesgericht überprüft im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde
die Anwendung kantonalen und kommunalen Rechts durch die kantonalen Behörden
nur auf Willkür hin. Ein Entscheid ist willkürlich, wenn er offensichtlich
unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, auf
einem offenkundigen Versehen beruht, eine Norm oder einen unumstrittenen
Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Willkür liegt sodann nur vor, wenn nicht
bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar
ist (BGE 129 I 173 E. 3.1 S. 178, mit Hinweisen).

3.3 Die rein appellatorischen Ausführungen der Beschwerdeführer zum Begriff
der Anbaute machen die Anwendung von Art. 42 BG nicht willkürlich: Denn diese
Bestimmung stellt nicht auf einen anderswo definierten Begriff der Anbaute
ab, sondern definiert umgekehrt als Anbaute sämtliche Baukörper, deren Höhe
nicht mehr als 3.5 Meter beträgt.

3.4 Die Beschwerdeführer bringen allerdings vor, der Gebäudeteil sei höher
als 3.5 Meter, nämlich von der 0-Kote aus 3.7 Meter, in Wirklichkeit aber
wohl noch höher, da das bestehende Terrain höher liege als das massgebende
gewachsene Terrain.

Von vornherein unbehelflich sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen der
Beschwerdeführer, soweit sie unter Berufung auf die Pläne vorbringen, die
Brüstung sei bis zu 4.4 Meter hoch. Denn dies bezieht sich auf die
Westfassade, während sich der hier streitige Gebäudeteil auf der Ostseite des
Gebäudes befindet.

Auch sonst ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht willkürlich:
Unbestritten ist der Gebäudeteil samt Brüstung vorbestehend. Die
Beschwerdeführer machen nicht substanziiert geltend, er sei ohne
Baubewilligung oder in Überschreitung einer solchen erstellt worden. Es kann
daher willkürfrei davon ausgegangen werden, dass die bestehende Baute
zumindest formell rechtmässig ist und Art. 42 BG entspricht. Unter diesen
Umständen ist es nicht willkürlich, wenn auch für das Umbauprojekt, bei
welchem unbestritten die Oberkante der Brüstung nicht erhöht wird, von dieser
bisherigen Rechtslage ausgegangen wird. Jedenfalls ist dies im Ergebnis in
Bezug auf die hier massgebenden nachbarlichen Interessen klarerweise nicht
unhaltbar: Es ist unerfindlich, inwiefern durch die Anhebung der Decke die
Beschwerdeführer - wie sie behaupten - an Sicht und Besonnung beeinträchtigt
werden könnten, werden doch die von aussen sichtbaren Masse des Gebäudeteils
nicht verändert.

3.5 Unter diesen Umständen war das Verwaltungsgericht auch nicht
verpflichtet, Abklärungen zum gewachsenen Terrain vorzunehmen bzw. sämtliche
der Beschwerdegegnerin früher erteilten Baubewilligungen zu edieren.

4.
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich damit als unbegründet, soweit
darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens tragen die
Beschwerdeführer die Kosten des Verfahrens (Art. 156 Abs. 1 OG). Sie haben
zudem der Beschwerdegegnerin die Parteikosten zu ersetzen (Art. 159 Abs. 2
OG), ebenso der Gemeinde Samnaun, die als kleine Gemeinde ohne eigenen
Rechtsdienst auf den Beizug eines Anwalts angewiesen war.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 4'000.-- wird den Beschwerdeführern auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführer haben die Beschwerdegegnerin und die Gemeinde Samnaun
für das bundesgerichtliche Verfahren mit je Fr. 3'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Gemeinde Samnaun und dem
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 4. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. Juni 2005

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: