Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.542/2004
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1P.542/2004 /sta

Urteil vom 19. Oktober 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Féraud, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Schoder.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch
Advokat Christoph Dumartheray,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft, Bahnhofplatz 3a, 4410
Liestal,
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht,
Bahnhofplatz 16/II, Postfach 635, 4410 Liestal.

Art. 9, 10 und 31 BV (vorläufiger Massnahmevollzug),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht, vom 1. September 2004.
Sachverhalt:

A.
X. ________ wurde mit Urteil vom 23. Juli 2004 vom Strafgericht des Kantons
Basel-Landschaft zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, wobei der Strafvollzug
zugunsten einer stationären Behandlung in einer Heil- oder Pflegeanstalt
aufgeschoben wurde. Gegen dieses Urteil legte sowohl er als auch die
Staatsanwaltschaft Appellation ein. X.________ befindet sich seither in
Sicherheitshaft.

B.
Mit Verfügung vom 1. September 2004 verlängerte das Kantonsgericht die
Sicherheitshaft gegenüber X.________ bis zur zweitinstanzlichen
Hauptverhandlung, längstens bis zum 1. März 2005, und wies dessen Antrag um
vorzeitigen Massnahmevollzug ab. Als Begründung führte das Kantonsgericht an,
dass Fluchtgefahr bestehe und somit nach wie vor ein Grund für die
Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft vorliege.

In derselben Verfügung hob das Kantonsgericht die Sicherheitshaft gegenüber
einem Mitangeklagten mangels Kollusionsgefahr auf und bewilligte dessen
Gesuch um vorzeitigen Strafantritt.

C.
Mit Schreiben vom 3. September 2004 beantragte X.________ beim Kantonsgericht
den vorläufigen Strafvollzug. Er wies darauf hin, dass dem Mitangeklagten der
vorzeitige Strafvollzug bewilligt wurde und kein Grund ersichtlich sei,
weshalb nicht auch ihm der vorläufige Strafvollzug bewilligt werde.

Mit Schreiben vom 8. September 2004 präzisierte X.________ sein Gesuch in dem
Sinn, dass er die Bewilligung des vorläufigen Strafvollzugs, eventualiter die
Bewilligung der Verlegung in eine Vollzugsanstalt beantrage.

Mit Verfügung vom 17. September 2004 wies das Kantonsgericht das Gesuch um
Bewilligung des vorzeitigen Strafantritts ab, bewilligte aber den
Eventualantrag betreffend die Verlegung in eine geeignete
Strafvollzugsanstalt unter der Bedingung, dass der Fluchtgefahr hinreichend
Rechnung getragen wird.

D.
Mit Eingabe vom 26. September 2004 hat X.________ gegen die Verfügung des
Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 1. September 2004 staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9, 10 und 31 BV erhoben. Der
Beschwerdeführer beantragt, die Verfügung aufzuheben und zur neuen
Beurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen. Ferner ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.

E.
Das Kantonsgericht hat sich mit Eingabe vom 5. Oktober 2004 vernehmen lassen.
Es beantragt die Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde. Die
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft hat keine Vernehmlassung
eingereicht.

F.
Der Beschwerdeführer hat mit Eingabe vom 15. Oktober 2004 repliziert.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim angefochtenen Entscheid des Kantonsgerichts handelt es sich um einen
kantonal letztinstanzlichen Endentscheid, gegen den die staatsrechtliche
Beschwerde zulässig ist (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer rügt, die
Weigerung, ihn in den vorzeitigen Massnahmevollzug zu überführen, verletze
seine verfassungsmässigen Rechte; dazu ist er befugt (Art. 88 OG). Da diese
und die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die
Beschwerde einzutreten.

2.
Der Beschwerdeführer bringt nicht vor, die Voraussetzungen zur Verlängerung
der Sicherheitshaft bis zur zweitinstanzlichen Hauptverhandlung seien nicht
erfüllt. Er macht geltend, die Verweigerung des vorzeitigen Antritts des
Massnahmevollzugs gründe auf einer willkürlichen Anwendung des kantonalen
Strafprozessrechts. Insbesondere sei die Tatsache, dass Fluchtgefahr bestehe,
kein sachlicher Grund, um den vorzeitigen Massnahmevollzug zu verweigern. Die
Verweigerung des vorzeitigen Antritts der Massnahme stelle zudem eine
"unzulässige Einschränkung" seiner persönlichen Freiheit und einen
"unverhältnismässigen Freiheitsentzug" dar, weshalb auch Art. 10 und Art. 31
BV verletzt seien.

3.
3.1 In § 89 enthält das Gesetz betreffend die Strafprozessordnung des Kantons
Basel-Landschaft vom 3. Juni 1999 (StPO/BL) eine Vorschrift über die
Verlegung in eine Vollzugsanstalt und über den vorzeitigen Straf- oder
Massnahmeantritt. Die einschlägigen Absätze 1 und 3 lauten folgendermassen:
1Auf Antrag der verhafteten Person kann die Untersuchungshaft in einer
geeigneten Straf- oder Massnahmeanstalt vollzogen werden. Die
Verfahrensleitung gibt dem Antrag statt, wenn nicht wichtige Interessen der
Untersuchung entgegenstehen.
3Liegt kein Haftgrund mehr vor, ist jedoch mit grosser Wahrscheinlichkeit
eine Verurteilung zu einer unbedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe zu
erwarten, kann die Vollzugsbehörde auf Antrag der verhafteten Person und im
Einverständnis mit der Verfahrensleitung, der Staatsanwaltschaft und dem
Präsidium des in der Hauptsache zuständigen Gerichts den vorzeitigen Straf-
oder Massnahmeantritt bewilligen. Wird die Bewilligung erteilt, findet unter
Vorbehalt von Absatz 4 keine Haftüberprüfung mehr statt.
Nach dem insoweit klaren Wortlaut dieser Bestimmung besteht gestützt auf
kantonales Strafprozessrecht kein Anspruch auf vorzeitigen Antritt des Straf-
oder Massnahmevollzugs. Im Gegenteil ist der vorzeitige Sanktionenvollzug
überhaupt erst möglich, wenn kein Haftgrund mehr vorliegt. Bei Vorliegen
eines Haftgrundes kann dem Inhaftierten unter dem Vorbehalt, dass die
Untersuchung dadurch nicht vereitelt wird, höchstens bewilligt werden, in
einer geeigneten Straf- oder Massnahmeanstalt untergebracht zu werden (§ 89
Abs. 1 StPO/BL).

3.2 Der erstinstanzlich zu einer Zuchthausstrafe verurteilte Beschwerdeführer
stellt nicht in Abrede, dass neben dem allgemeinen Haftgrund des dringenden
Tatverdachts auch der spezielle Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben ist,
weshalb die gesetzlichen Voraussetzungen der Sicherheitshaft erfüllt sind
(vgl. § 77 Abs. 1 StPO/BL). Nach dem oben Gesagten kommt der vorzeitige
Sanktionenvollzug unter diesen Umständen nicht in Frage. Das Kantonsgericht
hat das kantonale Recht somit nicht willkürlich angewendet, wenn es das
Gesuch um vorzeitigen Massnahmeantritt abwies.

Ob Fluchtgefahr einen sachlichen Grund zur Verweigerung des vorzeitigen
Sanktionenvollzugs darstellt, betrifft die Verfassungsmässigkeit der
strafprozessualen Norm. Die Willkürrüge hat hier keine eigenständige
Bedeutung. Sie fällt zusammen mit der Rüge, die Verweigerung des vorzeitigen
Massnahmevollzugs sei ein unverhältnismässiger Eingriff in die persönliche
Freiheit. Dies ist nachfolgend zu prüfen.

4.
4.1 Die Anordnung bzw. Verweigerung des vorzeitigen Massnahmevollzugs betrifft
die Ausgestaltung der Haft und berührt daher das Grundrecht auf persönliche
Freiheit, wie es in Art. 10 BV verankert und in Art. 31 BV für bestimmte
Teilbereiche konkretisiert ist (vgl. Jörg Paul Müller, Grundrechte in der
Schweiz, 3. Aufl., Bern 1999, S. 65 ff., mit zahlreichen Hinweisen). Indessen
kann aus den genannten Verfassungsbestimmungen nicht ein Anspruch auf
vorzeitigen Massnahmevollzug abgeleitet werden. Dies macht der
Beschwerdeführer denn auch nicht geltend.

4.2 Jeder staatliche Eingriff in ein Grundrecht muss verhältnismässig sein
(Art. 36 Abs. 3 BV). Die Verhältnismässigkeit ist zu bejahen, wenn der
Grundrechtseingriff geeignet und erforderlich ist, um den angestrebten Zweck
zu erreichen. Ferner müssen die betroffenen Interessen im Rahmen der Prüfung
der Verhältnismässigkeit im engeren Sinne gegeneinander abgewogen werden
(vgl. BGE 130 I 65 E. 3.5.1 S. 69; 129 I 173 E. 5 S. 181; Ulrich
Häfelin/Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Aufl., Zürich
2001, N. 320 ff.).
4.3 Die Unterbringung in einem Untersuchungsgefängnis während der Dauer der
Untersuchungs- oder Sicherheitshaft ist zweifelsohne geeignet, um der Gefahr
einer Flucht der inhaftierten Person vorzubeugen. Eine andere Frage ist, ob
die Unterbringung des Häftlings in einer Heil- oder Pflegeanstalt zwecks
vorzeitigem Beginn einer therapeutischen Massnahme eine Flucht nicht ebenso
sicher verhindern könnte. In diesem Fall wäre die Unterbringung in einem
Untersuchungsgefängnis nicht erforderlich und die Verweigerung des
vorzeitigen Massnahmeantritts nicht gerechtfertigt. Dies ist indessen zu
verneinen. Sinn des vorläufigen Massnahmevollzugs ist es, schon vor Erlass
eines rechtskräftigen Strafurteils ein Haftregime zu ermöglichen, welches auf
die persönliche Situation des (massnahmebedürftig erscheinenden)
Angeschuldigten zugeschnitten ist (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1P.370/2000
vom 29. Juni 2000, E. 3a; ferner Matthias Härri, Zur Problematik des
vorzeitigen Strafantritts, Diss. Basel, Bern 1987, S. 79 ff.). Bei der
Verlegung in eine Heil- oder Pflegeanstalt zwecks vorzeitigem Antritt einer
Therapie stehen deshalb nicht in erster Linie Aspekte der Sicherung gegen
Fluchtgefahr im Vordergrund, sondern die Geeignetheit der Anstalt im Hinblick
auf eine möglichst erfolgreiche Durchführung der Therapie. Die Auswahl der
Heil- oder Pflegeanstalt richtet sich sinnvollerweise in erster Linie nach
den therapeutischen Bedürfnissen der massnahmebedürftigen Person. Es ist
daher sachlich gerechtfertigt, wenn das Gesetz bestimmt, dass der vorzeitige
Massnahmevollzug nur unter der Bedingung in Frage kommt, dass kein Haftgrund
mehr vorliegt.

Ausserdem sieht § 89 Abs. 1 StPO/BL vor, dass die inhaftierte Person die
Verlegung in eine geeignete Straf- oder Massnahmeanstalt beantragen kann.
Wenn nicht wichtige Interessen der Untersuchung entgegenstehen, muss die
inhaftierte Person nicht die gesamte Dauer der Untersuchungs- oder
Sicherheitshaft in einem Untersuchungsgefängnis verbringen. Es sei hier
nochmals erwähnt, dass das Kantonsgericht dem Gesuch des Beschwerdeführers um
Verlegung in eine Strafvollzugsanstalt am 17. September 2004 stattgegeben
hat.

Ausser Frage steht, dass die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs die
privaten Interessen eines vorzeitigen Massnahmeantritts überwiegt. Die
Vorschrift von § 89 Abs. 3 StPO/BL hält somit vor der Verfassung stand.

5.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die verfassungsmässigen Rechte des
Beschwerdeführers nicht verletzt sind. Weder hat das Kantonsgericht das
kantonale Strafprozessrecht willkürlich angewendet noch ist die Regelung von
§ 89 Abs. 3 StPO/BL verfassungswidrig. Die staatsrechtliche Beschwerde
erweist sich demnach als unbegründet und ist abzuweisen.

Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art.
156 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer stellt das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren. Die gesetzlichen
Voraussetzungen für deren Gewährung sind erfüllt (Art. 152 OG). Namentlich
erschien die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos, und auch die
Bedürftigkeit des Beschwerdeführers ist gemäss den Akten gegeben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Advokat Christoph Dumartheray wird als unentgeltlicher Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons
Basel-Landschaft und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivil-
und Strafrecht, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. Oktober 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: