Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.528/2004
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1P.528/2004 /ggs

Urteil vom 3. Dezember 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Féraud,
Gerichtsschreiber Pfisterer.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Christoph Jäger,

gegen

Stellvertretenden Generalprokurator des Kantons Bern, Hochschulstrasse 17,
3012 Bern,
Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, Hochschulstrasse 17, 3012 Bern.

Art. 9 und 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 26 Abs. 4 KV BE
(Strafverfahren),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Bern, 2. Strafkammer, vom 10. Februar 2004.

Sachverhalt:

A.
X. ________ wurde mit Urteil des Kreisgerichts III Aarberg-Büren-Erlach vom
11. März 2003 der mehrfachen und qualifizierten Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz schuldig gesprochen. Dafür wurde er zu 18 Monaten
Gefängnis, unter Anrechnung der erstandenen Untersuchungshaft, und zu 7
Jahren Landesverweisung, unbedingt vollziehbar, verurteilt.

Auf Appellation hin bestätigte das Obergericht des Kantons Bern am 10.
Februar 2004 die Verurteilung. X.________ wurde seit dem 18. Juli 2003 durch
die Fürsprecher A.________ und Jäger verteidigt.

Am 4. Mai 2004 teilte Rechtsanwalt B.________ dem Obergericht mit, dass
X.________ ihn mandatiert habe. Nach Ausfertigung des begründeten Entscheides
eröffnete ihm das Obergericht das Urteil am 8. Juni 2004. Da Fürsprecher
Jäger gegenüber dem Obergericht am 30. Juni 2004 erklärt hatte, X.________
habe zwar Rechtsanwalt B.________ bevollmächtigt, das Mandat bei ihm jedoch
beibehalten, wurde das Urteil am 16. August 2004 auch Fürsprecher Jäger
zugestellt.

B.
X.________, vertreten durch Fürsprecher Jäger, führt mit Eingabe vom 15.
September 2004 staatsrechtliche Beschwerde und beantragt die Aufhebung des
Urteils des Obergerichts. Zudem stellt er das Gesuch um Gewährung der
aufschiebenden Wirkung.

Das Obergericht stellt keinen ausdrücklichen Antrag, wirft aber die Frage der
Rechtzeitigkeit der Beschwerde auf. Die Staatsanwaltschaft schliesst auf
Abweisung der Beschwerde.

Im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels nimmt der Beschwerdeführer
insbesondere zur Frage des Fristenlaufs Stellung. Er vertritt die Meinung,
auf die Beschwerde sei einzutreten und hält im Übrigen an seinen Anträgen
fest. Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft verzichten auf eine erneute
Stellungnahme.

C.
Die aufschiebende Wirkung wurde am 13. Oktober 2004 erteilt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist innert 30 Tagen seit der nach dem
kantonalen Recht massgebenden Eröffnung des letztinstanzlichen kantonalen
Entscheids dem Bundesgericht schriftlich einzureichen (Art. 89 Abs. 1 OG). In
welcher Form der kantonale Entscheid zuzustellen ist, bestimmt das kantonale
Recht, und wann die Zustellung als vorgenommen zu gelten hat, das Bundesrecht
(BGE 97 III 9 E. 1 mit Hinweis). Nach Art. 89 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons
Bern über das Strafverfahren (StrV) erfolgt die Zustellung eines Urteils bei
einem Vertretungsverhältnis an die Anwältin oder den Anwalt.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer wurde vor Obergericht u. a. durch Fürsprecher Jäger
vertreten. Am 4. Mai 2004 teilte indessen Rechtsanwalt B.________ dem
Obergericht mit, der Beschwerdeführer habe ihn mit der Wahrung seiner
Interessen beauftragt. Das begründete Urteil sei ihm zuzustellen.
Gleichzeitig reichte er eine vom Beschwerdeführer am 23. April 2004
unterzeichnete Vollmacht ein. Diese galt für den "Strafvollzug", die
"Strafsache/Mandatswechsel/Aufenthalt" und "als Mandatsentzug gegenüber
früher RV". Rechtsanwalt B.________ nahm den begründeten Entscheid des
Obergerichts am 8. Juni 2004 entgegen.

Anlässlich eines Telefongespräches in einer anderen Sache bestätigte
Fürsprecher Jäger am 30. Juni 2004 auf Nachfrage des Obergerichts hin, dass
der Beschwerdeführer zwar Rechtsanwalt B.________ bevollmächtigt, das Mandat
bei ihm jedoch beibehalten habe. Er sei vollumfänglich für den
Beschwerdeführer zuständig. Das Obergericht stellte daraufhin das begründete
Urteil auch Fürsprecher Jäger per Gerichtsurkunde zu.

2.2 Mit der am 4. Mai 2004 eingereichten Vollmacht vom 23. April 2004 wurde
dem Obergericht nicht nur die Beauftragung von Rechtsanwalt B.________,
sondern auch der Mandatsentzug gegenüber Fürsprecher Jäger mitgeteilt. Ab
diesem Zeitpunkt war für das Obergericht einzig Rechtsanwalt B.________
vertretungsberechtigt. Gemäss Art. 89 Abs. 1 StrV galt demnach das Urteil mit
der Zustellung am 8. Juni 2004 an den vom Beschwerdeführer frei gewählten
Anwalt als eröffnet. Dieser Tag war für den Beginn der 30-tägigen
Rechtsmittelfrist von Art. 89 Abs. 1 OG massgebend. Die am 15. September 2004
erhobene staatsrechtliche Beschwerde erfolgte nach Ablauf der
Beschwerdefrist, weshalb darauf nicht einzutreten ist.

2.3 Der von Fürsprecher Jäger angerufene Grundsatz von Treu und Glauben und
das Willkürverbot (Art. 5 Abs. 3 und 9 BV) rechtfertigen nicht, dass die
Beschwerdefrist wiederhergestellt oder dass auf die Beschwerde eingetreten
würde.

Der Beschwerdeführer wusste, dass er Rechtsanwalt B.________ am 23. April
2004 mit der Wahrung seiner Interessen beauftragt und den bisherigen
Verteidigern das Mandat entzogen hatte. Gemäss seinen Ausführungen habe er
Fürsprecher A.________ am 17. Mai 2004 erklärt, er bereue es, einen anderen
Rechtsanwalt mit der Wahrung seiner Interessen beauftragt zu haben und wolle
weiterhin durch ihn bzw. Fürsprecher Jäger vertreten werden. Dieser erneute
Verteidigerwechsel wurde dem Obergericht jedoch nicht mitgeteilt. In den
Akten ist jedenfalls keine entsprechende Benachrichtigung enthalten und der
Beschwerdeführer macht eine solche auch nicht geltend. Das Obergericht
eröffnete deshalb das Urteil folgerichtig dem bevollmächtigten Verteidiger,
Rechtsanwalt B.________. Fürsprecher Jäger wusste von der Mandatierung von
Rechtsanwalt B.________. Die spätere Zustellung des begründeten Entscheides
an Fürsprecher Jäger war deshalb nicht geeignet, nochmals eine
Beschwerdefrist auszulösen. Es liegt demnach weder eine mangelhafte Eröffnung
vor noch besteht Anlass, das Fristversäumnis zu entschuldigen oder die
Zustellung vom 16. August 2004 als fristauslösend zu betrachten.

3.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'500.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Stellvertretenden
Generalprokurator und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Dezember 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: