Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.524/2004
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1P.524/2004 /gij

Urteil vom 2. Dezember 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Bundesrichter Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. Urs Oswald,

gegen

Y.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwältin lic. iur.
Esther Küng,
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau.

Art. 6 Ziff. 1 u. 3 lit. d EMRK (Strafverfahren),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, 1. Strafkammer,
vom 24. Juni 2004.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Zurzach sprach X.________ am 23. Oktober 2002 vom Vorwurf
der sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 StGB) frei.

Auf Berufung der Staatsanwaltschaft und von Y.________ hin verurteilte das
Obergericht des Kantons Aargau X.________ am 24. Juni 2004 wegen sexueller
Handlungen mit einem Kind zu 6 Monaten Gefängnis bedingt und zur Zahlung
einer Genugtuung von 1'000 Franken an Y.________. Es hielt für erwiesen, dass
sich X.________ am 6. März 2002 auf das Bett seiner Nichte Y.________ legte
und diese unter den Kleidern an den Brüsten und der Scheide abtastete und
dabei immer wieder erklärte, er fände das geil. Ausserdem habe er versucht,
seiner Nichte Zungenküsse zu geben, was aber misslungen sei, da das Mädchen
den Kopf habe abwenden können.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 14. September 2004 wegen Verletzung von
Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. d EMRK beantragt X.________, das obergerichtliche
Urteil aufzuheben.

Staatsanwaltschaft und Obergericht verzichten auf Vernehmlassung. Y.________
beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim angefochtenen Entscheid des Obergerichts handelt es sich um einen
letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der
Beschwerdeführer ist durch die strafrechtliche Verurteilung in seinen
rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), weshalb er befugt ist,
die Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu rügen. Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde einzutreten ist.

2.
Der Beschwerdeführer rügt, er habe nie Gelegenheit gehabt, der
Belastungszeugin Y.________ Ergänzungsfragen zu stellen. Das Obergericht habe
daher Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK verletzt, indem es ihn - hauptsächlich
gestützt auf die Aussage von Y.________ - schuldig gesprochen habe.

2.1 Der Anspruch des Angeklagten, nach Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK Fragen an
den Belastungszeugen zu stellen, gehört zu den Grundzügen des von Art. 6
Ziff. 1 EMRK sowie von den Art. 29 - 32 BV garantierten rechtsstaatlichen
Verfahrens, weshalb ihm nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts jedenfalls
dann absoluter Charakter zukommt, wenn die Aussagen des Belastungszeugen von
ausschlaggebender Bedeutung für den Ausgang des Verfahrens sind. Handelt es
sich beim Belastungszeugen um ein Kind, das Opfer eines Übergriffs in seine
sexuelle Integrität geworden ist, so regeln die am 1. Oktober 2002 in Kraft
getretenen und damit das Verfahren vor beiden Gerichtsinstanzen
beherrschenden Art. 10a ff. OHG die Art und Weise, in welcher der
Angeschuldigte seine Ergänzungsfragen stellen bzw. stellen lassen kann (BGE
129 I 151 E. 3 mit Hinweisen). Das Recht, Belastungszeugen zu befragen,
untersteht dem kantonalen Verfahrensrecht. Der Angeschuldigte verwirkt sein
Recht auf die Stellung von Ergänzungsfragen grundsätzlich, wenn er die
entsprechenden Beweisanträge nicht frist- und formgerecht einreicht (BGE 125
I 127 E. 6c/bb S. 134 mit Hinweisen).

3.
3.1 All dies verkennt das Obergericht im angefochtenen Entscheid nicht, und es
anerkennt auch, dass der Beschwerdeführer mit der Berufungsantwort den frist-
und formgerechten Antrag gestellt hat, der Belastungszeugin Ergänzungsfragen
stellen zu lassen. Es hält jedoch dafür, die Einreichung dieses
Beweisantrages erst im Berufungsverfahren sei rechtsmissbräuchlich und damit
unbeachtlich. Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer habe im
Untersuchungsverfahren und im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren reichlich
Gelegenheit gehabt, Beweisanträge zu stellen und von dieser Möglichkeit auch
Gebrauch gemacht. Aufgrund der Aktenlage habe der Verteidiger bereits im
erstinstanzlichen Verfahren mit einer Verurteilung rechnen müssen. Trotzdem
habe er auf die erneute Befragung der Geschädigten verzichtet und auch nicht
verlangt, ihr Ergänzungsfragen zu stellen. Erst nach Abschluss der
erstinstanzlichen Beweisverhandlung habe er im Plädoyer beanstandet, dass die
Geschädigte nicht durch die Strafverfolgungsbehörden einvernommen worden sei,
ohne indessen zu beantragen, sie erneut einzuvernehmen und ihr seine
Ergänzungsfragen vorzulegen. Offensichtlich aus rein prozesstaktischen
Gründen habe er mit dem entsprechenden Antrag zugewartet und ihn erst
gestellt, nachdem die Staatsanwaltschaft und die Geschädigte Berufung erhoben
hätten und BGE 129 I 151 bekannt geworden sei. Auf Grund der klaren Aussagen
der Geschädigten hätte der Beschwerdeführer indessen von Anfang an mit einer
Verurteilung rechnen müssen, weshalb er die erneute Befragung der
Geschädigten und die Möglichkeit, ihr Ergänzungsfragen zu stellen, bereits im
erstinstanzlichen Verfahren hätte verlangen können und müssen; das Zuwarten
mit diesem Antrag bis zur Berufungsantwort sei daher rechtsmissbräuchlich.

3.2 Die Berufung ist im Aargauer Strafprozess ein vollkommenes Rechtsmittel,
mit welchem insbesondere auch neue tatsächliche Behauptungen vorgebracht und
neue Beweismittel beantragt werden können (§ 220 Abs. 1 der Aargauer
Strafprozessordnung vom 11. November 1958; StPO). Verursachen derartige neue
Beweisanträge Weiterungen, so sind die Mehrkosten der Berufungspartei
aufzuerlegen, wenn sie diese Anträge bereits im erstinstanzlichen Verfahren
hätte vorbringen können (§ 220 Abs. 2 StPO).

Nach dieser klaren Regelung kann der Angeschuldigte im Berufungsverfahren
ohne Einschränkung neue Beweismittel vorbringen, und zwar auch dann, wenn er
die entsprechenden Beweisanträge bereits im Untersuchungs- oder im
erstinstanzlichen Verfahren hätte stellen können. In diesem Fall trägt er
allerdings die Mehrkosten, die durch die späte Einreichung des Beweisantrages
entstehen. Das Gesetz lässt es damit zu, dass ein Angeschuldigter einen
Beweisantrag bewusst erst im Berufungsverfahren stellt und sanktioniert dies
dahingehend, dass es ihm das Kostenrisiko für allfällige Weiterungen des
Verfahrens aufbürdet. Der Beschwerdeführer hat somit, indem er den Antrag,
der Geschädigten Ergänzungsfragen vorlegen zu können, erst im
Berufungsverfahren stellte, lediglich von einem gesetzlich vorgesehenen
prozessualen Recht Gebrauch gemacht. Nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung darf ein solcher Antrag im Berufungsverfahren nur
zurückgewiesen werden, wenn das Zuwarten klar rechtsmissbräuchlich erscheint
(Pra 2001 Nr. 93 S. 545 E. 3e; unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts
1P.458/1997 vom 7. April 1998, E. 2, den Kanton Aargau betreffend).

3.3 Aus welchem Grund der Beschwerdeführer im erstinstanzlichen Verfahren
keine Ergänzungsfragen an die Geschädigte stellen wollte - weil er, wie das
Obergericht meint, ein vernichtendes Ergebnis einer erneuten Befragung
befürchtete, oder weil er, mit einem Freispruch rechnend, die Geschädigte
schonen wollte - ist angesichts von § 220 StPO unerheblich:
rechtsmissbräuchlich war das Zuwarten mit dem entsprechenden Beweisantrag in
keinem Fall. Gerade wenn man mit dem Obergericht davon ausginge, dass der
Beschwerdeführer eine erneute Befragung der Geschädigten mit der Möglichkeit,
Ergänzungsfrage zu stellen, vor der ersten Instanz nicht beantragte, weil er
ein negatives Beweisergebnis fürchtete, war er nach Treu und Glauben nicht
verpflichtet, den entsprechenden Beweisantrag schon vor erster Instanz zu
stellen. Es ist grundsätzlich Sache der Strafverfolgungsbehörden, dem
Angeschuldigten seine Schuld mit gerichtlich verwertbaren Beweisen
nachzuweisen und daher ihr Risiko, wenn sie den Prozess mit einem
Hauptbeweismittel führen, dessen Erhebung den konventionsrechtlichen
Anforderungen offensichtlich nicht genügt und das daher vom Angeschuldigten
auch noch im Berufungsverfahren in Frage gestellt werden kann. Die Rüge ist
begründet, das Obergericht hat Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK verletzt, indem es
den in der Berufungsantwort gestellten Antrag des Beschwerdeführers, Fragen
an die Geschädigte zu stellen, ablehnte.

4.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben
(Art. 156 OG). Unter diesen Umständen rechtfertigt sich, dem Beschwerdeführer
zu Lasten des Kantons Aargau eine angemessen Parteientschädigung zuzusprechen
(Art. 159 OG i.V.m. Art. 156 Abs. 6 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid des
Obergerichts des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, vom 24. Juni 2004
aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
und dem Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 2. Dezember 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: