Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.445/2004
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1P.445/2004 /sta

Urteil vom 13. September 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Reeb,
Gerichtsschreiber Haag.

X.  ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Jakob Ackermann,

gegen

Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.

Strafverfahren; Erlass der Einschreibgebühr,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung
des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer,
vom 11. August 2004.
Sachverhalt:

A.
X.  ________ wurde am 29. April 2004 vom Kreisgericht Rheintal wegen
qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz vom 3. Oktober
1951 (BetmG, SR 812.121) zu einer Zuchthausstrafe von 3 ½ Jahren, unter
Anrechnung von 361 Tagen Untersuchungshaft, verurteilt. Zudem wurde er für 10
Jahre des Landes verwiesen und zur Bezahlung der Verfahrenskosten
verpflichtet. Der amtliche Verteidiger wurde vom Staat entschädigt.
Am 5. August 2004 erklärte der Verteidiger von X.________ Berufung gegen
bestimmte Teile des Urteils des Kreisgerichts und beantragte die Gewährung
der amtlichen Verteidigung sowie den Erlass der Einschreibgebühr.
Mit Schreiben vom 11. August 2004 teilte der Präsident der Strafkammer des
Kantonsgerichts St. Gallen dem Verteidiger mit, die Berufung erscheine
aufgrund einer vorläufigen Beurteilung als aussichtslos, weshalb ihm eine
Notfrist von 10 Tagen zur Bezahlung der Einschreibgebühr von Fr. 800.--
angesetzt werde. Bei Nichtbeachtung dieser Frist gelte die Berufung als nicht
eingelegt.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 20. August 2004 beantragt X.________,
die Verfügung des Kantonsgerichts vom 11. August 2004 sei aufzuheben und die
Sache an das Kantonsgericht zurückzuweisen, um ihn von der Bezahlung der
Einschreibgebühr zu befreien. Zudem stellt er ein Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren und beantragt als vorsorgliche
Massnahme, das Kantonsgericht sei zu verpflichten, die Berufung an die Hand
zu nehmen.

C.
Das Kantonsgericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde und des Gesuchs um
vorsorgliche Massnahme.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob und
inwieweit auf ein Rechtsmittel eingetreten werden kann (BGE 128 I 177 E. 1 S.
179; 128 II 311 E. 1 S. 315, je mit Hinweisen).

1.1  Der angefochtene Entscheid des Kantonsgerichts, mit dem das Gesuch des
Beschwerdeführers um Erlass der Einschreibgebühr abgewiesen wurde, ist ein
letztinstanzlicher kantonaler Zwischenentscheid, der das Berufungsverfahren
nicht abschliesst. Gegen diesen Entscheid ist nach Art. 87 Abs. 2 OG die
staatsrechtliche Beschwerde zulässig, sofern er einen nicht
wiedergutzumachenden Nachteil bewirken kann. Zwischenentscheide, mit denen
die unentgeltliche Rechtspflege verweigert wird, haben in der Regel einen
solchen Nachteil zur Folge (BGE 129 I 129 E. 1.1 S. 131, 281 E. 1.1 S. 283
f., je mit Hinweisen). Dies trifft auch auf den hier in Frage stehenden
Zwischenentscheid zu. Die Anhandnahme der Berufungserklärung des
Beschwerdeführers wird im angefochtenen Entscheid von der Bezahlung der
Einschreibgebühr abhängig gemacht. Wird die Gebühr nicht rechtzeitig bezahlt,
gilt die Berufung als nicht eingelegt (Art. 225 Abs. 2 des
Strafprozessgesetzes des Kantons St. Gallen vom 1. Juli 1999, StP). Damit
kann der angefochtene Entscheid für den mittellosen Beschwerdeführer einen
nicht wiedergutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 87 Abs. 2 OG bewirken.
Der Entscheid des Kantonsgerichts ist daher mit staatsrechtlicher Beschwerde
anfechtbar.

1.2  Die staatsrechtliche Beschwerde ist von hier nicht vorliegenden
Ausnahmen
abgesehen grundsätzlich rein kassatorischer Natur, d.h. sie kann nur zur
Aufhebung des angefochtenen Entscheids führen (BGE 129 I 129 E. 1.2.1 mit
Hinweisen). Soweit der Beschwerdeführer über die Aufhebung des angefochtenen
Entscheids hinaus verlangt, das Kantonsgericht sei anzuweisen, ihn von der
Bezahlung der Einschreibgebühr zu befreien, kann auf die Beschwerde von
vornherein nicht eingetreten werden.

1.3  Der Beschwerdeführer ist durch die Abweisung seines Gesuchs um Erlass
der
Einschreibgebühr in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88
OG). Er rügt eine Verletzung von verfassungsmässigen Rechten (Art. 84 Abs. 1
lit. a OG). Auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind grundsätzlich
erfüllt, weshalb auf die staatsrechtliche Beschwerde unter Vorbehalt der
Ausführungen in E. 1.2 hiervor eingetreten werden kann.

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Verweigerung des Erlasses der
Einschreibgebühr mit der Folge, dass die Berufung bei Nichtbezahlung der
Gebühr als nicht eingelegt gelte, verstosse gegen Art. 29 Abs. 3 BV.

2.1  Nach Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die
erforderlichen
Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer
Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen
Rechtsbeistand (vgl. BGE 127 I 202 E. 3 S. 204 f.). Mit dem
verfassungsrechtlichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege soll
verhindert werden, dass dem bedürftigen Rechtsuchenden der Zugang zu
Gerichts- und Verwaltungsinstanzen in nicht zum Vornherein aussichtslosen
Verfahren wegen seiner wirtschaftlichen Verhältnisse verwehrt oder erschwert
wird (vgl. BGE 110 Ia 87 E. 4 S. 90). Dieses Recht gewährleistet der
bedürftigen Person, dass die entsprechende Gerichts- oder Verwaltungsinstanz
ohne vorherige Hinterlegung oder Sicherstellung von Kosten tätig wird (BGE
109 Ia 12 E. 3b; 99 Ia 437 E. 2 S. 439). Indessen garantiert der Anspruch auf
unentgeltliche Rechtspflege keine definitive Übernahme der Kosten durch den
Staat (BGE 122 I 322 E. 2c S. 324; 110 Ia 87 E. 4 S. 90, je mit Hinweisen).
Greift das Verfahren besonders stark in die Rechtspositionen des Betroffenen
ein, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands grundsätzlich
geboten. Dies ist nach der Rechtsprechung im Strafverfahren insbesondere dann
der Fall, wenn eine schwerwiegende freiheitsentziehende Massnahme oder eine
Freiheitsstrafe droht, deren Dauer den bedingten Vollzug ausschliesst (BGE
129 I 281 E. 3.1 S. 285; 128 I 225 E. 2.5.2; 120 Ia 43 E. 2a).

2.2  Wer ein Rechtsmittel einlegt, bezahlt nach Art. 225 Abs. 1 StP die durch
Verordnung bestimmte Einschreibgebühr. Wird die Gebühr trotz Ansetzung einer
angemessenen Notfrist nicht bezahlt, gilt das Rechtsmittel als nicht
eingelegt (Art. 225 Abs. 2 StP). Der Präsident der Rechtsmittelinstanz kann
auf Gesuch die Einschreibgebühr erlassen, wenn der Einleger bedürftig und das
Rechtsmittel nicht aussichtslos ist (Art. 225 Abs. 3 StP).

Nach Art. 237 Abs. 1 StP ist die Berufung unter anderem zulässig gegen
Urteile des Bezirksgerichts. Neue Tatsachen und Beweismittel sind zulässig
(Art. 238 Abs. 2 StP). Die Berufungserklärung, die sich auf bestimmte Punkte
des beanstandeten Urteils beschränken kann, wird dem Kantonsgericht innert
vierzehn Tagen eingereicht (Art. 239 StP). Die Parteien erhalten
anschliessend Gelegenheit, mit schriftlicher Eingabe die Berufung in Bezug
auf die in der Berufungserklärung angefochtenen Punkte zu begründen,
Gegenbemerkungen anzubringen und Beweisanträge zu stellen (Art. 242 StP).

2.3  Die Mittellosigkeit des Beschwerdeführers wird in der vorliegenden
Angelegenheit nicht bestritten. Der Präsident der Strafkammer des
Kantonsgerichts hat über die Aussichtslosigkeit der Berufung einen Entscheid
gefällt, bevor der Beschwerdeführer Gelegenheit hatte, seine Berufung zu
begründen und Beweisanträge zu stellen. In der angefochtenen Verfügung wird
ausgeführt, die mit Berufung beanstandete Strafzumessung sei in korrekter und
differenzierter Anwendung der massgebenden Kriterien erfolgt. Auch die
zehnjährige unbedingte Landesverweisung erscheine als praxisgemäss und
angemessen. Insgesamt erweise sich die Berufung daher aufgrund einer
vorläufigen Beurteilung als aussichtslos, weshalb das Gesuch um Erlass der
Einschreibgebühr abgewiesen werde.

2.4  Dieser Beurteilung kann im Lichte von Art. 29 Abs. 3 BV nicht gefolgt
werden. Wie vorne (E. 2.1) erwähnt, gewährleistet diese Verfassungsbestimmung
der bedürftigen Person, dass die entsprechende Gerichtsinstanz ohne vorherige
Hinterlegung oder Sicherstellung von Kosten tätig wird, wenn die
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheinen. Der Präsident der Strafkammer
des Kantonsgerichts konnte indessen bei Erlass seiner Verfügung die
Erfolgsaussichten der Berufung noch gar nicht beurteilen, da ihm die Gründe
für die Einreichung des Rechtsmittels nicht bekannt waren. Auch wenn allein
gestützt auf das Urteil des Kreisgerichts die Erfolgsaussichten einer
Berufung als gering erscheinen mögen, geht es nicht an, die Berufung ohne
Kenntnis der Einwände gegen das unterinstanzliche Urteil als aussichtslos
abzutun. Dies gilt umso mehr als im vorliegenden Fall eine mehrjährige
unbedingte Zuchthausstrafe und eine zehnjährige Landesverweisung zur
Diskussion stehen.

In seiner staatsrechtlichen Beschwerde macht der Beschwerdeführer denn auch
geltend, die ihm auferlegte Strafe beruhe auf dem Handel mit Drogenmengen,
die ein Mehrfaches der von ihm tatsächlich verkauften Drogen ausmachten. Das
Kreisgericht habe sich dabei auf eine unrechtmässig erhobene Einvernahme
einer anonymen Auskunftsperson gestützt. Die Einwände des Beschwerdeführers
erscheinen durchaus geeignet, das Urteil des Kreisgerichts in Zweifel zu
ziehen. Die Erfolgsaussichten der Berufung werden erst nach Vorliegen der
Begründung des Rechtsmittels und allfälliger Beweisanträge beurteilt werden
können. Die unverzügliche Ablehnung des Gesuchs um Erlass der
Einschreibgebühr ist daher mit Art. 29 Abs. 3 BV nicht vereinbar.

3.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist somit gutzuheissen, soweit darauf
eingetreten werden kann, und die Verfügung des Präsidenten der Strafkammer
des Kantonsgerichts St. Gallen vom 11. August 2004 ist aufzuheben. Auf die
übrigen Rügen des Beschwerdeführers ist nicht weiter einzugehen. Mit dem
vorliegenden Entscheid wird das Gesuch um eine vorsorgliche Massnahme
gegenstandslos.
Auf die Erhebung von Gerichtskosten ist im vorliegenden Verfahren zu
verzichten (Art. 156 Abs. 2 OG). Indessen hat der Kanton St. Gallen den
Beschwerdeführer angemessen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG). Damit wird
auch das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im bundesgerichtlichen
Verfahren gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten
ist, und die Verfügung des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts
St. Gallen vom 11. August 2004 wird aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton St. Gallen hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Kantonsgericht St. Gallen,
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 13. September 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: