Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.429/2004
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1P.429/2004 /gij

Urteil vom 1. September 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Bundesrichter Eusebio,
Gerichtsschreiber Härri.

X. ________, Beschwerdeführer,

gegen

Untersuchungsrichteramt des Kantons Zug,
An der Aa 4, Postfach 1356, 6301 Zug,
Obergericht des Kantons Zug, Justizkommission, Aabachstrasse 3, 6301 Zug.

Untersuchungshaft; Haftentlassungsgesuch,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Zug, Justizkommission,
vom 29. Juli 2004.

Sachverhalt:

A.
Das Untersuchungsrichteramt des Kantons Zug führt eine Strafuntersuchung
gegen den deutschen Staatsangehörigen X.________ wegen des Verdachts des
Diebstahls, der Sachbeschädigung und des Hausfriedensbruchs sowie des
Verweisungsbruchs. Es wird ihm insbesondere vorgeworfen, am 17. November 2003
in R.________ in ein Haus eingebrochen zu sein und dabei Schmuck und Bargeld
im Gesamtbetrag von rund Fr. 440'000.-- gestohlen sowie einen Sachschaden von
ca. Fr. 1'100.-- verursacht zu haben.

Am 1. Juni 2004 wurde X.________ festgenommen. Am 3. Juni 2004 ordnete die
Untersuchungsrichterin die Untersuchungshaft an.

Am 13. Juli 2004 ersuchte X.________ um Haftentlassung.

Die Untersuchungsrichterin wies das Gesuch mit Verfügung vom 16. Juli 2004
ab.

Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des
Kantons Zug (Justizkommission) am 29. Juli 2004 ab.

B.
X. ________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Obergerichtes aufzuheben; es sei unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung
des Bundesgerichtes neu zu entscheiden.

C.
Das Obergericht beantragt unter Verzicht auf Gegenbemerkungen die Abweisung
der Beschwerde.

Das Untersuchungsrichteramt hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Obergericht hat im angefochtenen Urteil die Zulässigkeit der
Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft bejaht. Im vorliegenden Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde geht es einzig um die Frage, ob das Obergericht
insoweit die verfassungsmässigen Rechte des Beschwerdeführers verletzt habe.
Auf die Vorbringen, die ausserhalb des Verfahrensgegenstandes liegen, kann
nicht eingetreten werden.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt, die Fortführung der Untersuchungshaft sei
willkürlich und verstosse daher gegen Art. 9 BV. In der Sache macht er jedoch
eine Verletzung seines Rechts auf persönliche Freiheit nach Art. 10 Abs. 2 BV
geltend. Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf dieses
verfassungsmässige Recht wegen der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft
erhoben werden, prüft das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung des
kantonalen Rechts frei (BGE 123 I 268 E. 2d mit Hinweis). Der Willkürrüge
kommt deshalb keine selbständige Bedeutung zu. Zu prüfen ist, ob das
Obergericht die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nach der Zuger
Strafprozessordnung im Lichte des Grundrechts der persönlichen Freiheit
bejahen durfte.

2.2  Gemäss § 17 Abs. 1 StPO/ZG kann gegen einen Beschuldigten die Haft
angeordnet werden, wenn er eines Verbrechens oder Vergehens dringend
verdächtigt wird und aufgrund bestimmter Anhaltspunkte befürchtet werden
muss:
1.Er werde sich durch Flucht der Strafverfolgung oder dem zu erwartenden
Straf- bzw. Massnahmevollzug entziehen;
2.er werde Personen beeinflussen oder auf Spuren oder andere Beweismittel
einwirken, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen;
3.er werde durch Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich
gefährden, insbesondere nachdem er bereits früher Straftaten verübt hatte.
Das Obergericht bejaht den dringenden Tatverdacht sowohl in Bezug auf den
Einbruchdiebstahl als auch den Verweisungsbruch. Es nimmt sodann Fluchtgefahr
an. Beides erfolgt zu Recht, weshalb die Haft die persönliche Freiheit des
Beschwerdeführers nicht verletzt.

2.3
2.3.1Nach der Rechtsprechung ist es bei der Prüfung des dringenden
Tatverdachts nicht Sache des Bundesgerichts, dem Sachrichter vorgreifend eine
erschöpfende Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Umstände
vorzunehmen. Zu prüfen ist vielmehr, ob genügend konkrete Anhaltspunkte für
eine Straftat und eine Beteiligung des Beschwerdeführers daran vorliegen, die
Untersuchungsbehörden somit das Bestehen eines dringenden Tatverdachts mit
vertretbaren Gründen bejahen durften (BGE 116 Ia 143 E. 3c). Bei Beginn der
Strafuntersuchung sind die Anforderungen an den dringenden Tatverdacht noch
geringer. Im Laufe des Strafverfahrens ist ein immer strengerer Massstab an
die Erheblichkeit und Konkretheit des Tatverdachts zu stellen (Urteile
1P.255/2000 vom 22. Mai 2000 E. 3b; 1P.464/1999 vom 31. August 1999 E. 3a;
1P.662/1995 vom 11. Dezember 1995 E. 3; Urteil des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte i. S. Murray, Série A vol. 300-A, Ziff. 55 mit Hinweisen).
Muss nach Durchführung der in Betracht kommenden Untersuchungshandlungen eine
Verurteilung als wahrscheinlich erscheinen, so können am Anfang der
Untersuchung noch wenig genaue Verdachtsmomente - die sich z.B. aus Lügen des
Angeschuldigten oder Abweichungen in seinen Aussagen ergeben - als
ausreichend angesehen werden (Urteil 1P.137/1991 vom 25. März 1991 E. 2c).

2.3.2  Im Haus, in das der Einbruchdiebstahl verübt worden war, konnte eine
DNA-Spur sichergestellt werden. Die Analyse durch das Institut für
Rechtsmedizin der Universität Zürich ergab ein unvollständiges, aber
brauchbares DNA-Profil, das in die EDNA-Datenbank eingelesen wurde. In der
Folge meldete das AFIS die Übereinstimmung der DNA-Spur mit dem in der
Datenbank gespeicherten DNA-Profil des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer macht zwar geltend, bei der sichergestellten DNA-Spur
könne es sich nicht um die seinige handeln. Die Untersuchungsrichterin hat
deshalb am 13. August 2004 beim Institut für Rechtsmedizin ein Gutachten in
Auftrag gegeben, das den Beweiswert der vom AFIS gemeldeten Übereinstimmung
berechnen soll. Aufgrund der Meldung des AFIS ist es jedoch - zumindest beim
gegenwärtigen Verfahrensstand, da die Untersuchungen noch im Gange sind -
vertretbar, wenn das Obergericht den dringenden Tatverdacht in Bezug auf den
Einbruchdiebstahl bejaht hat. Dabei darf - jedenfalls in Ergänzung zum
genannten Beweiselement - auch berücksichtigt werden, dass der
Beschwerdeführer in der Vergangenheit bereits zahlreiche Vermögensdelikte und
insbesondere Diebstähle begangen hat.
Dem Beschwerdeführer wird, wie das Obergericht (S. 5) zu Recht erwogen hat,
im Übrigen nicht nur ein Einbruchdiebstahl zur Last gelegt. Hinzu kommt der
Vorwurf des Verweisungsbruchs. Der Beschwerdeführer, gegen den eine
lebenslängliche Landesverweisung ausgesprochen worden ist, wurde in der
Schweiz festgenommen. Der dringende Tatverdacht ist somit auch in Bezug auf
den Verweisungsbruch gegeben.
Bei Diebstahl (Art. 139 Ziff. 1 StGB) handelt es sich um ein Verbrechen, bei
Sachbeschädigung (Art. 144 Abs. 1 StGB), Hausfriedensbruch (Art. 186 StGB)
und Verweisungsbruch (Art. 291 StGB) um Vergehen. Der Beschwerdeführer wird
danach eines Verbrechens und verschiedener Vergehen dringend verdächtigt. Das
Obergericht hat insoweit die Haftvoraussetzungen zu Recht bejaht.

2.4
2.4.1Nach der Rechtsprechung genügt für die Annahme von Fluchtgefahr die Höhe
der dem Angeschuldigten drohenden Freiheitsstrafe für sich allein nicht.
Fluchtgefahr darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der
Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan
werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich
erscheinen lassen. Die Höhe der drohenden Freiheitsstrafe kann immer nur
neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE
125 I 60 E. 3a mit Hinweisen).

2.4.2  Der Beschwerdeführer weist, wie gesagt, zahlreiche einschlägige
Vorstrafen auf. Er befand sich deshalb bereits viele Jahre im Strafvollzug.
Wie er in der Befragung zur Person vom 17. August 1995 (S. 4) angab, war ihm
wegen Eigentumsdelikten schon bis zu jenem Zeitpunkt während insgesamt 16
Jahren die Freiheit entzogen. Der Deliktsbetrag beim ihm vorgeworfenen
Einbruchdiebstahl vom 17. November 2003 ist mit rund Fr. 440'000.-- hoch.
Hinzu kommt der Verweisungsbruch. Auch dieser fällt ins Gewicht. Der
Beschwerdeführer ist auch insoweit mehrfach einschlägig vorbestraft. Zuletzt
verurteilte ihn das Obergericht des Kantons Zürich am 5. Juli 2002 wegen
Verweisungsbruchs zu 12 Monaten Gefängnis (unbedingt). Der Beschwerdeführer
muss somit mit einer erheblichen Freiheitsstrafe rechnen.
Da gegen ihn eine lebenslängliche Landesverweisung verhängt worden ist,
müsste er die Schweiz verlassen, wenn er auf freien Fuss gesetzt würde.
Stabile Verhältnisse bestehen bei ihm nicht. Vor seiner erneuten Verhaftung
wohnte er offenbar in verschiedenen Ländern. Vor rund zehn Jahren brach er
zudem aus dem Bezirksgefängnis Winterthur aus. Er hat sich somit der
Strafverfolgung bereits einmal durch Flucht entzogen. Zwar liegt dies längere
Zeit zurück. Das Obergericht durfte die Flucht aus dem Bezirksgefängnis
jedoch mit berücksichtigen.
In Anbetracht dieser Umstände bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass
sich der Beschwerdeführer bei einer Haftentlassung den schweizerischen
Behörden nicht mehr zur Verfügung halten und sich der Strafverfolgung durch
Flucht entziehen würde. Die Möglichkeit, dass das Fluchtland gegebenenfalls
die Auslieferung bewilligen oder selbst die Beurteilung der Sache übernehmen
würde, ändert an der Zulässigkeit der Haft nichts (Urteil P. 808/1984 vom 11.
Dezember 1984, publ. in SJIR 1985 S. 257 f.). Das angefochtene Urteil ist
auch in diesem Punkt nicht zu beanstanden.

2.5  Ob nebst der Flucht- auch Kollusions- oder Wiederholungsgefahr gegeben
sei, kann offen bleiben. Liegt ein Haftgrund vor, genügt das für die
Untersuchungshaft und muss nicht geprüft werden, ob ein weiterer hinzukomme.

2.6  Die Untersuchungshaft ist verhältnismässig. Der Beschwerdeführer
befindet
sich seit rund 3 Monaten in Haft. Die zu erwartende Strafe liegt deutlich
darüber. Überhaft droht derzeit nicht.

3.
Der Beschwerdeführer verlangte mit der Beschwerde (S. 9) an das Obergericht
unter Hinweis auf Art. 31 Abs. 3 BV die Vorführung vor einen (Haft-) Richter.
Das Obergericht (S. 6 E. 4) befand, mit seinem Urteil sei diesem Begehren
Genüge getan.

Dem ist zuzustimmen. Allerdings geht es im vorliegenden Zusammenhang nicht um
die Anwendung von Art. 31 Abs. 3 BV, sondern von Art. 31 Abs. 4 BV. Gemäss
Art. 31 Abs. 3 BV, der sich an Art. 5 Ziff. 3 EMRK anlehnt, hat jede Person,
die in Untersuchungshaft genommen wird, Anspruch darauf, unverzüglich einer
Richterin oder einem Richter vorgeführt zu werden; die Richterin oder der
Richter entscheidet, ob die Person in Haft gehalten oder freigelassen wird.
Diese Bestimmung ist anwendbar bei der Anordnung der Untersuchungshaft. Die
Untersuchungsrichterin ordnete die Haft am 3. Juni 2004 an. Dagegen erhob der
Beschwerdeführer Beschwerde beim Obergericht, welches diese mit Urteil vom
16. Juni 2004 abwies. Hiergegen reichte der Beschwerdeführer beim
Bundesgericht keine Beschwerde ein. Das Verfahren der Anordnung der
Untersuchungshaft war damit abgeschlossen. Im vorliegenden Verfahren, das mit
dem Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers vom 13. Juli 2004 eingeleitet
wurde, geht es um die Überprüfung der Haft. Insoweit hat der Gefangene gemäss
Art. 31 Abs. 4 BV, der sich an Art. 5 Ziff. 4 EMRK anlehnt, das Recht, ein
Gericht anzurufen (vgl. dazu Botschaft über eine neue Bundesverfassung vom
20. November 1996, BBl 1997 I 185 f.; Marc Forster, Rechtsschutz bei
strafprozessualer Haft, SJZ 94/1998 S. 35 ff.). Dieses Recht wurde dem
Beschwerdeführer gewährt, da er den ablehnenden Entscheid der
Untersuchungsrichterin an das Obergericht weiterziehen konnte. Eine
Verfassungsverletzung ist auch in diesem Punkt zu verneinen.

4.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.

Da die Untersuchungshaft einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit
darstellt, konnte sich der Beschwerdeführer zur Beschwerde veranlasst sehen.
Von seiner Bedürftigkeit kann ausgegangen werden. Die unentgeltliche
Rechtspflege nach Art. 152 OG wird deshalb bewilligt.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Untersuchungsrichteramt und dem
Obergericht des Kantons Zug, Justizkommission, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. September 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: