Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.399/2004
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1P.399/2004 /sta

Urteil vom 10. August 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Reeb,
Gerichtsschreiberin Leuthold.

X.  ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Pablo
Blöchlinger,

gegen

Bezirksanwaltschaft Zürich, Büro Nr. C-1, Stauffacherstrasse 55, Postfach,
8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Haftentlassung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich,
Haftrichter, vom 23. Juni 2004.
Sachverhalt:

A.
X.  ________, der aus der Dominikanischen Republik stammt, wurde am 28. März
2004 in Zürich wegen Verdachts der Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz festgenommen und mit Verfügung der Haftrichterin des
Bezirksgerichts Zürich vom 31. März 2004 in Untersuchungshaft versetzt. Am
18. Juni 2004 stellte er ein Gesuch um Haftentlassung. Mit Verfügung vom 23.
Juni 2004 wies der Haftrichter das Gesuch ab und erstreckte die Haft bis zum

31. Juli 2004.

B.
Gegen diesen Entscheid reichte X.________ am 15. Juli 2004 beim Bundesgericht
staatsrechtliche Beschwerde ein. Er beantragt, die angefochtene Verfügung sei
aufzuheben und er sei unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen,
eventuell unter Anordnung einer Ersatzmassnahme. Ausserdem ersucht er um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche
Verfahren.

C.
Die Bezirksanwaltschaft Zürich stellt in ihrer Vernehmlassung vom 26. Juli
2004 den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen. Der Haftrichter verzichtete
auf eine Vernehmlassung.

D.
In einer Replik vom 3. August 2004 nahm X.________ zur Beschwerdeantwort der
Bezirksanwaltschaft Stellung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1  Die staatsrechtliche Beschwerde richtet sich gegen die Verfügung des
Haftrichters vom 23. Juni 2004, mit der das Haftentlassungsgesuch des
Beschwerdeführers vom 18. Juni 2004 abgewiesen und die Untersuchungshaft bis
zum 31. Juli 2004 erstreckt wurde. Nachdem die Bezirksanwaltschaft am 22.
Juli 2004 gegen den Beschwerdeführer Anklage erhoben hatte, ordnete der
Haftrichter mit Verfügung vom 28. Juli 2004 die Sicherheitshaft an. Der
Beschwerdeführer befindet sich somit weiterhin in Haft und hat demzufolge
nach wie vor ein aktuelles praktisches Interesse an der Überprüfung des
angefochtenen Entscheids (Art. 88 OG).

1.2  Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde, die sich gegen die Fortdauer der
Haft richtet, kann in Abweichung vom Grundsatz der kassatorischen Natur der
Beschwerde nicht nur die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, sondern
ausserdem die Entlassung aus der Haft, allenfalls unter Anordnung einer
Ersatzmassnahme, verlangt werden (BGE 124 I 327 E. 4b/aa S. 332 f.; 115 Ia
293 E. 1a S. 297, je mit Hinweisen). Die mit der vorliegenden Beschwerde
gestellten Anträge sind daher zulässig.

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, der angefochtene Entscheid verletze das
Recht auf persönliche Freiheit. Er beruft sich dabei auf Art. 31 Abs. 1 BV
und Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK.

2.1  Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines
Haftentlassungsgesuchs erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick
auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden
kantonalen Rechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfeststellungen und
damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht
nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz
willkürlich sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 123 I 31 E. 3a S. 35, je mit
Hinweisen). Die vom Beschwerdeführer ebenfalls angerufene Vorschrift von Art.
5 EMRK geht ihrem Gehalt nach nicht über den verfassungsmässigen Anspruch auf
persönliche Freiheit hinaus. Indessen berücksichtigt das Bundesgericht bei
der Konkretisierung dieses Anspruchs auch die Rechtsprechung der
Konventionsorgane (BGE 114 Ia 281 E. 3 S. 282 f. mit Hinweisen).

2.2  Die Freiheit darf einer Person nur in den vom Gesetz selbst vorgesehenen
Fällen und nur auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise entzogen werden (Art.
31 Abs. 1 BV). Gemäss § 58 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich
(StPO) ist die Anordnung oder Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft
zulässig, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend
verdächtigt wird und überdies Flucht-, Kollusions- oder Fortsetzungsgefahr
besteht. Ausserdem darf die Haft nicht länger dauern als die zu erwartende
Freiheitsstrafe (§ 58 Abs. 3 StPO).

Der Haftrichter war der Auffassung, im vorliegenden Fall seien der dringende
Tatverdacht sowie Kollusions- und Fluchtgefahr gegeben; zudem erweise sich
die Fortdauer der Haft als verhältnismässig.
Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass ein dringender Tatverdacht
gegeben ist. Er macht jedoch geltend, es bestehe weder Kollusions- noch
Fluchtgefahr, weshalb es "an der gesetzlichen Grundlage für die Fortführung
der Haft" fehle.

2.3  Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es für die Annahme
der
Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte,
wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe
durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein
Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein
nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände
des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten Verhältnisse des
Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 117 Ia
69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen).

Dem Beschwerdeführer wird zur Last gelegt, er habe in der Zeit zwischen
August 2003 und dem 28. März 2004 in der Region Zürich Y.________ 170 g
Kokain zwecks Weitergabe geliefert und am 28. März 2004 weitere 240 g Kokain
zwecks Einführung in den Drogenhandel besessen. Die Bezirksanwaltschaft
beantragt in der Anklageschrift, der Beschwerdeführer sei des "Verbrechens
gegen das Betäubungsmittelgesetz im Sinne von Art. 19 Ziff. 1 Abs. 4 und 5
BetmG in Verbindung mit Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG" schuldig zu sprechen
und mit 2 ½ Jahren Zuchthaus zu bestrafen. Der Beschwerdeführer hätte somit
im Falle eines Schuldspruchs eine empfindliche Freiheitsstrafe zu gewärtigen.
Es kann ohne Verletzung der Verfassung angenommen werden, mit Rücksicht auf
die drohende Strafe bestehe ein erheblicher Anreiz zur Flucht.

Hinsichtlich der persönlichen Verhältnisse wird im angefochtenen Entscheid
ausgeführt, der Beschwerdeführer, welcher Staatsangehöriger der
Dominikanischen Republik ist, verfüge zwar über einen festen Wohnsitz in der
Schweiz und über eine Niederlassungsbewilligung. Er habe aber in seinem
Heimatland verschiedene Familienmitglieder (Mutter, Geschwister, Kinder),
weshalb er zu diesem Land einen engen Bezug habe. Ausserdem habe er in seinem
Heimatland ein Haus, das nach seinen eigenen Angaben für ihn und seine
Familie bestimmt sei. Sodann sei der Beschwerdeführer seit einiger Zeit
arbeitslos. In Anbetracht dieser Umstände war der Haftrichter der Ansicht,
auch aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers bestünden
gewichtige Indizien für eine Fluchtgefahr. Diese Auffassung ist sachlich
vertretbar. In der staatsrechtlichen Beschwerde wird nichts vorgebracht, was
geeignet wäre, die angeführten Feststellungen des Haftrichters als
verfassungswidrig erscheinen zu lassen. Werden die gesamten Verhältnisse des
Beschwerdeführers in Betracht gezogen, so verletzte der Haftrichter die
Verfassung und die EMRK nicht, wenn er den Haftgrund der Fluchtgefahr
bejahte.

2.4  Der Beschwerdeführer kritisiert die Erwägungen, mit denen der
Haftrichter
das Vorliegen von Kollusionsgefahr begründete. Er beklagt sich in diesem
Zusammenhang auch darüber, dass er im Vergleich zur Mitbeschuldigten
Z.________ rechtsungleich behandelt worden sei.

Eine Prüfung dieser Rügen erübrigt sich, da - wie dargelegt - der Haftgrund
der Fluchtgefahr bejaht werden durfte und es für die Fortdauer der Haft
genügt, wenn ein einziger besonderer Haftgrund (neben der allgemeinen
Haftvoraussetzung des dringenden Tatverdachts) gegeben ist.

Zum Vorwurf der Verletzung der Rechtsgleichheit ist hier lediglich zu
bemerken, dass die tatsächlichen Verhältnisse in den Fällen verschiedener
Angeschuldigter kaum je genau identisch sind und der Beschwerdeführer nicht
darzutun vermag, dass der von ihm angeführte Fall in jeder Hinsicht mit
seinem Fall vergleichbar wäre.

2.5  Der Haftrichter hielt fest, eine Ersatzmassnahme komme nicht in Frage,
weil der Beschwerdeführer keine Kaution leisten könne und da bei
ausländischen Staatsangehörigen eine Pass- und Schriftensperre nicht
erfolgversprechend angeordnet werden könne. Diese Überlegungen sind nicht zu
beanstanden. Es lässt sich ohne Verletzung der Verfassung und der EMRK
annehmen, im vorliegenden Fall vermöchte eine Ersatzmassnahme die
Fluchtgefahr nicht ausreichend zu vermindern.

2.6  Die Aufrechterhaltung der Haft ist mit dem Grundsatz der
Verhältnismässigkeit vereinbar, denn es kann nicht gesagt werden, die
Haftdauer sei bereits in grosse Nähe der konkret zu erwartenden Strafe
gerückt.
Nach dem Gesagten verletzte der Haftrichter das Grundrecht der persönlichen
Freiheit nicht, wenn er das Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers
abwies. Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist
daher abzuweisen.

3.
Dem Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege im Sinne von Art. 152 Abs. 1 und 2 OG kann mit Rücksicht auf die
gesamten Umstände des Falles entsprochen werden.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2  Rechtsanwalt Pablo Blöchlinger wird als amtlicher Anwalt des
Beschwerdeführers bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der
Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'800.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Bezirksanwaltschaft Zürich, Büro
Nr. C-1, und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 10. August 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: