Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.391/2004
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2004
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2004


1P.391/2004 /gij

Urteil vom 13. September 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Bundesrichter Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

X.  ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin lic. iur. Eva
Nill,

gegen

Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich, Strafvollzugsdienst, Feldstrasse
42, 8090 Zürich,
Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Postfach, 8090
Zürich.

Strafantritt,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung der Direktion der Justiz und
des Innern des Kantons Zürich vom 8. Juni 2004.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Winterthur verurteilte X.________ am 24. Oktober 2002 u.a.
wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand zu 4 Monaten Gefängnis unbedingt. Vom
Amt für Justizvollzug (JuV) aufgefordert, sich gegebenenfalls um einen
Vollzug der Strafe in Halbgefangenschaft zu bewerben, ersuchte X.________ das
JuV am 5. März 2003, seine Hafterstehungsunfähigkeit festzustellen.

Das JuV beauftragte in der Folge das Institut für Rechtsmedizin der
Universität Zürich (IRM), die Hafterstehungsfähigkeit von X.________ zu
prüfen. Dessen Gutachten vom 22. Juli 2003 kam zum Schluss, dieser sei
hafterstehungsfähig, wobei ein stationärer Alkoholentzug vor dem Strafantritt
wünschenswert sei. Auf Anfrage des JuV erklärte sich die für den Vollzug
vorgesehene Anstalt Realta bereit und fähig, X.________ mit oder ohne
vorgängigen Entzug aufzunehmen.

Mit Verfügung vom 12. November 2003 lud das JuV X.________ auf den 26. Januar
2004 zum Strafvollzug in der Anstalt Realta vor.

X.  ________ rekurrierte gegen diesen Strafantrittsbefehl an die Direktion
der
Justiz und des Innern des Kantons Zürich (DJI) und beantragte, das Verfahren
sei zur Ergänzung ans JuV zurückzuweisen oder durch die Rekursbehörde zu
ergänzen.

Mit Verfügung vom 8. Juni 2004 wies die DJI den Rekurs ab.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 14. Juli 2004 wegen Verletzung von Art.
9 und Art. 29 Abs. 2 BV sowie von Art. 6 Ziff. 1 EMRK beantragt X.________,
diese Verfügung der DJI aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur
Neubeurteilung zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um aufschiebende Wirkung.

Das JuV verzichtet auf Vernehmlassung. In Bezug auf das Gesuch um
aufschiebende Wirkung gibt es - ohne einen Antrag zu stellen - zu bedenken,
dass die Anstalt Realta in Zusammenarbeit mit der Klinik Beverin für den
Vollzug der Strafe von X.________ geradezu prädestiniert sei und der
Anstaltsarzt beim Strafantritt die notwendigen Massnahmen treffen würde, wenn
sich X.________ nicht bereits vorgängig einem Entzug unterzogen haben sollte.
Dank der medizinischen Betreuung und des damit verbundenen Alkoholentzuges
wäre dieser im Strafvollzug sogar besser gestellt als auf freiem Fuss. Die
DJI beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei, und
teilt mit, dass der Strafantrittsbefehl zurückgezogen worden sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Gegen den letztinstanzlichen kantonalen Entscheid über den Strafantritt ist
die staatsrechtliche Beschwerde zulässig (BGE 108 Ia 69), und der
Beschwerdeführer, dessen Gesuch, den Strafantrittsbefehl wegen
Hafterstehungsunfähigkeit auszusetzen, abgewiesen wurde, ist befugt, sie zu
erheben (Art. 88 OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen
Bemerkungen Anlass, weshalb auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig
begründeter Rügen (BGE 125 I 492 E. 1b mit Hinweisen), einzutreten ist.

2.
Art. 6 EMRK räumt Personen bei Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche
und Verpflichtungen sowie in Verfahren über eine gegen sie erhobene
strafrechtliche Anklage verschiedene Rechte ein. Der Beschwerdeführer beruft
sich zu Unrecht auf diese Verfahrensgarantien, geht es doch im vorliegenden
Fall nicht (mehr) um eine gegen ihn erhobene Anklage, und es ist weder
ersichtlich noch dargetan (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG), inwiefern es beim
Strafantritt um zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen gehen soll. Die
Berufung auf Art. 6 EMRK ist unbegründet.

3.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des in Art. 29 Abs. 2 BV
garantierten rechtlichen Gehörs. Er macht geltend, er habe "zu keinem
Zeitpunkt Einsicht in die Akten über das Zustandekommen des Gutachtens des
IRM" gehabt. Es sei ihm nie Gelegenheit geboten worden, zu den Unterlagen,
auf denen das Gutachten beruhe, dem Verfahren selber sowie dem Ergebnis des
Gutachtens materiell fundiert Stellung zu nehmen. Entgegen den Ausführungen
der DJI sei die Gehörsverletzung von dieser im angefochtenen Entscheid nicht
geheilt worden: ohne Einsicht in die Unterlagen, auf die das IRM sein
Gutachten stütze, habe er zu dessen Ergebnis nicht wirksam Stellung nehmen
können. Bei der Einsicht in die Akten zur Ausarbeitung der staatsrechtlichen
Beschwerde habe seine Rechtsvertreterin zudem festgestellt, dass die DJI bei
Dr. A.________ einen Bericht über ihn eingeholt habe, ohne dass ihm dies zur
Kenntnis gebracht worden wäre. Dadurch habe die DJI § 8 des
Verwaltungsrechtspflegegesetzes von 24. Mai 1959 (VRG), welches ihm volles
Akteneinsichtsrecht einräume, willkürlich angewandt. Zudem sei ihm auch eine
persönliche Befragung nach § 7 VRG verweigert und damit auch in diesem Punkt
sein rechtliches Gehör verletzt worden.

4.
4.1 Nach den aus Art. 29 BV fliessenden Verfahrensgarantien sind alle Beweise
abzunehmen, die sich auf Tatsachen beziehen, die für die Entscheidung
erheblich sind (BGE 117 Ia 262 E. 4b; 106 Ia 161 E. 2b; 101 Ia 169 E. 1, zu
Art. 4 aBV, je mit Hinweisen). Das hindert aber den Richter nicht, einen
Beweisantrag abzulehnen, wenn er in willkürfreier Überzeugung der bereits
abgenommenen Beweise zur Überzeugung gelangt, der rechtlich erhebliche
Sachverhalt sei genügend abgeklärt, und er überdies in willkürfreier
antizipierter Würdigung der zusätzlich beantragten Beweise annehmen kann,
seine Überzeugung werde auch durch diese nicht mehr geändert (BGE 122 V 157
E. 1d; 119 Ib 492 E. 5b/bb, zu Art. 4 aBV).

4.2  Mit seinem Vorwurf, sein rechtliches Gehör sei verletzt, weil ihm eine
persönliche Befragung nach § 7 VRG verweigert worden sei, macht der
Beschwerdeführer sinngemäss geltend, diese Bestimmung räume ihm, über Art. 29
Abs. 2 BV hinausgehend, ein absolutes Recht auf eine persönliche Befragung
ein. § 7 VRG umschreibt indessen unter dem Randtitel "III. Untersuchung von
Amtes wegen" lediglich diesen Verfahrensgrundsatz für den Zürcher
Verwaltungsprozess näher und zählt dabei in Abs. 1 in einer beispielhaften
Weise die Beweismittel - unter anderem die Befragung der Beteiligten - auf,
welche die Verwaltungsbehörde erheben kann. Der Beschwerdeführer legt weder
dar, inwiefern sich aus dieser Bestimmung für die Verwaltungsbehörde die
Pflicht ergäbe, in jedem Fall eine persönliche Befragung durchzuführen, noch
inwiefern dies in seinem Fall zwingend erforderlich gewesen wäre (Art. 90
Abs. 1 lit. b OG). Die DJI hat weder § 7 VRG in unhaltbarer Weise angewandt
noch Art. 29 Abs. 2 BV verletzt, die Rüge ist unbegründet.

5.
5.1 Der Umfang des Anspruchs auf Akteneinsicht bemisst sich in erster Linie
nach kantonalem Recht, subsidiär nach den aus Art. 29 Abs. 2 BV abgeleiteten
Mindestgarantien (BGE 119 Ia 136 E. 2c S. 138, mit Hinweisen). Der
Beschwerdeführer macht eine Verletzung von § 8 VRG geltend. Nach dieser
Bestimmung habe er Anspruch auf volle Akteneinsicht. Die DJI habe diese
Bestimmung willkürlich angewandt und sein Akteneinsichtsrecht verletzt. Er
tut indessen nicht dar (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG), und das ist auch nicht
ersichtlich, dass § 8 VRG einen über Art. 29 Abs. 2 BV hinausgehenden
Anspruch auf Akteneinsicht gewährt. Nach dieser Verfassungsbestimmung
erstreckt sich die Akteneinsicht, unter Vorbehalt von hier nicht in Betracht
fallenden Ausnahmen zum Schutz von überwiegenden Geheimhaltungsinteressen,
auf alle für den Entscheid wesentlichen Akten, d.h. auf jene Akten, die
Grundlage einer Entscheidung bilden (BGE 121 I 225 E. 2a; 119 Ib 12 E. 6b;
vgl. auch BGE 125 II 473 E. 4c/cc).

5.2  In Bezug auf den Vorwurf, er habe nicht in alle Grundlagen, auf denen
das
IRM-Gutachten beruhe, Einsicht nehmen können, führt die DJI im angefochtenen
Entscheid (S. 5 letzter Absatz) aus, die Vertreterin des Beschwerdeführers
habe zweimal in das IRM-Gutachten und einmal in die Strafvollzugsakten
Einsicht genommen, ohne Einwände zu erheben, es fehlten Akten, die das IRM
für sein Gutachten verwendet habe. Ein wesentlicher Teil der vom IRM
verwendeten Beizugsakten - alle in Ziff. 1 auf S. 1 des Gutachtens erwähnten
- seien vom Beschwerdeführer selber ins Recht gelegt worden. Die weiteren
Unterlagen, die im Gutachten in ihren wesentlichen Aussagen zitiert würden,
beträfen wiederholte Feststellungen der bekannten, vorbestehenden Leiden und
der 2001 aktuellen Bruchverletzungen; es sei nicht ersichtlich, was diese
alten Dokumente im Hinblick auf die Beurteilung der aktuellen Situation des
Beschwerdeführers über die Aussage des Gutachtens hinaus beitragen könnten,
weshalb ihr Beizug unterbleiben könne.

5.3  Der Beschwerdeführer setzt sich mit diesen Ausführungen nicht
substantiiert auseinander und verletzt damit seine gesetzliche
Begründungspflicht (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG). Somit ist davon auszugehen,
dass sich die Akten, auf denen das IRM-Gutachten beruht und die der
Beschwerdeführer bzw. seine Vertreterin bei der Wahrnehmung des
Akteneinsichtsrechtes nicht zu Gesicht bekamen, dem Beschwerdeführer entweder
ohnehin bekannt waren, da er sie eingereicht hatte, oder alte Leiden
betrafen, die für die Beurteilung seiner Hafterstehungsfähigkeit nicht
erheblich waren, umso mehr die Gutachter den Beschwerdeführer selber zweimal
ärztlich untersuchten und so dessen aktuellen Gesundheitszustand aus eigener
Erkenntnis beurteilen konnten. Unter diesen Umständen konnte die DJI ohne
Verfassungsverletzung auf den Beizug dieser Akten verzichten, und die Rüge
des Beschwerdeführers, er habe ohne Einsicht in diese Akten zum Ergebnis des
IRM-Gutachtens nicht sachgerecht Stellung nehmen können, geht fehl.

6.
6.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, die DJI habe bei Dr. A.________ eine
Anfrage gemacht und daraufhin von diesem einen Bericht erhalten. Beide
Aktenstücke seien ihm nicht zur Kenntnis gebracht worden. Die DJI führt dazu
in der Vernehmlassung aus, die erwähnte Anfrage habe zur Klärung der Frage
gedient, ob das Arztzeugnis von Dr. A.________ vom 4. Februar 2004 als
Arbeitsunfähigkeitszeugnis zu verstehen sei. Auf den daraufhin von Dr.

A. ________ eingereichten, unbestellten Arztbericht vom 3. März 2004 sei
nicht
abgestellt worden, nachdem erkannt worden sei, dass das Zeugnis vom 4.
Februar 2004 "nicht anders denn als Arbeitsunfähigkeitszeugnis zu verstehen
war". Da auf den Arztbericht vom 3. März 2004 nicht abgestellt worden sei,
habe auch kein Anlass bestanden, vom Beschwerdeführer eine Stellungnahme dazu
einzuholen.

6.2  Die DJI hat auf den Bericht von Dr. A.________ vom 3. März 2004 nicht
abgestellt, weshalb es nicht verfassungswidrig war, vom Beschwerdeführer dazu
keine Stellungnahme einzuholen. Dies ergibt sich im Übrigen ohne weiteres aus
dem Inhalt des Berichts. Dieser bescheinigt, dass ein Haftantritt des
Beschwerdeführers für die Zeit zwischen dem 30. Januar und dem 28. Februar
2004 wegen einer Tibia-Kopffraktur und einer Fibulafraktur unmöglich, während
der folgenden 2 bis 6 Wochen nicht empfehlenswert und nach ca. 3 Monaten
möglich sei. Geht man zu Gunsten des Beschwerdeführers davon aus, dass der
Arzt diese Dreimonatsfrist auf das Ausstellungsdatum des Berichts und nicht
auf das Unfalldatum bezog, so bescheinigt er dem Beschwerdeführer, während
der Monate April, Mai und Juni 2004 die Strafe nicht antreten zu können.
Während dieser Zeit stand ein Strafantritt wegen des hängigen
Rekursverfahrens indessen gar nicht zur Diskussion, weshalb dieser
Arztbericht für den Ausgang des Verfahrens offensichtlich irrelevant war. Die
DJI brauchte ihn unter diesen Umständen dem Beschwerdeführer nicht zur
Stellungnahme zu unterbreiten.

7.
7.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, der Chirurg Dr. B.________ habe in
seinem Bericht vom 19. April 2004 darauf hingewiesen, dass wegen der erneuten
Hospitalisierung des Beschwerdeführers zu dessen Hafterstehungsfähigkeit die
medizinischen Ärzte konsultiert werden müssten. Die DJI habe dies unterlassen
und damit seine in § 7 VRG festgehaltene Pflicht, den Sachverhalt von Amtes
wegen abzuklären, verletzt.

Die DJI hat im angefochtenen Entscheid ausgeführt, dass der aktuelle
Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beim Eintritt in die
Vollzugsinstitution abgeklärt werde und die für den Vollzug vorgesehene
Anstalt Realta in Zusammenarbeit mit der benachbarten Klinik Beverin Gewähr
biete für eine sorgfältige Eintrittsinspektion und - gegebenenfalls - für
eine angemessene medizinische Betreuung während des Vollzugs.

7.2  Die DJI liess die Hafterstehungsfähigkeit des Beschwerdeführers auf sein
Begehren gutachterlich abklären. Dass dieses Gutachten des IRM mit
fortschreitendem Zeitablauf an Aussagekraft verliert, liegt angesichts des
offenbar labilen Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers in der Natur der
Sache. Das bedeutet indessen keineswegs, dass die DJI verfassungsrechtlich
verpflichtet wäre, immer neue Gutachten über den Gesundheitszustand des
Beschwerdeführers einzuholen, die dann beim Strafantritt möglicherweise
bereits wieder überholt wären. Da von keiner Seite je behauptet wurde, der
Beschwerdeführer sei nicht fähig, sich zum Zwecke des Strafantritts nach
Realta zu begeben, genügt es vielmehr, dass sie die Vollzugsanstalt über die
gesundheitliche Situation des Beschwerdeführers informierte und
sicherstellte, dass dieser bei seinem Strafantritt medizinisch abgeklärt und,
sollte sein dannzumaliger Zustand den Strafvollzug nicht erlauben, wieder
entlassen wird. Dieses Vorgehen ist verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden, die Rüge ist unbegründet.

8.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 156
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie dem Amt für Justizvollzug,
Strafvollzugsdienst, und der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons
Zürich schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 13. September 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: