Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.382/2004
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1P.382/2004 /sta

Urteil vom 28. Juli 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Leuthold.

X.  ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Luginbühl,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, Postfach, 8023 Zürich,
Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, Hirschengraben 13,
Postfach, 8023 Zürich.

Art. 31 Abs. 4 BV, Art. 5 Ziff. 4 EMRK
(Entlassung aus dem Massnahmenvollzug),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons
Zürich, III. Strafkammer, vom 5. Mai 2004.
Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Meilen verurteilte X.________ am 3. Juni 1999 wegen
Diebstahls, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfachen Hausfriedensbruchs,
Drohung sowie Verletzung des Strassenverkehrsgesetzes zu vier Monaten
Gefängnis unter Anrechnung von vier Tagen Untersuchungshaft. Weil beim
Angeklagten im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung eine Schizophrenie
diagnostiziert und vom Gutachter eine stationäre Behandlung empfohlen worden
war, schob das Gericht die Freiheitsstrafe im Sinne von Art. 43 Ziff. 2 StGB
auf und wies den Angeklagten gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB in eine
psychiatrische Heilanstalt ein. Mit Verfügung vom 17. September 2003 lehnte
das Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich im Rahmen der jährlichen Prüfung
nach Art. 45 Ziff. 1 StGB die probeweise Entlassung von X.________ aus der
stationären Massnahme ab. Gegen diesen Entscheid ergriff X.________ kein
Rechtsmittel.

Mit Eingabe vom 11. Dezember 2003 stellte er beim Bezirksgericht Meilen ein
Gesuch um unverzügliche Entlassung aus dem Massnahmenvollzug. Das
Bezirksgericht trat mit Zirkulationsbeschluss vom 2. März 2004 auf das
Entlassungsgesuch nicht ein. Den von X.________ dagegen erhobenen Rekurs wies
das Obergericht des Kantons Zürich am 5. Mai 2004 ab.

B.
X. ________ reichte gegen diesen Entscheid am 8. Juli 2004 beim Bundesgericht
staatsrechtliche Beschwerde ein. Er beantragt, der Rekursentscheid des
Zürcher Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei zur materiellen
Beurteilung durch das Bezirksgericht Meilen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Ausserdem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren.

C.
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Zürich verzichteten
auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bezirksgericht trat wegen fehlender Zuständigkeit auf das
Entlassungsgesuch des Beschwerdeführers nicht ein. Es führte aus, im Bereich
des Massnahmerechts (Art. 42 - 45 StGB) unterscheide das Gesetz hinsichtlich
der funktionellen Zuständigkeit zwischen "Richter" und "zuständiger Behörde".
Mit der letztgenannten Behörde sei grundsätzlich die Vollzugsbehörde gemeint.
In deren Kompetenz falle der Entscheid über eine probeweise Entlassung, über
flankierende Massnahmen dazu sowie über die Rückversetzung im Falle eines
Misserfolges. Im Kanton Zürich sei der "Justizvollzug des Kantons Zürich" die
zuständige Behörde im Sinne des StGB. Deren Entscheide könnten nach § 27 Abs.
2 des Kantonalen Straf- und Vollzugsgesetzes (StVG) an die vorgesetzte
Behörde weitergezogen werden, hier mit Rekurs an die kantonale
Justizdirektion (§ 22 des zürcherischen Verwaltungsrechtspflegegesetzes,
VRG). Der Rekursentscheid könne mit Beschwerde beim Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich angefochten werden (§ 41 VRG). Gegen dessen Entscheid stehe
die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht offen (Art. 98 lit. g
OG). Das Bezirksgericht hielt sodann fest, im vorliegenden Fall gehe es nicht
um die Frage einer Entlassung aus einer strafprozessualen Haft, sondern aus
dem Massnahmenvollzug. Dafür seien die Vollzugsbehörden zuständig. Auch wenn
der Beschwerdeführer seine vorbehaltlose unverzügliche Entlassung beantrage,
werde zu prüfen sein, ob eine probeweise Entlassung möglich sei, ob eine
Schutzaufsicht anzuordnen sei und ob dem zu Entlassenden Weisungen zu
erteilen seien. Dies seien reine Vollzugsfragen, die nicht der Sachrichter zu
regeln habe.

Das Obergericht gelangte im angefochtenen Entscheid zum Schluss, das
Bezirksgericht sei zu Recht auf das Entlassungsgesuch des Beschwerdeführers
nicht eingetreten.

2.
In der staatsrechtlichen Beschwerde wird geltend gemacht, der Entscheid des
Obergerichts verletze Art. 5 Ziff. 4 EMRK und Art. 31 Abs. 4 BV.

2.1  Gemäss Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat jede Person, die festgenommen oder der
die
Freiheit entzogen ist, das Recht, zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb
kurzer Frist über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs entscheidet und
ihre Entlassung anordnet, wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmässig ist.
Nach Art. 31 Abs. 4 BV hat jede Person, der die Freiheit nicht von einem
Gericht entzogen wird, das Recht, jederzeit ein Gericht anzurufen. Dieses
entscheidet so rasch als möglich über die Rechtmässigkeit des
Freiheitsentzugs.

2.2  Das Obergericht führte im angefochtenen Entscheid aus, eine gerichtlich
angeordnete Massnahme nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB erfolge für
unbestimmte Dauer und werde erst aufgehoben, wenn ihr Grund weggefallen sei
(Art. 43 Ziff. 4 Abs. 1 StGB). Ob der Grund weiter bestehe, sei in
vernünftigen Abständen zu prüfen, die im Falle der Unterbringung von
Geisteskranken länger sein dürften als beispielsweise bei Untersuchungshaft.
Zudem dürfe die Aufhebung einer Massnahme erst nach einer umfassenden
Abklärung und Prüfung aller erforderlichen Entscheidgrundlagen erfolgen;
psychiatrische Einweisungen würden oftmals wesentlich schwierigere Fragen
aufwerfen als Fälle der Untersuchungshaft, deren Abklärung nach der Praxis
der Strassburger Organe auch einige Monate in Anspruch nehmen dürfe, wenn die
Gerichte keine Zeit unnütz verstreichen liessen. Sodann verwies das
Obergericht auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 5 Ziff. 4 EMRK
und zitierte aus den Erwägungen der bundesgerichtlichen Urteile vom 6. August
2001 (6A.63/2001) und 7. Juli 2003 (1P.352/2003). Das Obergericht erklärte,
nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts halte die im Kanton Zürich
getroffene Regelung (bezüglich zuständiger Behörde und Rechtsmittelweg) im
Zusammenhang mit der Entlassung aus dem Massnahmenvollzug von geistig
Abnormen vor Art. 5 Ziff. 4 EMRK stand. Dies gelte auch dann, wenn der
Betroffene bereits seit langer Zeit stationär untergebracht sei und das
Entlassungsverfahren eine relativ lange Zeit in Anspruch nehme. Entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers sei Art. 5 Ziff. 4 EMRK nicht so auszulegen,
dass das Entlassungsgesuch eines stationär untergebrachten Massnahmepatienten
innerhalb von wenigen Wochen von einer Gerichtsbehörde beurteilt werden
müsse. Es sei grundsätzlich mit Art. 5 Ziff. 4 EMRK und Art. 31 Abs. 4 BV
vereinbar, wenn die Vollzugsbehörde im Rahmen von Art. 45 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
eine jährliche Überprüfung der Massnahme vornehme und dieser Entscheid mit
Rechtsmitteln an eine Gerichtsbehörde weitergezogen werden könne. Aus der in
Art. 5 Ziff. 4 EMRK enthaltenen Formulierung "innerhalb kurzer Frist" könne
nicht hergeleitet werden, im Rahmen einer Entlassung aus einer stationären
Massnahme müsse der Entscheid innerhalb weniger Wochen erfolgen. Zum heutigen
Zeitpunkt, rund vier Monate nach der Stellung des Entlassungsgesuchs, liege
keine Verletzung von Art. 5 Ziff. 4 EMRK und Art. 31 Abs. 4 BV vor.

"Nur ergänzend sei" - wie das Obergericht im Weiteren festhielt - darauf
hinzuweisen, dass aus dem vom Beschwerdeführer in dessen Eingabe vom 31. März
2004 erwähnten Beschluss des Obergerichts vom 27. August 1998 nichts
Sachdienliches über die Zuständigkeiten der Instanzen hergeleitet werden
könne, da jenem Entscheid ein vom vorliegenden Fall abweichender Sachverhalt
zugrunde gelegen habe. Die Vorinstanz habe damals im Rahmen eines
ordentlichen Nachverfahrens eine stationäre Massnahme aufgehoben und vom
Vollzug einer Freiheitsstrafe abgesehen. Die Zuständigkeit der
Gerichtsbehörde habe sich daher ohne weiteres aus Art. 43 Ziff. 3 StGB
ergeben.

Abschliessend erklärte das Obergericht, unter den erwähnten Umständen habe
das Bezirksgericht mit Recht festgehalten, im vorliegenden Fall sei die
Zuständigkeit des Strafrichters nicht gegeben. Der Beschwerdeführer werde
seine Argumente im Rahmen des Entlassungsverfahrens im Sinne von Art. 45
Ziff. 1 Abs. 2 StGB vorbringen müssen.

2.3  Der Beschwerdeführer wendet ein, die Begründung des angefochtenen
Entscheids erweise sich in mehreren Punkten als verfassungs- bzw.
konventionswidrig.

2.3.1  Er macht geltend, entgegen den Ausführungen im angefochtenen Entscheid
habe dem Beschluss des Obergerichts vom 27. August 1998, in welchem die
Eintretensfrage ohne weiteres bejaht worden sei, kein abweichender
Sachverhalt zugrunde gelegen.

Diese Kritik, welche sich gegen die nur ergänzend angebrachten Bemerkungen
des Obergerichts richtet, ist unzutreffend. Das Obergericht ging mit Grund
davon aus, im Entscheid vom 27. August 1998 sei es um einen vom hier in Frage
stehenden Fall abweichenden Sachverhalt gegangen, weshalb der
Beschwerdeführer aus diesem Entscheid nichts zu seinen Gunsten ableiten
könne.

2.3.2  Was in der staatsrechtlichen Beschwerde gegen die oben (E. 2.2)
angeführte Begründung des Obergerichts vorgebracht wird, ist nicht geeignet,
die betreffenden Überlegungen als verfassungs- oder konventionswidrig
erscheinen zu lassen.

Das Bezirksgericht Meilen schob mit Urteil vom 3. Juni 1999 den Vollzug der
gegen den Beschwerdeführer ausgefällten Freiheitsstrafe auf und wies ihn
gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB in eine psychiatrische Heilanstalt ein.
Nachdem dieses Urteil (nach unbenütztem Ablauf der Berufungsfrist) in
Rechtskraft erwachsen war, befand sich der Beschwerdeführer im stationären
Massnahmenvollzug. Er ist zu Unrecht der Ansicht, ein "Entlassungsgesuch"
könne gemäss Art. 31 Abs. 4 BV "jederzeit" gestellt werden. Der
Freiheitsentzug des Beschwerdeführers (stationärer Massnahmenvollzug) beruht
auf einem richterlichen Urteil. Ein strafprozessualer Anspruch, "jederzeit"
den Haftrichter anzurufen (Art. 31 Abs. 4 BV), ist - wie das Bundesgericht im
Urteil 1P.321/2001 vom 28. Mai 2001, E. 1e, erklärte - im Massnahmenvollzug
nach rechtskräftiger Verurteilung nicht mehr gegeben. Der Anspruch auf
regelmässige Haftkontrolle in vernünftigen Abständen (Art. 5 Ziff. 4 EMRK)
ist durch die von Amtes wegen zu erfolgende Prüfung der bedingten bzw.
probeweisen Entlassung aus dem Massnahmenvollzug (Art. 45 Ziff. 1 Abs. 2
StGB) gewährleistet. Das Obergericht verwies im angefochtenen Entscheid zu
Recht auf das Urteil des Bundesgerichts 1P.352/2003 vom 7. Juli 2003. In
jenem Entscheid wurde ausgeführt, gemäss Art. 45 Ziff. 1 Abs. 2 StGB habe in
Bezug auf die probeweise Entlassung aus einer Anstalt nach Art. 43 StGB die
zuständige Behörde mindestens einmal jährlich Beschluss zu fassen. Der
Entscheid der zuständigen Behörde könne im Kanton Zürich beim Regierungsrat
angefochten werden; gegen dessen Entscheid sei die Beschwerde an das
kantonale Verwaltungsgericht gegeben; hernach stehe die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zur Verfügung. Mit Art. 45
Ziff. 1 Abs. 2 StGB sei dem Erfordernis der regelmässigen Überprüfung des
Freiheitsentzuges Rechnung getragen (Urteil 1P.352/2003 vom 7. Juli 2003, E.

2.2 ). Im vorliegenden Fall hatte das Amt für Justizvollzug im Rahmen dieser
Überprüfung mit Verfügung vom 17. September 2003 die probeweise Entlassung
des Beschwerdeführers aus der stationären Massnahme abgewiesen. Gegen diesen
Entscheid hätte der Beschwerdeführer die erwähnten Rechtsmittel (Rekurs an
die Justizdirektion; Beschwerde an das kantonale Verwaltungsgericht,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht) ergreifen können. Er hat
dies jedoch unterlassen. Stattdessen reichte er am 11. Dezember 2003 ein
Gesuch um Entlassung aus dem Massnahmenvollzug beim Bezirksgericht Meilen
ein. Das Obergericht ist aus den oben angeführten, zutreffenden Überlegungen
zum Schluss gelangt, das Bezirksgericht habe Art. 5 Ziff. 4 EMRK und Art. 31
Abs. 4 BV nicht verletzt, wenn es mangels Zuständigkeit auf das Gesuch des
Beschwerdeführers nicht eingetreten sei. Der angefochtene Rekursentscheid
hält somit vor der Verfassung und der EMRK stand.

Nach dem Gesagten erweist sich die staatsrechtliche Beschwerde als
unbegründet. Sie ist deshalb abzuweisen.

3.
Der Beschwerdeführer ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege im
Sinne von Art. 152 Abs. 1 und 2 OG. Da die staatsrechtliche Beschwerde
aussichtslos war, kann dem Gesuch nicht entsprochen werden. Der
Beschwerdeführer wäre somit an sich kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Es
rechtfertigt sich indessen, von der Erhebung von Kosten abzusehen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 28. Juli 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: