Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.36/2004
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1P.36/2004 /zga

Urteil vom 23. März 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Ersatzrichterin Geigy-Werthemann,
Gerichtsschreiberin Scherrer.

X. ________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Beat Hauri,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, 3. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau.

Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Einstellung des Verfahrens;
Kosten- und Entschädigungsfolgen),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil
des Obergerichts des Kantons Aargau, 3. Strafkammer, vom 13. November 2003.

Sachverhalt:

A.
X. ________ fuhr am 9. Mai 2001 in Oberentfelden mit ihrem Personenwagen auf
der Dorfstrasse Richtung Muhen. Y.________ war mit seinem Lastwagen von
rechts kommend unterwegs durch die Köllikerstrasse und hatte die Absicht,
nach links Richtung Suhr in die Dorfstrasse einzubiegen. Bei seiner Einfahrt
in die Dorfstrasse hielt er an, um einem von rechts herannahenden Fahrzeug
den Vortritt zu gewähren. Als er wieder anfuhr, kam es zur Kollision mit dem
von links kommenden Fahrzeug von X.________.

B.
Mit Strafbefehl vom 17. April 2002 bestrafte der
Bezirksamtmann-Stellvertreter des Bezirksamts Aarau X.________ wegen
Missachtung des Rechtsvortritts und Kollision mit dem Lastwagen Y.________ -
wobei an beiden Fahrzeugen Sachschaden entstand - zu einer Busse von Fr.
250.--. Nachdem X.________ gegen den Strafbefehl Einsprache erhoben hatte,
sprach sie das Bezirksgericht Aarau am 6. November 2002 der Missachtung des
Rechtsvortritts gemäss Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 36 Abs. 2
SVG schuldig und verurteilte sie zu einer Busse von Fr. 250.-- sowie zur
Tragung der Verfahrenskosten von insgesamt Fr. 885.50, bestehend aus einer
Gerichtsgebühr von Fr. 750.-- sowie einer Kanzleigebühr und den Auslagen von
Fr. 135.50.

C.
Mit Urteil vom 13. November 2003 stellte das Obergericht des Kantons Aargau,
3. Strafkammer, in teilweiser Gutheissung der Berufung von X.________ das
Strafverfahren gegen sie zufolge Verjährung ein. Es auferlegte ihr die
erstinstanzlichen Verfahrenskosten von Fr. 989.50, bestehend aus einer
Gerichtsgebühr von Fr. 750.-- sowie einer Kanzleigebühr und den Auslagen von
Fr. 239.50. Die obergerichtlichen Verfahrenskosten von Fr. 750.--, die sich
aus einer Gerichtsgebühr von Fr. 600.-- sowie einer Kanzleigebühr und den
Auslagen von Fr. 150.-- zusammensetzten, auferlegte es zu 2/3 der Angeklagten
und im Übrigen der Staatskasse. Ferner sprach es der Angeklagten 1/3 ihrer
richterlich genehmigten Verteidigerkosten für das Berufungsverfahren zu. Zur
Begründung seines Kostenentscheids erklärte das Obergericht, die Angeklagte
habe mit ihrem Verhalten gegen eine grundlegende Regel des SVG, nämlich den
Rechtsvortritt gemäss Art. 36 Abs. 2 SVG und damit gegen eine der
Verkehrssicherheit dienende Verhaltensnorm verstossen. Im Berufungsverfahren
obsiege die Angeklagte zufolge der Einstellung des Verfahrens teilweise, sie
unterliege aber im Kostenpunkt.

D.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 19. Januar 2004 beantragt X.________
Aufhebung des obergerichtlichen Urteils vom 13. November 2003, soweit ihr
Kosten auferlegt werden, soweit ihr eine Entschädigung für ihre
erstinstanzlichen Parteikosten verweigert wird und soweit ihr die
Parteikosten für das Berufungsverfahren nicht vollständig, sondern nur zu
einem Drittel, ersetzt werden. Sie beruft sich auf Art. 32 Abs. 1 BV sowie
Art. 6 Ziff. 2 EMRK und macht geltend, der Kostenentscheid des Obergerichts
verstosse gegen die in diesen Bestimmungen gewährleistete Unschuldsvermutung.

E.
Die Staatsanwaltschaft und die 3. Strafkammer des Obergerichts des Kantons
Aargau haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen letztinstanzlichen
kantonalen Entscheid im Sinn von Art. 86 Abs. 1 OG. Die Beschwerdeführerin
ist durch die Auferlegung von Gerichtskosten und die Abweisung
beziehungsweise teilweise Abweisung ihres Entschädigungsgesuchs in ihren
rechtlich geschützten Interessen berührt und daher gemäss Art. 88 OG zur
staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert. Sie beruft sich auf Art. 32 Abs. 1
BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK. Die geltend gemachte Verfassungs- beziehungsweise
Konventionsverletzung kann mit keinem anderen Rechtsmittel gerügt werden
(Art. 84 Abs. 2 OG). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt
sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.
Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht eine Verletzung der
Unschuldsvermutung vor, weil es ihr die erstinstanzlichen und einen Teil der
zweitinstanzlichen Kosten auferlegt und ihr eine Parteientschädigung für das
erstinstanzliche Verfahren ganz und für das Berufungsverfahren zu zwei
Dritteln verweigert hat.

2.1 Das Obergericht hat im angefochtenen Urteil Bezug genommen auf § 164 Abs.
3 in Verbindung mit §§ 139 Abs. 3 und 140 Abs. 1 des aargauischen Gesetzes
über die Strafrechtspflege vom 11. November 1958 (Strafprozessordnung,
StPO-AG; AGS 251.100), wonach das Gericht die Verfahrens- und
Verteidigungskosten im Falle der Freisprechung oder Einstellung des
Verfahrens ganz oder teilweise dem Beschuldigten auferlegen kann, wenn er
durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen die Untersuchung
verschuldet oder ihre Durchführung erschwert hat. Die Beschwerdeführerin
hatte ausgesagt, sie habe angenommen, der ihr gegenüber vortrittsberechtigte
Lastwagen werde wegen des ihr von Muhen her entgegenkommenden, gegenüber dem
Lastwagen vortrittsberechtigten Verkehrs ohnehin warten, so dass sie
geradeaus Richtung Muhen fahren könne. Aufgrund dieser Darstellung des
Sachverhalts ist das Obergericht zum Schluss gelangt, die Beschwerdeführerin
habe mit ihrem Verhalten gegen eine grundlegende Regel des SVG, nämlich den
Rechtsvortritt gemäss Art. 36 Abs. 2 SVG verstossen. Unabhängig von ihrer
Strafbarkeit habe die Angeklagte mit ihrem Fahrmanöver zumindest in
zivilrechtlich vorwerfbarer Weise pflichtwidrig unvorsichtig gehandelt und
damit voraussehbarermassen das Strafverfahren verursacht. Sie habe daher für
die dadurch entstandenen erstinstanzlichen Verfahrens- und
Verteidigungskosten einzustehen.

2.2 Den Bestimmungen in §§ 139 Abs. 3 und 140 Abs. 1 StPO-AG, welche sich
gleich oder ähnlich lautend in den meisten kantonalen Strafprozessordnungen
finden, liegt der Gedanke zugrunde, dass nicht der Staat und damit die
Allgemeinheit für Verfahrenskosten aufkommen solle, die von einem
Angeschuldigten durch vorwerfbares Verhalten verursacht wurden (BGE 116 Ia
162 E. 2a S. 166 mit Hinweis). Nach der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte widerspricht das der Unschuldsvermutung
gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK nicht, es sei denn, die Begründung des
Kostenentscheids erwecke den Eindruck, das Gericht halte den nicht
verurteilten Beschuldigten gleichwohl für strafrechtlich schuldig, ohne dass
seine Schuld zuvor in einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren
nachgewiesen worden sei (Urteil vom 25. März 1983 i.S. Minelli, in EuGRZ 1983
S. 475 ff. und SJZ 79/1983 S. 197 ff.). Nach der seither ergangenen
Rechtsprechung des Bundesgerichts dürfen einem Angeschuldigten bei Freispruch
oder Einstellung des Verfahrens nur dann Kosten auferlegt werden, wenn er
durch ein unter rechtlichen Gesichtspunkten vorwerfbares Verhalten die
Einleitung des Strafverfahrens veranlasst oder dessen Durchführung erschwert
hat. Bei der Kostenpflicht des freigesprochenen oder aus dem Verfahren
entlassenen Angeschuldigten handelt es sich nicht um eine Haftung für ein
strafrechtliches Verhalten, sondern um eine zivilrechtlichen Grundsätzen
angenäherte Haftung für ein fehlerhaftes Verhalten, durch das die Einleitung
oder Erschwerung eines Prozesses verursacht wurde (BGE 120 Ia 147 E. 3b S.
155; 119 Ia 332 E. 1b S. 334). Bei der Frage, ob eine Kostenauflage eine
unter dem Gesichtspunkt der Unschuldsvermutung unzulässige strafrechtliche
Missbilligung enthält, ist dabei nicht auf den Eindruck abzustellen, den der
Entscheid beim juristisch geschulten Leser hervorruft, sondern darauf, wie
ihn das Publikum verstehen darf und muss (BGE 114 Ia 299 E. 2b. S. 302 mit
Hinweis).

3.
3.1 Das Obergericht hat im angefochtenen Urteil die Kostenauflage nur damit
begründet, die Beschwerdeführerin habe gegen den Rechtsvortritt gemäss Art.
36 Abs. 2 SVG verstossen. Diese Argumentation stützt sich ausschliesslich auf
einen strafrechtlichen Vorwurf. Inwiefern sich die Beschwerdeführerin mit
ihrem Fahrmanöver in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise pflichtwidrig
unvorsichtig verhalten haben soll, wird vom Obergericht nicht näher erklärt
und ist auch nicht zu erkennen, da sich der strafrechtliche Vorwurf - die
Missachtung des Rechtsvortritts - nicht unterscheiden lässt von der
pflichtwidrigen Unvorsichtigkeit, die das Obergericht der Beschwerdeführerin
in zivilrechtlicher Hinsicht vorwerfen will. Was das Obergericht zur
Begründung der Kostenauflage darlegt, beinhaltet eindeutig eine
strafrechtliche Missbilligung. Diese ist angesichts der Einstellung des
Verfahrens zufolge der seit dem Urteil des Bezirksgerichts eingetretenen
Verjährung nicht mit der Unschuldsvermutung von Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 2 EMRK vereinbar. Die Rüge, die Unschuldsvermutung sei durch die der
Beschwerdeführerin auferlegten erstinstanzlichen und teilweise auferlegten
zweitinstanzlichen Verfahrenskosten verletzt, ist daher begründet.

3.2 Die Ausrichtung einer Parteientschädigung für das Verfahren vor dem
Bezirksgericht verweigerte das Obergericht mit der gleichen Begründung, mit
der es die Auferlegung der Verfahrenskosten gerechtfertigt hatte. Somit sind
die Abweisung des Gesuchs um Parteientschädigung für das erstinstanzliche
Verfahren und die auf einen Drittel der Parteikosten beschränkte Zusprechung
einer Entschädigung im Berufungsverfahren ebenfalls verfassungs- und
konventionswidrig.

4.
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich somit als begründet und ist
gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist, soweit der Beschwerdeführerin
damit Kosten auferlegt werden und die Ausrichtung einer Parteientschädigung
verweigert wird, aufzuheben.

Bei diesem Ausgang des bundesgerichtlichen Verfahrens sind keine Kosten zu
erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Der Kanton Aargau hat die Beschwerdeführerin
für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 159
Abs. 1 und 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des
Obergerichtes des Kantons Aargau, 3. Strafkammer, vom 13. November 2003
aufgehoben, soweit der Beschwerdeführerin Verfahrenskosten auferlegt werden
und die Ausrichtung einer Parteientschädigung verweigert wird.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft  und dem
Obergericht des Kantons Aargau, 3. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 23. März 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: