Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.360/2004
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1P.360/2004 /gij

Urteil vom 25. August 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Ersatzrichter Rohner,
Gerichtsschreiberin Schoder.

B.  ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Gunhilt
Kersten,

gegen

Bezirksamt Aarau, Amthaus, Laurenzenvorstadt 12, 5000 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Obere
Vorstadt 38,
5000 Aarau.

Art. 9 Abs. 1, 29 Abs. 2 und 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Abweisung
eines Beweisergänzungsantrags),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 13. Mai 2004.

Sachverhalt:

A.
D.  ________, war am 10. September 1997 durch eine andere Person an der
rechten Schulter verletzt worden. Sie macht geltend, dass Dr. B.________ als
SUVA-Kreisarzt am 3. Oktober 1997 anlässlich einer Untersuchung die
bestehende Verletzung des Schultergelenks in einer Weise verschlimmert habe,
die Operationen notwendig gemacht habe und einen Dauerschaden erwarten lasse.
Aufgrund eines vom Untersuchungsrichter eingeholten, am 9. Mai 2002
erstatteten Gutachtens von Prof. Dr. H.________ stellte die
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau das Verfahren mit Verfügung vom 18.
September 2002 ein. Das Obergericht hob auf Beschwerde der Anzeigerin die
Einstellungsverfügung am 27. November 2002 auf und wies die
Staatsanwaltschaft an, durch Ergänzungsfragen zum bestehenden Gutachten
abzuklären, ob Dr. B.________ anlässlich der Untersuchung am 3. Oktober 1997
einen Beitrag an die Körperverletzung von D.________ geleistet hatte. Nachdem
der Experte am 8. Dezember 2003 ein Ergänzungsgutachten erstattet und dieses
am 21. Januar 2004 vervollständigt hatte, beantragte Dr. B.________ mit
Schreiben vom 5. April 2004 verschiedene Beweisergänzungen, namentlich die
Einvernahme eines Zeugen und die Einholung eines zweiten Gutachtens.

B.
Der Bezirksamtmann-Stellvertreter von Aarau wies den Antrag auf
Zeugeneinvernahme sowie den Antrag auf Einholung eines zweiten Gutachtens mit
Verfügung vom 7. April 2004 ab. Er begründete diese Verfügung nicht, fügte
ihr aber bei, er werde die Akten mit einem Schlussbericht und dem Antrag auf
Anklageerhebung beim Gericht der Staatsanwaltschaft überweisen.

C.
Mit Eingabe vom 28. April 2004 focht Dr. B.________ diese Verfügung beim
Obergericht des Kantons Aargau (Beschwerdekammer in Strafsachen) an und hielt
insbesondere am Antrag auf Einvernahme des erwähnten Zeugen sowie auf
Anordnung eines zweiten Gutachtens fest.

Das Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, trat mit
Entscheid vom 13. Mai 2004 auf die Beschwerde nicht ein.

D.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 24. Juni 2004 wegen Verletzung der Art.
29 und 30 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK beantragt Dr. B.________, den
Entscheid des Obergerichts vom 13. Mai 2004 aufzuheben und die Sache zur
Neubeurteilung zurückzuweisen.

E.
Das Bezirksamt Aarau lässt sich - ohne ausdrücklichen Antrag - mit Eingabe
vom 5. Juli 2004 zur Beschwerde vernehmen, soweit damit eine Verletzung der
Begründungspflicht gerügt wird. Das Obergericht des Kantons Aargau verzichtet
mit Schreiben vom 6. Juli 2004 auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Anfechtungsobjekt ist ein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid, mit dem
das Obergericht das Eintreten auf eine die Beweiserhebung im
Untersuchungsverfahren betreffende Verfügung des
Bezirksamtmann-Stellvertreters von Aarau verweigert. Diese dem angefochtenen
Entscheid zugrunde liegende Verfügung ist ein selbständig eröffneter
Zwischenentscheid im Sinne von Art. 87 OG. Er betrifft weder die
Zuständigkeit noch ein Ausstandsbegehren im Sinne von Art. 87 Abs. 1 OG,
sondern stellt einen "anderen" Zwischenentscheid gemäss Abs. 2 dieser
Bestimmung dar, gegen den die staatsrechtliche Beschwerde nur zulässig ist,
wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann.

2.
2.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bedarf es eines nicht wieder
gutzumachenden Nachteils rechtlicher Natur, damit ein Zwischenentscheid
gemäss Art. 87 Abs. 2 OG mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden
kann; eine bloss tatsächliche Beeinträchtigung wie beispielsweise eine
Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens genügt nicht. Der Nachteil ist
nur dann rechtlicher Art, wenn er auch durch einen für den Beschwerdeführer
günstigen Endentscheid nicht mehr behoben werden könnte (BGE 126 I 97 E. 1b
S. 100; 117 Ia 396 E. 1 S. 398, je mit Hinweisen). Dabei ist es nicht nötig,
dass sich der Nachteil schon im kantonalen Verfahren durch einen günstigen
Endentscheid beheben lässt. Es genügt, wenn er in einem anschliessenden
bundesgerichtlichen Verfahren beseitigt werden kann (BGE 126 I 97 E.1b S. 100
f.; 117 Ia 251 E. 1b S. 254, je mit Hinweisen).

2.2  Der Beschwerdeführer erachtet das Gutachten von Prof. Dr. H.________ als
krass mangelhaft und macht geltend, dass die Ablehnung des Beweisantrages auf
Zweitbegutachtung im Untersuchungsverfahren dazu führe, dass wesentliche
Elemente der notwendigen Ermittlung des Prozessstoffes in das Hauptverfahren
verlagert würden. Nach Aargauer Strafprozessrecht könne das Gericht auch
dann, wenn gewichtige Teile der Untersuchung neu vorzunehmen seien, die Sache
nach Anklageerhebung nur unter hier nicht gegebenen Voraussetzungen an die
Untersuchungsbehörde zurückweisen. Da vorliegend das entscheidende
Beweismittel - das Gutachten - nicht brauchbar sei, entfalle praktisch das
ganze Untersuchungsergebnis. Indem das urteilende Gericht die Untersuchung
weitgehend zu wiederholen haben werde und somit in untersuchungsrichterlicher
Funktion werde fungieren müssen, sei es in seinem Entscheid über den Ausgang
des Strafverfahrens nicht mehr frei. Dies verstosse gegen Art. 30 Abs. 1 BV
und bedeute einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil.

2.3  Ein nicht wieder gutzumachender Nachteil liegt nicht vor. Dem
urteilenden
Gericht ist nach der Praxis zu Art. 30 Abs. 1 BV, die derjenigen zu Art. 58
Abs. 1 aBV entspricht, nicht verboten, selber Beweise abzunehmen (vgl. BGE
115 Ia 217 E. 6 S. 223, mit Hinweisen). Das Gesetz des Kantons Aargau vom 11.
November 1958 über die Strafrechtspflege (Strafprozessordnung, StPO) räumt
eine entsprechende Kompetenz sowohl dem Präsidenten des urteilenden Gerichts
(§ 151 StPO) als auch dem Gericht selber ein (§ 156 StPO). Selbst wenn aber
aus Art. 30 Abs. 1 BV und der verfassungskonform ausgelegten kantonalen
Gesetzgebung abzuleiten wäre, dass die Funktionen der Untersuchungsbehörde
und des urteilenden Gerichts nicht dergestalt vermischt werden dürfen, dass
das urteilende Gericht wesentliche Untersuchungshandlungen selber durchführt,
könnte ein solcher Mangel - wenn er denn vorläge, was offen bleiben kann -
nach wie vor mit staatsrechtlicher Beschwerde gegen das letztinstanzliche
kantonale Urteil geltend gemacht und behoben werden.

2.4  Mangels eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils ist auf die
Beschwerde nicht einzutreten. Dies gilt sowohl bezüglich der vorstehend
dargelegten Hauptfrage wie auch bezüglich der Rüge der Gehörsverweigerung
infolge Abweisung des Antrages auf Zweitbegutachtung sowie bezüglich der
Frage, ob das Gutachten krasse Mängel aufweise, so dass nicht ohne Willkür
darauf abgestellt und die Anklage allein darauf gestützt werden könne. Da der
angefochtene Entscheid für den Beschwerdeführer keinen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirkt, ist auch die Frage der - auch vom
Obergericht als verletzt angesehenen - Begründungspflicht obsolet.

3.
Auf die Beschwerde ist demgemäss nicht einzutreten. Bei diesem
Verfahrensausgang wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1
OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksamt Aarau und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 25. August 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: