Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.346/2004
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1P.346/2004 /sta

Urteil vom 27. Oktober 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Reeb,
Gerichtsschreiber Kessler Coendet.

X. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Catherine
Weisser,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Altstätten,
Luchsstrasse 11, Postfach, 9450 Altstätten SG,
Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer,
Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.

Art. 9, 29 und 32 BV (Strafverfahren; Beweiswürdigung, Anklagegrundsatz,
Unschuldsvermutung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St.
Gallen, Strafkammer, vom 31. März 2004.
Sachverhalt:

A.
Am frühen Morgen des 31. Dezember 1998 brannte das Vergnügungslokal
"Y.________" in ... aus. X.________, Mitinhaberin und Wirtin, hatte nach der
Schliessung des Lokals mindestens eine Kerze auf einem dürren Adventskranz
weiter brennen lassen. Nachdem eine Angestellte in der Folge von aussen
Brandgeruch wahrgenommen hatte, sah X.________ nach und stellte fest, dass
der Adventskranz Feuer gefangen hatte. Mit einem Sektkübel übergoss sie den
Adventskranz zweimal mit Wasser, öffnete anschliessend zwei Fenster, um den
Rauch abziehen zu lassen, und verliess das Lokal erneut. Daraufhin entfachte
sich ein Grossbrand.

B.
Mit Verfügung vom 11. Oktober 1999 überwies das Bezirksamt Unterrheintal
X.________ zur gerichtlichen Beurteilung wegen fahrlässiger Verursachung
einer Feuersbrunst im Sinne von Art. 222 Abs. 1 StGB. Die erste Abteilung des
Bezirksgerichts Unterrheintal erklärte die Angeklagte am 31. Mai 2000 dieses
Vergehens schuldig und verurteilte sie zu einer Busse von Fr. 3'000.--,
bedingt löschbar bei einer Probezeit von einem Jahr. Die geltend gemachte
Forderung einer Angestellten wurde auf den Zivilrechtsweg verwiesen. Auf
Berufung der Angeklagten hob die Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen
diesen Entscheid am 10. Januar 2001 wegen formeller Mängel auf und wies die
Strafsache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück.

Am 12. Juni 2002 sprach die erste Abteilung des Bezirksgerichts Unterrheintal
X.________ wiederum der fahrlässigen Verursachung einer Feuersbrunst schuldig
und bestätigte den ersten Entscheid hinsichtlich der verhängten Strafe und
der Behandlung der Zivilforderung. Die Strafkammer des Kantonsgerichts St.
Gallen wies am 31. März 2004 eine neuerliche Berufung der Angeklagten ab.

C.
Gegen das Urteil des Kantonsgerichts hat X.________ staatsrechtliche
Beschwerde erhoben. Sie beantragt dem Bundesgericht, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und sie sei freizusprechen. Geltend gemacht wird
eine willkürliche Beweiswürdigung (Art. 9 BV) sowie eine Verletzung des
Anklagegrundsatzes (Art. 29 Abs. 2 BV) und der Unschuldsvermutung (Art. 32
Abs. 1 BV).
Das Kantonsgericht St. Gallen erklärte Verzicht auf eine Stellungnahme. Die
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen hat sich nicht vernehmen lassen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob auf eine
staatsrechtliche Beschwerde einzutreten ist (BGE 129 I 302 E. 1 S. 305).

1.1 Beim angefochtenen Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen handelt es sich
um einen kantonal letztinstanzlichen Entscheid (Art. 86 Abs. 1 OG), gegen den
auf Bundesebene für die Geltendmachung der Verletzung verfassungsmässiger
Rechte die staatsrechtliche Beschwerde zur Verfügung steht (Art. 84 Abs. 2 OG
i.V.m. Art. 269 Abs. 2 BStP). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen
gegeben sind, ist auf die Beschwerde grundsätzlich einzutreten.

1.2 Soweit die Beschwerdeführerin neben der Aufhebung des angefochtenen
Entscheids verlangt, das Bundesgericht habe sie bei einer Gutheissung der
Beschwerde von Schuld und Strafe freizusprechen, verkennt sie die
kassatorische Natur der staatsrechtlichen Beschwerde (BGE 129 I 129 E. 1.2.1
S. 131 f.; 124 I 327 E. 4 S. 332 ff., je mit Hinweisen). Nicht anders verhält
es sich mit dem Begehren, das Bundesgericht habe die kantonalen Verfahrens-
und Parteikosten neu zu verlegen. Auf diese beiden Anträge kann nicht
eingetreten werden.

2.
2.1 Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss eine staatsrechtliche Beschwerde die
wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten,
welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie
durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind. Im staatsrechtlichen
Beschwerdeverfahren prüft das Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene
Rügen. Auf ungenügend begründete Rügen und rein appellatorische Kritik am
angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (BGE 130 I 26 E. 2.1 S. 31; 127 I
38 E. 3c S. 43, je mit Hinweisen).

2.2 Die Beschwerdeführerin wirft dem Kantonsgericht vor, es sei unter
Verletzung des Anklagegrundsatzes davon ausgegangen, dass ein "Mottbrand" des
Adventskranzes die Feuersbrunst verursacht habe. In diesem Zusammenhang
wiederholt die Beschwerdeführerin Argumente, die sie bereits vor dem
Kantonsgericht vorgebracht hat. Sie bezieht sich jedoch nicht konkret auf die
Erwägungen des angefochtenen Entscheids und tut nicht im Einzelnen dar,
inwiefern diese gegen die angerufene Verletzung des Anklagegrundsatzes
verstossen. Ob dieses verfassungsmässige Recht verletzt wurde, kann deshalb
nicht geprüft werden.

2.3 Gerügt wird weiter eine willkürliche Beweiswürdigung im Hinblick auf die
Verwertbarkeit der Einvernahme der Beschwerdeführerin vom 1. Januar 1999. Das
Kantonsgericht hat die Berufung in diesem Punkt mit mehreren, voneinander
unabhängigen Begründungen abgewiesen. Einerseits hat es sich auf das
Gutachten vom 4. Februar 2002 mit Ergänzung vom 13. Mai 2002 abgestützt.
Anderseits hat das Kantonsgericht weitere Elemente berücksichtigt. Namentlich
hat es den Inhalt des Einvernahmeprotokolls selbst, auch unter
Berücksichtigung der Aussagen der Beschwerdeführerin gegenüber dem
Kantonsgericht, und ein Schreiben des Untersuchungsrichters vom 25. Juni 2001
in seine Überlegungen einbezogen. Ferner hat es dargelegt, weshalb es die
weiteren Beweisanträge der Beschwerdeführerin abgewiesen hat.

Die Beschwerdeführerin befasst sich in diesem Punkt lediglich mit der
Würdigung des erwähnten Gutachtens und seiner Ergänzung. Dagegen äussert sie
sich in der Beschwerdeschrift nicht zu den weiteren Begründungssträngen.
Beruht ein angefochtener Entscheid auf mehreren, voneinander unabhängigen
Begründungen, muss sich der Beschwerdeführer mit jeder von ihnen
auseinandersetzen und bezüglich jeder hinreichend dartun, dass der Entscheid
verfassungswidrig ist. Eine Beschwerdeschrift, die diese Voraussetzungen
nicht erfüllt, genügt den Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG nicht
(vgl. BGE 121 IV 94 E. 1b S. 95; Urteil 5P.64/2002 vom 13. März 2002, E. 2b,
in: Pra 2002 S. 648 f.). Auf die Willkürrüge im Zusammenhang mit der
Verwertbarkeit der Einvernahme vom 1. Januar 1999 ist somit nicht
einzutreten.

3.
Die Beschwerdeführerin bringt vor, sie habe den Adventskranz vollständig
gelöscht. Das Kantonsgericht habe mit der Feststellung, dass die Feuersbrunst
durch einen Mottbrand des Adventskranzes verursacht worden sei, sowohl das
Willkürverbot wie auch die Unschuldsvermutung verletzt.

3.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verfügt der Sachrichter im
Bereich der Beweiswürdigung über einen weiten Beurteilungsspielraum. Willkür
liegt vor, wenn in einem Entscheid von Tatsachen ausgegangen wird, die mit
der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen, auf einem
offenkundigen Fehler beruhen oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen. Dabei genügt es nicht, wenn der
angefochtene Entscheid sich nur in der Begründung als unhaltbar erweist; eine
Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er im Ergebnis verfassungswidrig ist.
Das Abstellen auf nicht schlüssige Gutachten kann gegen Art. 9 BV verstossen,
wenn gewichtige, zuverlässig begründete Tatsachen oder Indizien die
Überzeugungskraft des Gutachtens ernstlich erschüttern (BGE 129 I 49 E. 4 S.
57 f.; 128 I 81 E. 2 S. 86, je mit Hinweisen).

Im Bereich der Beweiswürdigung kommt dem aus der Unschuldsvermutung (Art. 32
Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK) folgenden Grundsatz "in dubio pro reo" die
Bedeutung zu, dass sich der Strafrichter nicht von einem für den Angeklagten
ungünstigen Sachverhalt überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver
Betrachtung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich
der Sachverhalt so verwirklicht hat. Diese Beweiswürdigungsregel ist
verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des Angeklagten hätte zweifeln
müssen. Dabei sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend,
weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden
kann. Das Bundesgericht legt sich bei der Überprüfung von Beweiswürdigungen
im Strafprozess Zurückhaltung auf. Es greift mit anderen Worten nur ein, wenn
der Sachrichter den Angeklagten verurteilte, obgleich bei objektiver
Würdigung des Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche und schlechterdings
nicht zu unterdrückende Zweifel an dessen Schuld fortbestanden (vgl. BGE 127
I 38 E. 2a S. 41 mit Hinweisen).

Der angefochtene Entscheid ist anhand dieser Grundsätze auf seine
Verfassungsmässigkeit hin zu prüfen.

3.2 Das Kantonsgericht hat es unter Hinweis auf die Erwägungen im Entscheid
des Bezirksgerichts Unterrheintal vom 12. Juni 2002 als erwiesen erachtet,
dass das Brennenlassen einer Kerze auf dem Adventskranz zum Adventskranzbrand
und das ungenügende Löschen dieses Brandes durch die Beschwerdeführerin zur
nachfolgenden Feuersbrunst geführt hatte.
Die Beschwerdeführerin erwidert, sie habe stets widerspruchsfrei ausgesagt,
dass sie sicher sei, den Adventskranz vollständig gelöscht zu haben. Sie habe
für ihre Löscharbeit kein Licht verwendet. In der Dunkelheit hätte sie die
Glut eines Mottbrandes sehen müssen, was sie immer kategorisch ausgeschlossen
habe. Im brandtechnischen Gutachten sei von einem Mottbrand nicht die Rede,
obwohl die Experten im Ergänzungsgutachten ausdrücklich nach dem
Brandmechanismus gefragt worden seien. Im Gegenteil hätten die Experten
festgestellt, dass es durchaus möglich sei, einen Adventskranz mit zwei
Sektkübeln Wasser vollständig zu löschen. Im ersten brandtechnischen
Gutachten sei ausserdem festgehalten worden, dass über einen möglichen
Kabelbrand als Brandursache keine Aussage gemacht werden könne. Es gebe keine
Beweise dafür, dass sich der Adventskranz nach dem Löschvorgang, den die
Beschwerdeführerin vorgenommen habe, nochmals entzündet und den Grossbrand
verursacht hätte. Letzterer sei in einem Vergnügungslokal ausgebrochen. Viele
hundert Zigaretten seien dort im Verlauf der Nacht vor dem Brand angezündet
worden, wovon eine oder mehrere durchaus den Grossbrand hätten verursachen
können.

3.3 Der Umstand, dass kein direkter Beweis dafür vorliegt, dass sich der
Adventskranz ein zweites Mal entzündet hat, entkräftet die gewichtigen
Indizien nicht, die in eine solche Richtung weisen. Das Kantonsgericht hat
dabei wesentlich auf den kriminaltechnischen, gutachterlichen Bericht vom 11.
Februar 1999 und dessen Ergänzung vom 1. März 2000 abgestellt. In diesen
technischen Gutachten wurde ein Brand des Adventskranzes in allerengsten
Betracht für die Verursachung der Feuersbrunst gezogen, obwohl jener zuvor
bereits einmal gebrannt hatte. Folglich spielt es keine Rolle, dass in diesen
Berichten eine ausdrückliche Qualifizierung als Mott- bzw. Schwelbrand fehlt.
Zur Möglichkeit eines Kabelbrandes wurde zwar auch im Ergänzungsbericht vom
1. März 2000 nicht in abschliessender Weise Stellung genommen. Dort ist aber
eine klare Aussage im Hinblick auf den örtlich am ehesten in Frage kommenden
Bereich in der Nähe des Adventskranzes gemacht worden. Somit ist es nicht
willkürlich, einen Kabelbrand als Ursache der Feuersbrunst auszuschliessen.

Den Einwand, in der Dunkelheit hätte der Beschwerdeführerin eine allfällige
Restglut nach dem ersten Löschvorgang auffallen müssen, hat bereits das
Bezirksgericht Unterrheintal im Entscheid vom 12. Juni 2002 schlüssig mit dem
Hinweis auf das Restlicht von aussen und die Rauchentwicklung entkräftet.
Weiter konnte auch eine brennende Zigarette einer Drittperson ohne Willkür
als Brandursache verneint werden. Das Bezirksgericht Unterrheintal hat im
Entscheid vom 12. Juni 2002 darauf hingewiesen, dass das Lokal rund drei
Stunden früher geschlossen worden war. Ausserdem hat es festgehalten, dass
sich ab ca. 05.00 Uhr ausschliesslich noch die Beschwerdeführerin im Lokal
aufhielt und dass sie dieses abschloss, bevor sie es verliess. Das
Kantonsgericht durfte auf eine Wiederholung dieser Begründungen verzichten.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Vorbringen der
Beschwerdeführerin nicht geeignet sind, die Beweiswürdigung des
Kantonsgerichts als willkürlich erscheinen zu lassen oder offensichtlich
erhebliche und schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an der Schuld
der Beschwerdeführerin zu begründen. Verletzungen des Willkürverbots sowie
der Unschuldsvermutung lassen sich nicht ausmachen.

4.
Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist
abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang trägt die
Beschwerdeführerin die Gerichtskosten (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft des Kantons
St. Gallen, Untersuchungsamt Altstätten, und dem Kantonsgericht St. Gallen,
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. Oktober 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: