Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.319/2004
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2004
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2004


1P.319/2004 /sta

Urteil vom 28. September 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Bundesrichter Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Störi.

I.  ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Beat Rieder,

gegen

Untersuchungsrichteramt Oberwallis, Kantonsstrasse 6, 3930 Visp,
Staat Wallis, 1950 Sitten, vertreten durch die Staatsanwaltschaft Oberwallis,
Gebreitenweg 2, Postfach 540, 3930 Visp,
Kantonsgericht Wallis, Strafkammer, Justizgebäude, 1950 Sitten 2.

Entschädigung gemäss Art. 114 StPO,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Wallis,
Strafkammer, vom 27. April 2004.
Sachverhalt:

A.
Das Untersuchungsrichteramt Oberwallis führte gegen I.________ eine
Untersuchung wegen eines Jagdvergehens im Sinne von Art. 17 JSG. Es
verdächtigte ihn, am unerlaubten Abschuss des am 25. November 1998 in
Reckingen tot aufgefundenen Wolfes beteiligt gewesen zu sein. Im Zuge der
Untersuchung wurde I.________ am 27. April 1999, um 09:15 Uhr, in seiner
Wohnung in ... verhaftet. Nach wiederholten Befragungen wurde er am Abend des
gleichen Tages aus der Haft entlassen.

Am 11. Mai 2000 eröffnete der Untersuchungsrichter gegen I.________ ein
Strafverfahren und stellte dieses am 7. Dezember 2000 wieder ein. Am 6.
September 2001 hiess das Kantonsgericht die Berufung des Staatsanwaltes gegen
die Einstellung des Verfahrens gut und wies die Sache zur Wiederaufnahme des
Verfahrens an den Untersuchungsrichter zurück.

Am 13. Dezember 2002 stellte der Untersuchungsrichter das Verfahren erneut
ein, nahm die Kosten auf die Staatskasse und verpflichtete den Kanton Wallis,
I.________ eine Parteientschädigung von Fr. 6'246.50 zu bezahlen.

B.
Am 13. Februar 2003 beantragte I.________ mit einem Entschädigungsbegehren im
Sinne von Art. 114 der Walliser Strafprozessordnung vom 22. Februar 1962
(StPO), der Kanton Wallis habe ihm eine Entschädigung für den Lohnausfall und
den sonstigen materiellen Schaden in Höhe von Fr. 38'134.-- sowie eine
Genugtuung von Fr. 20'000.-- zu bezahlen.

Die Strafkammer des Kantonsgerichts sprach I.________ am 7. August 2003 eine
Genugtuung von Fr. 1'200.-- zu und wies die weitergehenden Begehren ab. Es
erhob keine Kosten und sprach ihm für das Verfahren eine Parteientschädigung
von Fr. 300.-- zu.

Das Bundesgericht hiess am 12. Dezember 2003 die von I.________ dagegen
erhobene staatsrechtliche Beschwerde gut und hob diesen Entscheid der
Strafkammer auf.

C.
Mit Urteil vom 27. April 2004 bestätigte die Strafkammer ihren ersten in
dieser Sache ergangenen Entscheid.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 28. Mai 2004 wegen Verletzung von Art. 9
und Art. 29 Abs. 2 BV beantragt I.________, diesen Entscheid der Strafkammer
aufzuheben. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

Die Strafkammer und der Staatsanwalt verzichten auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist aus den gleichen Gründen und im
gleichen Umfang einzutreten wie im Urteil 1P.519/2003 vom 12. Dezember 2003.

2.
Die Strafkammer übt im angefochtenen Entscheid massive Kritik am Urteil des
Bundesgerichts vom 12. Dezember 2003. Sie wirft ihm vor, ohne
Auseinandersetzung mit der einhelligen Lehre, seiner eigenen Rechtsprechung
und der Gesetzessystematik der Walliser StPO, in Verkennung der grundlegenden
Unterschiede zwischen einem Schadenersatzbegehren und einer strafrechtlichen
Beschwerde ein (Fehl-)Urteil gefällt zu haben, an das sie sich nicht gebunden
fühle. Dazu ist Folgendes festzuhalten:

Es ist in der Tat in erster Linie Sache der zuständigen kantonalen Gerichte,
ihre Prozessordnungen auszulegen, nur müssen sie dies willkürfrei und unter
Beachtung der verfassungs- und konventionsrechtlichen Verfahrensgarantien
tun. Verfahrensgegenstand war (und ist) ein Entschädigungsbegehren im Sinne
von Art. 114 Ziff. 1 StPO, welches kraft ausdrücklichen Verweises materiell
nach den Bestimmungen des Obligationenrechts - d.h. Art. 41 ff. OR - zu
beurteilen ist. Für das Verfahren verweist Art. 114 Ziff. 2 StPO auf das
Beschwerdeverfahren und damit auf die Art. 166 ff. StPO. Diesen Verweis will
die Strafkammer nur teilweise gelten lassen, etwa soweit Art. 172 Ziff. 1
StPO eine mündliche Verhandlung ausschliesst. Nicht gelten soll dagegen Art.
171 Ziff. 1 Satz 2 StPO, wonach die Strafkammer die Erhebungen macht, die sie
für zweckmässig erachtet.
Nach Auffassung der Strafkammer handelt es sich bei einem
Entschädigungsanspruch nach Art. 114 StPO um einen privatrechtlichen Anspruch
gegen den Staat (E. 2a S. 4). Damit gelten die Garantien von Art. 29 und 30
BV sowie von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, was beispielsweise bedeutet, dass der
Gesuchsteller entgegen Art. 172 Ziff. 1 StPO einen (verzichtbaren) Anspruch
auf eine öffentliche Verhandlung hat. Wie die Strafkammer innerhalb des von
der StPO und den verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien eines
fairen Verfahrens vorgegebenen Rahmens Entschädigungsbegehren behandeln will,
ob sie beispielsweise, was für einen Forderungsprozess nicht unangemessen und
mit Art. 171 Ziff. 1 Satz 1 StPO nicht unvereinbar wäre, ein eigentliches
Zweiparteien-Verfahren mit dem Gesuchsteller in der Rolle des Zivilklägers
und dem Staatsanwalt bzw. der zuständigen Behörde in der Rolle des Beklagten,
oder ob sie sich - näher an einem Beschwerdeverfahren - damit begnügen will,
die vom Gesuchsteller erhobenen und belegten Forderungen zu prüfen, ist ihre
Sache. Diesfalls müsste sie jedoch vor einem Entscheid dem Gesuchsteller zur
Wahrung des rechtlichen Gehörs Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen, falls
sie ins Auge fasst, seine Forderungen - z.B. wegen Selbstverschuldens i.S.
von Art. 114 Ziff. 1 Satz 2 StPO - zu kürzen oder mit staatlichen
Gegenforderungen zu verrechnen. Selbstverständlich wird dieses
Entschädigungsverfahren - und etwas anderes ergibt sich auch aus dem
gescholtenen Urteil des Bundesgerichts vom 12. Dezember 2003 nicht - nicht
von der Offizialmaxime beherrscht: Es ist am Gesuchsteller, seine Forderung
zu beziffern und alle haftungsbegründenden Voraussetzungen zu behaupten und
zu belegen. Die Strafkammer ist nur, aber immerhin, verpflichtet, die form-
und fristgerecht angebotenen, erheblichen Beweise auch abzunehmen, was bei
ihrem durch das Bundesgericht aufgehobenen ersten Urteil nicht erfolgte.

3.
Der Beschwerdeführer wirft der Strafkammer vor, sie habe den Schaden
willkürlich berechnet und sein rechtliches Gehör verletzt, indem sie
Beweismittel nicht abgenommen habe.

3.1  Nach den aus Art. 29 BV fliessenden Verfahrensgarantien sind alle
Beweise
abzunehmen, die sich auf Tatsachen beziehen, die für die Entscheidung
erheblich sind (BGE 117 Ia 262 E. 4b; 106 Ia 161 E. 2b; 101 Ia 169 E. 1, zu
Art. 4 aBV, je mit Hinweisen). Das hindert aber den Richter nicht, einen
Beweisantrag abzulehnen, wenn er in willkürfreier Überzeugung der bereits
abgenommenen Beweise zur Überzeugung gelangt, der rechtlich erhebliche
Sachverhalt sei genügend abgeklärt, und er überdies in willkürfreier
antizipierter Würdigung der zusätzlich beantragten Beweise annehmen kann,
seine Überzeugung werde auch durch diese nicht mehr geändert (BGE 122 V 157
E. 1d; 119 Ib 492 E. 5b/bb, zu Art. 4 aBV).

3.2  Willkürlich ist ein Entscheid, der mit der tatsächlichen Situation in
klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz
krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken
zuwiderläuft. Dabei genügt es nicht, dass die Begründung unhaltbar ist, der
Entscheid muss sich vielmehr im Ergebnis als willkürlich erweisen (BGE 125 I
166 E. 2a; 125 II 10 E. 3a, 129 E. 5b; 122 I 61 E. 3a je mit Hinweisen).

4.
4.1 Die Strafkammer führt im angefochtenen Entscheid aus (E. 3 S. 5), aus dem
Bundesgerichtsentscheid vom 12. Dezember 2003 ergebe sich, dass sie dem
Gesuchsteller Gelegenheit zu geben habe, den Schaden zu substantiieren und zu
belegen. Er habe am 17. Februar 2004 die entsprechenden Belege hinterlegt.
Entgegen dem Entschädigungsgesuch vom 13. Februar 2003 habe er dabei seine
Parteieinvernahme und die Einvernahme seiner Ehefrau nicht mehr explizit
beantragt. Auf diese Einvernahmen könne zudem auch deshalb verzichtet werden,
weil die beiden zu den familiären Problemen befragt werden sollten, die durch
die Strafuntersuchung ausgelöst worden seien, da vom Gericht nie angezweifelt
worden sei, dass die Strafuntersuchung zu familiären Spannungen geführt habe.

4.2  Der Beschwerdeführer macht geltend, die Behauptung der Strafkammer, er
habe im Gesuch vom 17. Februar 2004 seine Parteieinvernahme und die
Einvernahme seiner Frau nicht mehr verlangt, sei wahrheitswidrig. Er habe in
seiner Eingabe vom 17. Februar 2004, welche nichts anderes als eine Ergänzung
des ursprünglichen Entschädigungsbegehrens vom 13. Februar 2003 gewesen sei,
ausdrücklich auf die bereits damals gestellten Beweisanträge verwiesen. Die
beiden Einvernahmen wären sowohl für die Beurteilung der Genugtuung als auch
des Lohnausfalles und damit des Schadens zwingend gewesen, weshalb die
Strafkammer seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe, indem sie
diese Beweismittel nicht abgenommen habe.

4.3  Mit der Aufhebung des Urteils der Strafkammer vom 7. August 2003 wurde
der Prozess in den Stand zurückversetzt versetzt, den er vor dessen Erlass
hatte. Von der Strafkammer neu zu beurteilen war somit das
Entschädigungsbegehren vom 13. Februar 2003. Dieses war ohne weiteres
Verfahrensgegenstand, selbst wenn der Beschwerdeführer in seiner ergänzenden
Eingabe vom 17. Februar 2004 nicht auch noch ausdrücklich auf seine
ursprünglich gestellten Beweisanträge verwiesen hätte. Die Strafkammer hat
somit im Ergebnis eine formelle Rechtsverweigerung begangen, indem sie
erhebliche (vgl. den folgenden Abschnitt) Beweisanträge des ursprünglichen
Entschädigungsbegehrens unbehandelt liess, die im Übrigen im
Ergänzungsbegehren mit der Verweisung auch wiederholt worden waren.

Die Strafkammer hat in ihrer Eventualbegründung ausgeführt, auf die Abnahme
der beiden Beweismittel könne auch deshalb verzichtet werden, weil sie
unerheblich seien. Dies trifft indessen nicht zu. Es ist keineswegs
auszuschliessen, dass die - angeblich verheerenden - Auswirkungen des
Strafverfahrens auf das Eheleben und die Gesundheit des Beschwerdeführers,
die mit den beantragten beiden Einvernahmen (u.a.) bewiesen werden sollten,
einen massgeblichen Einfluss auf die Bemessung einer Genugtuung haben
könnten. Ebenfalls nicht von vornherein auszuschliessen ist, dass zumindest
die Einvernahme der Ehefrau auch in Bezug auf die Schadensberechnung
erheblich sein könnte, vgl. unten E. 5.3. Die Strafkammer verfiel daher in
Willkür, indem sie die Abnahme dieser Beweismittel in antizipierter
Beweiswürdigung ablehnte. Die Gehörsverweigerungsrüge ist begründet.

4.4  Angesichts der formellen Natur des rechtlichen Gehörs ist damit der
angefochtene Entscheid ohne weiteres aufzuheben. Aus prozessökonomischen
Gründen rechtfertigen sich indessen folgende Hinweise zur vom
Beschwerdeführer als willkürlich gerügten Schadensberechnung.

5.
5.1 In Bezug auf den als Schaden geltend gemachten Lohnausfall kam die
Strafkammer zum Schluss, ein solcher sei, abgesehen von 300 Franken als
Entgelt für die eintägige Inhaftierung, nicht ausgewiesen. Dies im
Wesentlichen deshalb, weil das Erwerbseinkommen des Beschwerdeführers in den
Jahren 1999 - 2002 kontinuierlich gestiegen sei; insbesondere habe er
unmittelbar nach seiner fristlosen Entlassung am 15. Oktober 2001 bei
Y.________ eine temporäre Anstellung von 9 Wochen angetreten, wofür er einen
deutlich höheren Bruttolohn als zuvor bei der X.________ AG bezogen habe.

5.2  Der Beschwerdeführer rügt, die Strafkammer sei nicht auf die in seinem
Entschädigungsgesuch vom 13. Februar 2003 Ziff. 38 aufgeführten
Schadensposten eingegangen, sondern habe sich damit begnügt, die jährlichen
Einkommen der Jahre 1999 - 2002 zu vergleichen und aus dem Umstand, dass sie
jährlich gestiegen seien, den falschen Schluss gezogen, es sei ihm aus seiner
fristlosen Entlassung kein Schaden entstanden. Diese Überlegung beruhe auf
der unzulässigen Annahme, dass sein Einkommen ohne schädigendes Ereignis
gleichgeblieben wäre und nur erlittene Verluste, nicht aber entgangener
Gewinn zu entschädigen wären. Diese Vergleichsmethode sei daher willkürlich.

5.3  Was die Schadenshöhe betrifft, so bringt der Beschwerdeführer zu Recht
vor, dass es unhaltbar ist, einen Schaden bereits deshalb zu verneinen, weil
das Erwerbseinkommen in den Jahren 1999 bis 2002 stetig gestiegen sei. Es
kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass das schädigende
Ereignis die Einkommenssteigerung minderte, was als entgangener Gewinn
Bestandteil eines Schadens bildet. Die Vergleichsmethode, die die Strafkammer
anwandte, ist auch sonst in Bezug auf den zu prüfenden adäquaten
Kausalzusammenhang fragwürdig. Sicher unzulässig ist zudem, das
Erwerbseinkommen der Ehefrau ohne weiteres dem Beschwerdeführer zuzurechnen,
denn Geschädigter ist der Beschwerdeführer, nicht die Familie. Dies könnte
allenfalls dann in Betracht fallen, wenn die Lohnzahlung an die Ehefrau
missbräuchlich erfolgte mit dem Zweck, seine eigenen Bezüge tief zu halten
und auf diese Weise einen überhöhten Schaden auszuweisen. Dazu begnügt sich
die Strafkammer mit Mutmassungen; entgegen ihrer Auffassung ist es jedenfalls
beim Aufbau eines Geschäftes nicht von vornherein ungewöhnlich, dass ein
Geschäftsinhaber weniger Lohn bezieht als seine Angestellten.

6.
Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben
(Art. 156 OG). Hingegen hat der Kanton Wallis dem Beschwerdeführer eine
angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG). Damit wird das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Wallis hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Untersuchungsrichteramt
Oberwallis, dem Staat Wallis und dem Kantonsgericht Wallis, Strafkammer,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 28. September 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: