Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.312/2004
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1P.312/2004 /sta

Urteil vom 1. Oktober 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud,
Gerichtsschreiber Pfisterer.

X.  ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Duri
Poltera,

gegen

Staat St. Gallen, vertreten durch die Staatsanwaltschaft des Kantons St.
Gallen, diese vertreten durch Staatsanwalt Dr. Th. Hansjakob, Schützengasse
1,
9001 St. Gallen,
Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, Klosterhof 1, 9001 St. Gallen.

Art. 9 und 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Strafverfahren; BetmG),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St.
Gallen, Strafkammer, vom 10. März 2004.
Sachverhalt:

A.
X.  ________ wurde am 28. August 2003 wegen mehrfacher schwerer Widerhandlung
gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG, SR 812.121) sowie gegen das
Bundesgesetz vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der
Ausländer (ANAG, SR 142.20) zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt,
abzüglich 142 Tage Untersuchungshaft. Zudem wurde er mit einer
Landesverweisung von acht Jahren, unbedingt vollziehbar, belegt.

X.  ________ erhob gegen dieses Urteil Berufung an das Kantonsgericht St.
Gallen. Dieses wies die Berufung am 10. März 2004 ab und auferlegte ihm die
Verfahrenskosten.

B.
X. ________ führt mit Eingabe vom 26. Mai 2004 staatsrechtliche Beschwerde
und
beantragt die Aufhebung des Entscheides des Kantonsgerichts. Zudem stellt er
das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.

Die Staatsanwaltschaft schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei, das Kantonsgericht verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Der Beschwerdeführer erhielt Gelegenheit zu einem zweiten Schriftenwechsel.
Er bestritt die Ausführungen der Staatsanwaltschaft und verzichtete im
Übrigen auf weitere Ausführungen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1  Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Entscheid in seinen
rechtlich geschützten Interessen betroffen (Art. 88 OG). Er macht die
Verletzung verfassungsmässig garantierter Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit.
a OG). Dazu ist er legitimiert. Da auch die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf seine staatsrechtliche
Beschwerde grundsätzlich einzutreten.

1.2  Nach der Ansicht des Beschwerdeführers hat das Kantonsgericht die Akten
im Zusammenhang mit der Frage, ob die Ausschaffungshaft an die Haftdauer
anzurechnen sei, willkürlich gewürdigt. Das Kantonsgericht sei nur deshalb
zum Schluss gelangt, die Ausschaffungshaft werde nicht an die
Untersuchungshaft angerechnet.
Inwieweit der Beschwerdeführer damit Rechts- und inwieweit Tatfragen
aufwirft, kann offen bleiben. Die angebliche Verletzung der Bestimmungen über
die Anrechnung der Ausschaffungs- bzw. der Untersuchungshaft an die Dauer der
Freiheitsstrafe (vgl. Art. 69 und 110 Abs. 7 StGB; Art. 13b ANAG) könnte im
Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde jedenfalls nicht überprüft werden
(vgl. Art. 84 Abs. 2 OG). Die Kritik am angefochtenen Entscheid wäre aber
auch im Rahmen einer Nichtigkeitsbeschwerde unbegründet. Der Beschwerdeführer
macht zu Unrecht geltend, der Untersuchungsrichter habe vom Ende der
Ausschaffungshaft keine Kenntnis gehabt, weshalb der Umstand, dass er nicht
wieder Untersuchungshaft angeordnet habe, nicht dagegen spreche, die
Ausschaffungshaft als Ersatz für die Untersuchungshaft zu betrachten. Das
Gegenteil ist der Fall und lässt auch die übrigen Einwände des
Beschwerdeführers als unbegründet erscheinen. Die Dauer der Ausschaffungshaft
ist von Gesetzes wegen zeitlich limitiert (vgl. Art. 13b Abs. 2 ANAG und die
Praxis dazu: BGE 130 II 56 E. 4). Hätte der Untersuchungsrichter die
Untersuchungshaft trotz der Ausschaffungshaft als notwendig erachtet, hätte
er dafür gesorgt, den Beschwerdeführer erneut verhaften zu können. Dass der
Untersuchungsrichter dies nicht getan hat, lässt durchaus den Schluss zu, die
Untersuchungshaft wäre nicht mehr aufrechterhalten worden bzw. die
Ausschaffungshaft sei nicht anstelle der Untersuchungshaft angeordnet worden.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer hält dafür, das Kantonsgericht habe den aus der
Unschuldsvermutung abgeleiteten Grundsatz "in dubio pro reo" als
Beweiswürdigungsregel verletzt (Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK).
Er sieht in der Tatsache, dass die Verurteilung wegen der Lagerung von Drogen
und von Geld (Sachverhalt 5b) einzig auf den Aussagen des Zeugen Y.________
beruht, eine willkürliche Verletzung der Beweiswürdigungsregel (Art. 9 BV).

2.2  Die Beweiswürdigung ist willkürlich (Art. 9 BV), wenn sie
offen-sichtlich
unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht,
auf einem offenkundigen Versehen beruht oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Dabei genügt es nicht, wenn der
angefochtene Entscheid sich nur in der Begründung als unhaltbar erweist; eine
Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis verfassungswidrig
ist (BGE 129 I 8 E. 2.1, 49 E. 4, mit Hinweisen).
Gemäss Art. 32 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Ziff. 2 EMRK gilt jede angeschuldigte
Person bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig. Als
Beweiswürdigungsregel besagt der aus der Unschuldsvermutung abgeleitete
Grundsatz "in dubio pro reo", dass sich der Strafrichter nicht von einem für
den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt überzeugt erklären darf, wenn bei
objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so
verwirklicht hat. Die Maxime ist verletzt, wenn der Strafrichter an der
Schuld des Angeklagten hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und
theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und
absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Es muss sich um erhebliche
und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln, d.h. um solche, die sich nach
der objektiven Sachlage aufdrängen. Bei der Frage, ob angesichts des
willkürfreien Beweisergebnisses erhebliche und nicht zu unterdrückende
Zweifel hätten bejaht werden müssen und sich der Sachrichter vom für den
Angeklagten ungünstigen Sachverhalt nicht hätte überzeugt erklären dürfen,
greift das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung ein, da der Sachrichter diese
in Anwendung des Unmittelbarkeitsprinzips zuverlässiger beantworten kann.

2.3  Das Kantonsgericht führte im angefochtenen Entscheid aus, weshalb es den
Aussagen des Zeugen Glauben schenkte. Es bemerkte, der Zeuge habe an der
Einvernahme vom 6. August 2003 von sich aus erzählt, wie er der Fahrradspur
des Beschwerdeführers im Schnee gefolgt sei und das Versteck ("Bunker") mit
den Drogen und dem Geld in der Nähe des ... ausgeräumt habe. Anlässlich der
zweiten Einvernahme am gleichen Tag habe er diese Angabe präzisiert. Der
Polizei gegenüber habe er diese Erklärung am 11. August 2003 nicht bestätigt.
Dabei sei jedoch auffällig gewesen, wie er den Beschwerdeführer in Schutz
genommen habe. Seine Ausführungen seien hilflos, ausweichend und
unverbindlich gewesen. An der Einvernahme vom 14. August 2003 sei sodann
deutlich geworden, dass der Zeuge vor dem Beschwerdeführer Angst habe. Er sei
jedoch an der Konfrontationseinvernahme vom 15. August 2003 auf seine
ursprünglichen Darlegungen zurückgekommen und habe die Frage, ob er den
Bunker des Beschwerdeführers geleert habe, ausdrücklich bejaht. Daraufhin sei
der Beschwerdeführer über ihn erbost. Der Zeuge habe diese Aussage an der
Gerichtsverhandlung bestätigt und weiter detailliert. Seine Ausführungen
erschienen glaubhaft, nachvollziehbar und schlüssig. Der Grund für die
zwischenzeitlich abweichenden Angaben sei durch die Angst vor dem
Beschwerdeführer erklärbar. Ob die beiden Personen, die ihn bedroht hätten,
mit dem Beschwerdeführer in Verbindung standen, sei nicht nachgewiesen, könne
letztlich aber offen bleiben. Demgegenüber erschien der Beschwerdeführer dem
Kantonsgericht nicht gleichermassen glaubwürdig. Vorerst habe er nur zwei
Tatvorwürfe eingestanden, drei weitere in erster Instanz hingegen
abgestritten. In der Berufungseingabe habe er sodann diese drei Vorhalte
anerkannt, um sie an der Berufungsverhandlung erneut abzustreiten. Aus seinen
Äusserungen gehe allerdings hervor, dass ihm das Bunkern von Drogen nicht
fremd sei. Dies habe er zudem in der Nähe des Ortes getan, an dem der Zeuge
die Drogen gefunden habe.

2.4  Was der Beschwerdeführer gegen die Beweiswürdigung im angefochtenen
Entscheid anführt, ist nicht geeignet, qualifizierte Zweifel an den
Ausführungen des Kantonsgerichts und damit an seiner Schuld zu wecken. Das
angefochtene Urteil erscheint im Ergebnis nicht als verfassungs- oder
konventionswidrig.

2.4.1  Der Beschwerdeführer bringt vor, der Zeuge habe ihn zwischenzeitlich
entlastet. Es sei nicht ersichtlich, weshalb das Kantonsgericht festhalte,
der Zeuge habe dies nur getan, weil er vor ihm Angst gehabt habe.

Das Kantonsgericht stütze sich auf die Ausführungen des Zeugen. So erklärte
dieser, er habe anderen Personen von seinem Fund erzählt. Der
Beschwerdeführer habe davon erfahren und ihn zur Rede gestellt. An der
Befragung vom 14. August 2003 erklärte er sein zwischenzeitliches Abweichen
von der ersten Aussage ausdrücklich mit der Angst vor dem Beschwerdeführer.
Er erkundigte sich namentlich, ob der Beschwerdeführer in Haft sei. Da er der
einzige gewesen sei, der damals Drogen beim Beschwerdeführer bezogen habe,
sei dieser darauf gekommen, dass er (der Zeuge) den Bunker geleert habe.
Letztmals gab er seiner Angst zu Beginn der Verhandlung vor Kantonsgericht
Ausdruck, als ihn der Vorsitzende nach dem Verhältnis zum Beschwerdeführer
befragte.

Die Erwägung des Gerichts, der Zeuge habe vor dem Beschwerdeführer Angst
gehabt, lässt sich somit an mehreren Aktenstellen nachlesen. Entgegen den
Ausführungen des Beschwerdeführers liegt diesbezüglich klarerweise kein
Widerspruch zwischen den Akten und dem angefochtenen Entscheid vor. Das
Kantonsgericht hat gestützt darauf dargelegt, weshalb es die ersten und die
letzten Ausführungen des Zeugen als glaubwürdig erachtete und weshalb es
davon ausgegangen ist, der Zeuge habe aus Angst zwischenzeitlich seine
Aussagen vom 6. August 2003 widerrufen. Von willkürlicher Beweiswürdigung
kann nicht gesprochen werden.

2.4.2  Der Beschwerdeführer macht ferner geltend, wenn der Zeuge von zwei
Personen wegen der Leerung des Bunkers bedroht worden sei, dränge sich auf,
dass nicht er, sondern diese beiden Personen den Bunker benützt hätten. Das
Kantonsgericht habe nicht in Erwägung gezogen, dass der Bunker auch einer
anderen Täterschaft als dem Beschwerdeführer hätte zugeordnet werden können.

Dem ist entgegenzuhalten, dass der Zeuge detailliert geschildert hat, wie der
Beschwerdeführer per Fahrrad zur Drogenübergabe erschienen sei. Er sei als
einziger mit dem Fahrrad umhergefahren. Der Zeuge habe dem Beschwerdeführer
anhand der Spuren im Schnee folgen können und so das Versteck gefunden. Es
habe geschneit und im Schnee seien keine weiteren Spuren zu sehen gewesen.
Das Gericht nahm zugunsten des Beschwerdeführers an, dass keine Verbindung zu
den zwei Albanern oder Libanesen, welche den Zeugen bedroht haben, bestanden
habe. Damit wollte es offenbar, wie die Staatsanwaltschaft zu Recht anführt,
nur aussagen, es sei nicht erwiesen, dass der Beschwerdeführer jemanden
beauftragt habe, den Zeugen einzuschüchtern. Der Schluss, der Bunker habe
diesen beiden Personen gehört, drängt sich jedenfalls entgegen der Auffassung
des Beschwerdeführers nicht auf. Für ihr Verhalten gibt es im
Drogenhandelmilieu viele andere ebenso plausible Erklärungen. Dies will das
Kantonsgericht offensichtlich mit der Erwägung zum Ausdruck bringen, die
Aussage des Zeugen betreffend die Bedrohung und die Reaktion des
Beschwerdeführers auf die Bunkerleerung müssten als "nicht eng verbundenes
Folgegeschehen mit weiteren Akteuren" betrachtet werden. Dies stellt damit
kein genügendes Indiz dafür dar, der Bunker habe den beiden Albanern bzw.
Libanesen gehört, das die detaillierten und glaubwürdigen Schilderungen des
Zeugen zu entkräften oder ernsthaft in Zweifel zu ziehen vermöchte.

2.4.3  Der Schluss des Kantonsgerichts, der Beschwerdeführer habe den
besagten
Bunker als Versteck benutzt bzw. es habe sich um seine Drogen und um sein
Geld gehandelt, erscheint insgesamt nicht als willkürlich und verletzt auch
den Grundsatz "in dubio pro reo" nicht. Entscheidend ist letztlich die
Gesamtwürdigung der Beweise. Der Beschwerdeführer vermag keine erheblichen
und nicht zu unterdrückenden Zweifel an deren Richtigkeit darzutun.

3.
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist
abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.

Die Voraussetzungen zur Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sind
erfüllt (Art. 152 OG). Eine Gerichtsgebühr wird nicht erhoben (Art. 152 Abs.
1 OG). Dem Beschwerdeführer wird sein jetziger Verteidiger als amtlicher
Verteidiger beigegeben. Dieser ist für das bundesgerichtliche Verfahren aus
der Bundesgerichtskasse angemessen zu entschädigen (Art. 152 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2  Rechtsanwalt Dr. Duri Poltera wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Staat und dem Kantonsgericht St.
Gallen, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. Oktober 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: