Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.305/2004
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1P.305/2004 /gij

Urteil vom 16. August 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud,
Gerichtsschreiber Störi.

1. X.________,
2.Y.________,
Beschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Stutz,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, Obere
Vorstadt 38, 5000 Aarau.

Verweigerung der Wiederaufnahme eines rechtskräftig eingestellten Verfahrens,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 19. April 2004.

Sachverhalt:

A.
Z.  ________ rutschte am 4. September 2001 nach einer Schulstunde im
Schulhaus
A.________ in B.________ auf dem Handlauf der vom zweiten Obergeschoss auf
den Zwischenboden führenden Treppe rückwärts hinunter, verlor dabei das
Gleichgewicht und verletzte sich beim Sturz auf den Kellerboden tödlich.

Gestützt auf den Schlussbericht des Bezirksamts Aarau "betreffend Abklärung
des Todesfalles" vom 2. Oktober 2001 stellte die Staatsanwaltschaft des
Kantons Aargau das Verfahren ein. Die Verfügung wurde dem Vater des
Verstorbenen, X.________, am 5. November 2001 zugestellt.

B.
Mit Eingabe vom 13. Juni 2003 ans Bezirksamt Aarau beantragte Rechtsanwalt
Stutz im Namen von X.________ und Y.________, es "sei ein Strafverfahren
gemäss Art. 229 und Art. 117 StGB mit den notwendigen Ermittlungs- und
Untersuchungshandlungen (..) zu eröffnen". In verschiedenen weiteren Anträgen
verlangten sie insbesondere, gutachterlich abklären zu lassen, ob das
Treppenhaus im A.________-Schulhaus den Sicherheitsanforderungen an
Treppenhäuser in öffentlichen Schulen gemäss SIA-Norm 358 bzw. den
anerkannten Regeln der Baukunde genüge und ob allfällige Baumängel für den
Tod des Knaben adäquat kausal gewesen seien. Im Weiteren konstituierten sie
sich als Zivilpartei im Verfahren und behielten sich vor, im gegebenen
Zeitpunkt Genugtuungs- und Schadenersatzansprüche zu stellen.

Am 1. Oktober 2003 beantwortete die Untersuchungsrichterin des Bezirksamts
Aarau diese Eingabe. Sie hielt fest, das Verfahren sei rechtskräftig
eingestellt. Über dessen Wiederaufnahme entscheide das Obergericht. Da in der
Eingabe vom 13. Juni 2003 einerseits festgehalten werde, eine Wiederaufnahme
stehe zurzeit nicht zur Diskussion, anderseits die Durchführung diverser
Ermittlungs- und Untersuchungshandlungen gefordert werde, überlasse sie die
Weiterleitung des Wiederaufnahmebegehrens ans Obergericht Rechtsanwalt Stutz.

Mit Eingabe vom 21. Oktober 2003 wies Rechtsanwalt Stutz die Auffassung, das
Verfahren sei rechtskräftig eingestellt, zurück. Dies treffe nur zu einem
Teil zu; er habe in der Eingabe vom 13. Juni 2003 aufgezeigt, "in welchen
Bereichen schlicht und ergreifend nicht untersucht worden sei". Was nicht
untersucht worden sei, könne auch nicht eingestellt worden sein.
Mit Verfügung vom 6. November 2003 wies die Staatsanwaltschaft des Kantons
Aargau das Wiederaufnahmegesuch ab. Es wies die Auffassung zurück, dass nur
untersucht worden sei, ob eine aktive Dritteinwirkung den Todesfall
verursacht haben könnte; die Ermittlungsbehörden hätten sich sehr wohl
Gedanken gemacht über die Anlage des betreffenden Treppenhauses und die
Beschaffenheit des Treppengeländers. Daraus ergebe sich zudem, dass die nach
dem tragischen Ereignis erfolgten Änderungen am Treppengeländer nicht zu
einer anderen Beurteilung führen könnten.

Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Beschwerde von X.________ und
Y.________ am 19. April 2004 ab. Es erwog, die Saatsanwaltschaft habe mit
ihrer Verfügung einerseits die Wiederaufnahme des rechtskräftig eingestellten
Verfahrens "betreffend Abklärung des Todesfalles" i.S. Z.________ und
anderseits die (erneute) Eröffnung eines Strafverfahrens gemäss Art. 229 und
Art. 117 StGB verweigert, was beides nicht zu beanstanden sei.

C.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 24. Mai 2004 wegen Willkür (Art. 9 BV)
beantragen Y.________ und X.________, diesen Entscheid aufzuheben. Ausserdem
ersuchen sie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft verzichten auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid (Art. 86 Abs. 1
OG), mit dem das Obergericht die Beschwerde der Beschwerdeführer gegen die
Verfügung der Staatsanwaltschaft abgewiesen hat, die sich sowohl weigerte,
das eingestellte Strafverfahren wieder aufzunehmen, als auch ein neues
Strafverfahren zu eröffnen. Als Eltern des tödlich verunglückten Knaben sind
die Beschwerdeführer Opfer im Sinne von Art. 2 OHG und damit grundsätzlich
befugt, sich gegen Beides zur Wehr zu setzen (Art. 8 OHG; BGE 128 I 218 E.

1.1 ). Da indessen die Beschwerdeführer mit der Wiederaufnahme des
eingestellten Verfahrens nicht mehr erreichen könnten als mit der
(Neu-)Eröffnung eines Strafverfahrens, haben sie kein aktuelles
Rechtsschutzinteresse im Sinne von Art. 88 OG, mit staatsrechtlicher
Beschwerde prüfen zu lassen, ob sie einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf
eine solche Wiederaufnahme hätten; auf die Beschwerde ist insoweit nicht
einzutreten. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen
Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde, soweit sie sich gegen die
Weigerung des Obergerichts richtet, die Eröffnung eines Strafverfahrens
anzuordnen, und unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1
lit. b OG; BGE 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c; 121 I 334 E. 1c), einzutreten
ist.

2.
2.1 Die Beschwerdeführer beanstanden nicht, dass in der Einstellungsverfügung
ausgeschlossen wurde, dass der Unfall durch aktive Dritteinwirkung - etwa
durch Mitschüler - (mit-)verursacht worden sein könnte. Sie machen nur
geltend, es sei ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB)
und Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde (Art. 229 StGB) zu
eröffnen, da nicht genügend abgeklärt worden sei, ob nicht bauliche Mängel
zum Unfall geführt hätten und ob die dafür Verantwortlichen in
strafrechtlicher Hinsicht zur Verantwortung gezogen werden müssten. Sie
werfen dem Obergericht vor, es habe die Voraussetzungen für die Eröffnung
eines Verfahrens in willkürlicher Weise verneint.

2.2  Willkürlich handelt ein Gericht, wenn es seinem Entscheid
Tatsachenfeststellungen zugrunde legt, die mit den Akten in klarem
Widerspruch stehen. Im Bereich der Beweiswürdigung besitzt der Richter einen
weiten Ermessensspielraum. Das Bundesgericht greift im Rahmen einer
staatsrechtlichen Beschwerde nur ein, wenn die Beweiswürdigung offensichtlich
unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht
oder auf einem offenkundigen Versehen beruht (BGE 124 I 208 E. 4a; 117 Ia 13

E. 2c; 18 E. 3c je mit Hinweisen).

3.
Nach § 126 der Strafprozessordnung des Kantons Aargau vom 11. November 1958
(StPO) ist ein Untersuchungsverfahren zu eröffnen, "soweit im
Ermittlungsverfahren nicht alle Umstände abgeklärt sind, die für die
Anklageerhebung oder die Einstellung des Verfahrens von Bedeutung sein
können". Nach § 136 Abs. 1 StPO kann es eingestellt werden, wenn zureichende
Gründe für eine Anklageerhebung fehlen.

3.1  Das Obergericht erwog im angefochtenen Entscheid (E. 4 S. 12 f.), der
Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde im Sinne von Art. 229
StGB mache sich strafbar, wer vorsätzlich bei der Leitung oder Ausführung
eines Bauwerkes oder eines Abbruchs die anerkannten Regeln der Baukunde
ausser Acht lasse und dadurch wissentlich Leib und Leben von Mitmenschen
gefährde oder wer die anerkannten Regeln der Baukunde fahrlässig ausser Acht
lasse. Diesen Straftatbestand könne nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes nur
erfüllen, wer die Arbeiten für die Ausführung eines Bauwerkes oder Abbruchs
leite und dabei eine besondere Gefahr, in der Regel durch Unterlassen der
erforderlichen Vorsichtsmassnahmen, schaffe. Der Tatbestand von Art. 229 StGB
beschlage die Schaffung bautypischer Mängel bei der Erstellung eines
Bauwerkes, die zweckentfremdete Benutzung eines als Bauwerk fertiggestellten
Treppenhauses mit Todesfolge falle "fraglos nicht unter den Straftatbestand
der Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde".

Eine fahrlässige Tötung im Sinne von Art. 117 StGB begehe, wer durch
pflichtwidrig unvorsichtiges Verhalten den Tod eines Menschen bewirke, wobei
es für den Täter voraussehbar sein müsse, dass die von ihm gesetzte Ursache
nach allgemeiner Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zum Tod
eines Menschen führen könne.    Das im A.________-Schulhaus eingebaute
Treppenhaus sei ein Werk, dessen Eigentümer dafür einzustehen habe, dass es
aufgrund seiner baulichen Ausgestaltung und Wartung nichts und niemanden
gefährde.  Das Treppenhaus entspreche den geltenden baulichen Vorschriften
sowie der massgebenden SIA-Norm 358 und damit den anerkannten Regeln der
Baukunde und sei in einwandfreiem Zustand gewesen. Der tödliche Unfall sei
daher offenkundig nicht auf einen Baumangel oder mangelnden Unterhalt
zurückzuführen, sondern ausschliesslich Folge der zweckentfremdeten Nutzung
des Treppenhandlaufs als Rutschbahn durch Z.________ und damit von diesem
selber zu vertreten. Fraglich könne damit nur noch sein, ob die zuständigen
Lehrkräfte ein Verschulden am Unfall treffe, da sie die Benützung des
Handlaufs der Treppe als Rutschbahn nicht unter Hinweis auf die damit
verbundenen Gefahren verboten hätten. Dies könne dahingestellt bleiben. Ein
solches Verbot wäre nicht geeignet gewesen, den Unfall zu verhindern. Es wäre
nur mit einer dauernden Überwachung durchsetzbar gewesen, die von den mit
anderweitigen Aufgaben beschäftigten Lehrern angesichts der Vielzahl der zu
verschiedenen Zeiten zirkulierenden Schüler unmöglich hätte sichergestellt
werden können. Damit scheide eine fahrlässige Tötung durch die dafür in Frage
kommenden, für die Errichtung des Treppenhauses und dessen Wartung sowie die
für die Unterweisung der Schüler zuständigen Personen von vornherein aus (E.
5 S. 13 ff.).
3.2  Mit dem Obergericht ist ohne weiteres davon auszugehen, dass
Treppengeländer in einem Schulhaus, die zum Rutschen geeignet sind, von
Primarschülern auch dazu benutzt werden; dies entspricht allgemeiner
Lebenserfahrung. Ebenso nachvollziehbar ist seine Einschätzung, dass die
Schüler durch ein - beispielsweise in einer Hausordnung enthaltenes Verbot -
nicht zuverlässig davon abgehalten werden könnten, die Treppengeländer
hinunter zu rutschen. Dies wäre nur durch eine lückenlose Aufsicht zu
erreichen, wie sie angesichts der beschränkten personellen Mittel nicht
gewährleistet werden kann.

Nicht vertretbar ist unter diesen Umständen indessen seine Schlussfolgerung,
es sei von vornherein auszuschliessen, dass die für die Erstellung oder den
Betrieb des Schulhauses Verantwortlichen eine strafrechtlich relevante
Verantwortung am Tod von Z.________ treffen könnte. Wenn bekannt war, dass
Schüler vom Benutzen einer zum Rutschen geeigneten Treppenbrüstung nur durch
ein Verbot nicht abzuhalten sind, dabei aber die Gefahr eines tödlichen
Absturzes in den Treppenschacht bestand, so muss geprüft werden, ob nicht
andere Massnahmen hätten ergriffen werden können und müssen, um dieser Gefahr
wirksam zu begegnen, und nicht in deren Unterlassung eine strafrechtlich
relevante Pflichtwidrigkeit liegt. Es fällt auf, dass die Treppenbrüstung im
älteren unteren Teil des Schulgebäudes ebenfalls aus einem Stahlrohr besteht,
dort jedoch in umgekehrter U-Form angebracht und so unterteilt ist, dass ein
Rutschen wie im oberen Treppenhaus nicht möglich ist. Weshalb nicht eine
solche oder eine Lösung mit den jetzt angebrachten Stoppern gewählt wurde,
ist abzuklären, zumal die Sicherheit der neuen, durchgängigen Treppengeländer
in der Baukommission zur Diskussion gekommen sein soll. Der
Treppenhausschacht hätte auch durch andere bauliche Massnahmen gegen das
Abstürzen auf den Kellerboden gesichert werden können, etwa durch Fangnetze
im Treppenhausschacht. Da das Problem in vielen Schulhäusern bestehen dürfte,
ist zu untersuchen, welche Massnahmen gegebenfalls als üblich betrachtet
werden können. Es fragt sich auch, ob die für den Betrieb des Schulhauses
verantwortlichen Schulpfleger, Lehrer, Abwarte etc., die möglicherweise
wussten oder wissen mussten, dass die Schüler dieses Treppengeländer als
Rutschbahn benutzten, nicht hätten aktiv werden müssen, um von der
zuständigen Behörde zu verlangen, die Gefahrenquelle baulich oder allenfalls
auch auf andere Weise zu beheben.

Ohne die Einleitung eines Untersuchungsverfahrens zur Abklärung dieser sich
stellenden Fragen, lässt sich schlechthin nicht halten, eine strafrechtliche
Verantwortung der für den Bau und/oder den Betrieb des Schulhauses
Verantwortlichen von vornherein auszuschliessen. Damit verletzte es das
Willkürverbot von Art. 9 BV, kein Untersuchungsverfahren zu eröffnen, obwohl
"im Ermittlungsverfahren nicht alle Umstände abgeklärt sind, die für die
Anklageerhebung oder die Einstellung des Verfahrens von Bedeutung sein
können" (§ 126 StPO). In diesem werden die Beschwerdeführer ihre Rechte als
Opfer im Sinne des OHG vollumfänglich wahrnehmen können. Die Rüge ist
begründet.

4.
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 OG), und
der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführern für das bundesgerichtliche
Verfahren eine angemessene Entschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG). Damit
wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und der
angefochtene Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer
in Strafsachen, vom 19. April 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführern für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 16. August 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: