Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.263/2004
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2004
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2004


1P.263/2004 /sta

Urteil vom 19. Mai 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
Gerichtsschreiber Forster.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Nicolas Roulet,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach,
4001 Basel,
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Statthalterin, Bäumleingasse 1,
4051 Basel.

Art. 10 und Art. 31 BV, Art. 5 Ziff. 3 EMRK (Haftentlassung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Appellationsgerichts des
Kantons Basel-Stadt, Statthalterin, vom 29. März 2004.
Sachverhalt:

A.
Mit Urteil vom 24. Juli 2003 sprach das Strafgericht Basel-Stadt X.________
der Vergewaltigung, des Raubes, der mehrfachen sexuellen Nötigung, der
mehrfachen einfachen Körperverletzung sowie weiterer Delikte schuldig. Das
Strafgericht bestrafte den Verurteilten mit 4 1/4 Jahren Zuchthaus sowie
einer (bedingten) zehnjährigen Landesverweisung. Gegen das Strafurteil haben
sowohl X.________ als auch die Staatsanwaltschaft die Appellation erklärt.
Der Verurteilte befindet sich seit 6. März 2003 in strafprozessualer Haft,
derzeit im vorzeitigen Strafvollzug.

B.
Ein von X.________ am 11. März 2004 erhobenes Haftentlassungsgesuch wies die
Statthalterin des Appellationsgerichtes Basel-Stadt mit Verfügung vom 29.
März 2004 ab. Dagegen gelangte X.________ mit staatsrechtlicher Beschwerde
vom 4. Mai 2004 an das Bundesgericht. Er rügt die Verletzung von Art. 10 und
Art. 31 BV sowie Art. 5 Ziff. 3 EMRK und beantragt seine sofortige Entlassung
aus dem vorzeitigen Strafvollzug. Die Statthalterin des Appellationsgerichtes
Basel-Stadt beantragt mit Stellungnahme am 10. Mai 2004 die Abweisung der
Beschwerde, soweit darauf einzutreten ist; auf eine inhaltliche
Vernehmlassung hat sie ausdrücklich verzichtet. Von der Staatsanwaltschaft
des Kantons Basel-Stadt ist keine Stellungnahme eingegangen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer beantragt neben der Aufhebung des angefochtenen
Entscheides seine sofortige Haftentlassung. Dieses Begehren ist in Abweichung
vom Grundsatz der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde
zulässig, da im Falle einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft die
von der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des
angefochtenen Entscheids, sondern erst durch eine positive Anordnung
hergestellt werden kann (BGE 129 I 129 E. 1.2.1 S. 131 f.; 124 I 327 E. 4a S.
332; 115 Ia 293 E. 1a S. 296 f., je mit Hinweisen).

2.
Nach baselstädtischem Strafverfahrensrecht darf strafprozessuale Haft nur
angeordnet und verlängert werden, falls der Angeschuldigte einer mit
Freiheitsstrafe bedrohten Tat dringend verdächtig ist und überdies konkrete
Anhaltspunkte für einen besonderen Haftgrund vorliegen, nämlich Flucht-,
Kollusions- oder Fortsetzungsgefahr (§ 69 StPO/BS). Die verhaftete Person ist
freizulassen, sobald kein Haftgrund mehr vorliegt (§ 72 Abs. 1 Satz 1
StPO/BS). Auch bei vorzeitigem Strafvollzug kann mit Haftentlassungsgesuch
das Fehlen von strafprozessualen Haftgründen geltend gemacht werden (vgl. §
75 Abs. 4 StPO/BS).

2.1 Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen des dringenden
Tatverdachtes einer mit Freiheitsstrafe bedrohten Tat nicht; der Tatverdacht
lasse sich "selbstredend nicht bezweifeln". Er macht jedoch geltend, es fehle
an einem besonderen Haftgrund, namentlich an konkreten Anhaltspunkten für das
Vorliegen von Fluchtgefahr.

2.2 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes braucht es für die Annahme
von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der
Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug
der Strafe durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe
darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für
sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten
Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten
Lebensverhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I
60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen). So ist es zulässig,
die familiären und sozialen Bindungen des Häftlings, dessen berufliche
Situation und Schulden sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches
mitzuberücksichtigen. Auch bei einer befürchteten Ausreise in ein Land, das
den Angeschuldigten grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw.
stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht
ausgeschlossen (BGE 123 I 31 E. 3d S. 36 f.).

Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige
Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines
Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick
auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des entsprechenden
kantonalen Rechtes frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit
Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur
ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich
sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je
mit Hinweisen).

2.3 Dass die kantonale Haftrichterin im vorliegenden Fall die drohende
mehrjährige Freiheitsstrafe als erhebliches Indiz für eine mögliche
Fluchtneigung gewürdigt hat, hält vor der Verfassung stand. Daran ändert auch
der Einwand des Beschwerdeführers nichts, er habe einen Teil (nämlich gut 14
Monate) der allfälligen rechtskräftigen Strafe "bereits abgesessen".
Angesichts der erstinstanzlichen Verurteilung zu 4 1/4 Jahren Zuchthaus wegen
mehrfachen massiven Sexualdelikten droht dem Beschwerdeführer immer noch ein
erheblicher Strafrestvollzug; da auch die Staatsanwaltschaft die Appellation
erklärt hat, erscheint zudem eine "reformatio in peius" nicht ausgeschlossen.

Über die drohende empfindliche Freiheitsstrafe hinaus bestehen jedoch noch
weitere Anzeichen für Fluchtgefahr. Wie sich aus den Akten ergibt, befindet
sich der in der Türkei aufgewachsene Beschwerdeführer erst seit 1998 in der
Schweiz. Er hat sich hier sozial und beruflich kaum integriert. So spricht er
nur wenig und gebrochen deutsch und geht (als Hilfsarbeiter und IV-Bezüger)
keiner geregelten Arbeit nach. Hinzu kommen entsprechende finanzielle
Probleme sowie Anzeichen für eine gewisse Reise-Mobilität und eine erhebliche
Neigung zur Gewalttätigkeit. Daran vermögen auch die Vorbringen nichts zu
ändern, der Beschwerdeführer habe "Angst, alleine zu Hause zu bleiben" und
fürchte sich vor Verschlechterungen seiner gesundheitlichen Situation. Wohl
macht der Beschwerdeführer geltend, dass er mit seiner türkischen Ehefrau und
einem Kind in der Schweiz wohnhaft sei; er pflegt aber auch enge familiäre
Kontakte zu seinen Eltern und Geschwistern in der Türkei.

Nach dem Gesagten bestehen im vorliegenden Fall ausreichend konkrete
Anhaltspunkte für die drohende Gefahr, dass der Beschwerdeführer (mit oder
ohne Familie) sich zur Vermeidung der weiteren Strafverfolgung in die Türkei
absetzen (oder im In- oder Ausland untertauchen) könnte. Bei dieser Sachlage
braucht nicht zusätzlich geprüft zu werden, ob neben dem besonderen Haftgrund
der Fluchtgefahr auch noch Kollusions- oder Fortsetzungsgefahr zu bejahen
wären.

3.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist aus den genannten Erwägungen als
unbegründet abzuweisen.

Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und
Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt erscheinen
(und sich insbesondere die Bedürftigkeit des Gesuchstellers aus den Akten
ergibt), kann dem Ersuchen entsprochen werden (Art. 152 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.

2.2 Advokat Dr. Nicolas Roulet wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit einem Honorar von Fr. 1'000.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Statthalterin, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 19. Mai 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied:  Der Gerichtsschreiber: