Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.239/2004
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1P.239/2004 /sta

Urteil vom 16. Juni 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud,
Gerichtsschreiber Steinmann.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bernhard
Meier,

gegen

Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, Klosterhof 1,
9001 St. Gallen.

Gesuch um Erlass der Einschreibgebühr,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Entscheide des Kantonsgerichts St.
Gallen, Strafkammer, vom 6. und 16. April 2004.
Sachverhalt:
Das Kreisgericht Gaster-See befand mit Urteil vom 18. Dezember 2003
X.________ des Diebstahls schuldig und bestrafte ihn mit drei Jahren
Gefängnis. Aufgrund der Beweislage (u.a. mit festgestellten DNA-Spuren) ging
das Gericht davon aus, dass X.________ das Tatfahrzeug zu dem vor der Bank
A.________ in ... stationierten Geldtransportfahrzeug gelenkt habe, dass in
der Folge der Komplize Y.________ die Seitenscheibe des Transportfahrzeuges
aufgeschlagen, die Geldbox aufgebrochen und ihr darin befindliche Geldsäcke
entnommen habe und dass X.________ daraufhin das Tatfahrzeug zur
Autobahnraststätte gelenkt habe, wo die beiden Täter mit einem bereit
gestellten Personenwagen weiterfuhren.

Gegen diesen Entscheid meldete Rechtsanwältin Lisa Etter-Steinlin als
Verteidigerin von X.________ beim Kantonsgericht St. Gallen am 22. März 2004
Berufung an, verlangte u.a. die Aufhebung von Schuld- und Strafspruch und
ersuchte um Befreiung von der Einschreibgebühr sowie um amtliche
Verteidigung.

Mit Schreiben vom 6. April 2004 wies der Präsident der Strafkammer des
Kantonsgerichts das Begehren um Erlass der Einschreibgebühr ab und setzte
X.________ eine Notfrist zur Bezahlung der Einschreibgebühr von Fr. 800.--
an. Zur Begründung führte er an, die erstinstanzliche Verurteilung beruhe auf
einer sorgfältigen, nachvollziehbaren und überzeugenden Beweiswürdigung.
Unter diesen Umständen erscheine der - bisher nicht begründete - Antrag auf
Freispruch aufgrund einer vorläufigen Beurteilung als aussichtslos im Sinne
der Rechtsprechung.

Auf eine weitere Eingabe hin bestätigte der Präsident der Strafkammer des
Kantonsgerichts am 16. April 2004 den abschlägigen Entscheid hinsichtlich der
Aufforderung zur Bezahlung der Einschreibgebühr, da die Voraussetzungen für
einen wiedererwägungsweisen Erlass der Einschreibgebühr nicht gegeben seien.
Ferner erscheine die Bedürftigkeit von X.________ fraglich.

Gegen diese beiden Entscheide hat X.________, nunmehr vertreten durch
Rechtsanwalt Dr. Bernhard Meier, beim Bundesgericht am 22. April 2004
staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er stellt den Antrag, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und der Präsident der Strafkammer des
Kantonsgerichts anzuweisen, ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren
und ihm die Einschreibgebühr zu erlassen.
Das Kantonsgericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Mit Verfügung vom 3. Mai 2004 ist der staatsrechtlichen Beschwerde
aufschiebende Wirkung beigelegt worden.

Das Kantonsgericht teilte dem Bundesgericht mit, dass der Beschwerdeführer
seine Berufung zurückgezogen habe. Diese Mitteilung ist dem Gericht indessen
nicht rechtzeitig vor der Urteilsfällung zur Kenntnis gekommen und bleibt
daher unbeachtlich. Nicht zu beachten ist ferner der erst nach der
Urteilsfällung eingegangene Rückzug der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der Entscheid des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts vom 6.
April 2004 kann mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden (vgl. BGE
129 I 281 E. 1 S. 283, mit Hinweisen). Unzulässig sind über die Aufhebung
hinausgehende Anträge (vgl. BGE 129 I 129 E. 1.2 S. 131, mit Hinweisen). Ob
und inwieweit auf die Beschwerde gegen den Wiedererwägungsentscheid vom 16.
April 2004 einzutreten ist, kann - wie sich zeigen wird - offen bleiben.

1.2 In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass der
Beschwerdeführer die Berufungserklärung gemäss Art. 239 des
Strafprozessgesetzes des Kantons St. Gallen (StP) angemeldet, indessen - in
Erwartung einer Aufforderung nach Art. 242 StP zur Einreichung einer
Begründung - zurzeit noch nicht begründet hat. Der angefochtene Entscheid
stützt sich auf Art. 225 Abs. 3 StP, wonach der Präsident der
Rechtsmittelinstanz auf Gesuch hin die Einschreibgebühr erlassen kann, wenn
der Rekurrent bedürftig und das Rechtsmittel nicht aussichtslos ist. Der
angefochtene Entscheid stützt sich allein auf die Aussichtslosigkeit der
Berufung, während der Wiedererwägungsentscheid zusätzlich antönt, dass die
Bedürftigkeit in Zweifel gezogen werden könnte.

2.
2.1 Nach Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK hat der
Angeschuldigte, der nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, im
Strafprozess Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn dies zur
gehörigen Wahrung seiner Rechte notwendig und im Interesse der Rechtspflege
erforderlich ist und das Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Im
Strafverfahren ist dies insbesondere geboten, wenn das in Frage stehende
Verfahren besonders stark in die Rechtspositionen des Betroffenen eingreift.
Das trifft unabhängig von den tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten
namentlich zu, falls dem Angeschuldigten eine schwerwiegende
freiheitsentziehende Massnahme oder Strafe droht, deren Dauer die Gewährung
des bedingten Strafvollzugs ausschliesst (BGE 129 I 281 E. 3.1 S. 285, 128 I
225 E. 2.5.2 S. 232, 122 I 49 E. 2c/bb S. 51, 120 Ia 43 E. 2a S. 44).

Diese Grundsätze gelten auch für Kostenvorschüsse wie die im vorliegenden
Fall umstrittene Einschreibgebühr. Darüber hinaus kann, nachdem der
Beschwerdeführer erstinstanzlich zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden
ist, nicht in Zweifel gezogen werden, dass es sich um eine für diesen
schwerwiegende Angelegenheit im Sinne der Rechtsprechung handelt.

2.2 Damit stellt sich die Frage, wie es sich aufgrund der Bundesverfassung
und der Menschenrechtskonvention mit Kostenvorschüssen und Einschreibgebühren
in einem strafrechtlichen Berufungsverfahren verhält. Dabei ist von der
Schwere und Tragweite des Strafverfahrens im obgenannten Sinne sowie von den
Besonderheiten des Rechtsmittelverfahrens und den konkreten Umständen
auszugehen (vgl. BGE 129 I 281 sowie unpubliziertes Urteil 1P.744/1994 vom 6.
März 1995 i.S. R. gegen Regierungsrat des Kantons St. Gallen, E. 3). Zudem
ist zu beachten, dass Art. 32 Abs. 2 BV sowie Art. 2 des 7. Zusatzprotokolls
zur EMRK und Art. 15 Ziff. 5 UNO-Pakt II jedem Verurteilten das Recht
einräumen, seine Verurteilung von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen
(vgl. BGE 129 I 281 E. 4.3 S. 287).

Wie dargetan, ist das vorliegende Strafverfahren für den Beschwerdeführer von
grosser Tragweite und mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Das
Berufungsverfahren zeichnet sich dadurch aus, dass es grundsätzlich mündlich
geführt wird, dass alle Mängel des Verfahrens und des erstinstanzlichen
Entscheides gerügt werden können und dass neue Tatsachen und Beweismittel
zugelassen sind (Art. 238 und 243 StP). Dem Berufungsrichter, wie auch dem
erstinstanzlichen Strafrichter, kommt bei der Strafzumessung ein weites
Ermessen zu. Ferner ist die Berufung zurzeit noch nicht begründet, was eine
sachgemässe Beurteilung der Erfolgsaussichten von vornherein ausschliesst
(vgl. BGE 129 I 281 E. 4.6 S. 289). Schliesslich beurteilt sich eine Berufung
nicht allein aufgrund der gestellten Anträge; auch eine nur geringe
Herabsetzung des Strafmasses könnte für den Beschwerdeführer einen Erfolg
darstellen (vgl. genanntes unpubliziertes Urteil, E. 3b).
Vor diesem Hintergrund lässt sich der angefochtene Entscheid, mit dem der
Erlass der Einschreibgebühr wegen Aussichtslosigkeit der Berufung verweigert
worden ist, im Lichte von Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK
nicht halten. Die Beschwerde erweist sich daher als begründet.

3.

Demnach ist die Beschwerde gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden
kann, und der angefochtene Entscheid des Präsidenten der Strafkammer des
Kantonsgerichts vom 6. April 2004 ist aufzuheben. Damit verliert auch der
Wiedererwägungsentscheid vom 16. April 2004 seine Bedeutung. Bei diesem
Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 OG) und hat der
Kanton St. Gallen den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
zu entschädigen (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten
ist, und der Entscheid des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts
St. Gallen vom 6. April 2004 wird aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton St. Gallen hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Kantonsgericht St. Gallen,
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 16. Juni 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: