Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.215/2004
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1P.215/2004 /gij

Urteil vom 26. Mai 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Bundesrichter Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Steinmann.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Ulrich Seiler,

gegen

Y.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecherin Christine
Schibig,
Generalprokurator des Kantons Bern, Hochschulstrasse 17, 3012 Bern,
Obergericht des Kantons Bern, 3. Strafkammer, Postfach 7475, 3001 Bern.

Strafverfahren; Beweiswürdigung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Bern, 3. Strafkammer,
vom 3. Februar 2004.

Sachverhalt:

A.
Das Kreisgericht VIII Bern-Laupen erkannte mit Urteil vom 8. August 2003
X.________ schuldig, gegenüber seiner Stieftochter Y.________ (geb. 1987) in
der Zeit von ca. 1998 bis 2. Oktober 2002 mehrfach sexuelle Handlungen
vorgenommen und in der Zeit von ca. 2000 bis 2. Oktober 2002 mehrfach
Vergewaltigungen verübt zu haben. Das Gericht verurteilte X.________ zu fünf
Jahren Zuchthaus und zu einer unbedingten achtjährigen Landesverweisung.

Auf Appellation von X.________ sowie auf eine (auf den Zivilpunkt
beschränkten) Appellation von Y.________ hin bestätigte die 3. Strafkammer
des Obergerichts des Kantons Bern das erstinstanzliche Urteil am 3. Februar
2004, erklärte X.________ der mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kinde
und der mehrfachen Vergewaltigung für schuldig und verurteilte ihn zu fünf
Jahren Zuchthaus und zu einer unbedingten achtjährigen Landesverweisung.

B.
Gegen dieses Urteil hat X.________ (nunmehr gewillkürt vertreten) beim
Bundesgericht am 2. April 2004 staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Er
beantragt die Aufhebung des Obergerichtsurteils und ersucht um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege. Auf die Begründung ist, soweit erforderlich, in
den nachfolgenden Erwägungen einzugehen.

Y. ________ beantragt als Beschwerdegegnerin, die Beschwerde sei abzuweisen,
soweit darauf eingetreten werden könne; sie ersucht ferner um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege. Den Antrag auf Abweisung der Beschwerde, soweit
darauf eingetreten werden könne, stellt auch der Generalprokurator des
Kantons Bern. Die 3. Strafkammer des Obergerichts beschränkt ihre
Vernehmlassung auf eine Bemerkung zur Betrachtung einer Videoaufzeichnung
über die Befragung der Beschwerdegegnerin.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG ist in einer staatsrechtlichen Beschwerde
darzulegen, welche verfassungsmässigen Rechte durch den angefochtenen
Entscheid verletzt sind und inwiefern dies der Fall sein soll. Wird das
Willkürverbot nach Art. 9 BV angerufen, ist im Einzelnen darzulegen, weshalb
der angefochtene Entscheid geradezu als unhaltbar erscheinen und inwiefern im
Einzelnen genanntes kantonales Verfahrensrecht in stossender Weise missachtet
sein soll. Rein appellatorische Kritik an einem kantonalen Entscheid genügt
diesen Anforderungen nicht. Das Bundesgericht prüft nur hinreichend
substantiierte Rügen. Es wird im Zusammenhang mit der Beurteilung der
einzelnen Rügen zu prüfen sein, inwiefern die Beschwerde Art. 90 Abs. 1 lit.
b OG genügt. Im Übrigen geben die Eintretensvoraussetzungen zu keinen
Bemerkungen Anlass.

2.
Der Beschwerdeführer rügt den angefochtenen Entscheid vorerst in
verschiedenen Punkten unter formalen Gesichtspunkten.

Nach der Rechtsprechung stellt das Prinzip der Unmittelbarkeit von
Beweiserhebungen keinen eigenständigen Verfassungsgrundsatz dar,  wird weder
durch die Bundesverfassung noch durch die Europäische
Menschenrechtskonvention schrankenlos garantiert und ist im Einzelnen durch
das (kantonale) Verfahrensrecht umschrieben; es verstösst daher nicht gegen
BV und EMRK, auf Befragungen der Beschwerdegegnerin aus dem
Untersuchungsverfahren abzustellen (BGE 129 I 151 E. 4.2 S. 157, 125 I 127 E.
6b und E. 6c/aa S. 132 ff., mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer legt in
diesem Zusammenhang nicht dar, welche Bestimmungen des Gesetzes über das
Strafverfahren (StrV) verletzt sein sollen. Unerfindlich ist, inwiefern Art.
8 Ziff. 2 EMRK in diesem Kontext Anwendung finden und verletzt sein sollte.
Die Rügen der Verletzung des Unmittelbarkeitsprinzips sind daher abzuweisen,
soweit darauf überhaupt eingetreten werden kann.

Der Beschwerdeführer hat vor dem Obergericht keinen Antrag gestellt, es sei
die Beschwerdegegnerin einzuvernehmen oder es sei ihm in geeigneter Art
Gelegenheit zu Fragen an das Opfer zu geben. In Bezug auf Z.________ setzt
sich der Beschwerdeführer mit den Gründen für deren Dispensation von der
Teilnahme an der obergerichtlichen Hauptverhandlung nicht auseinander.
Aufgrund des angefochtenen Urteils und der nun vorliegenden Vernehmlassung
kann nicht angenommen werden, das Obergericht habe die Videoaufnahme über die
Einvernahme der Beschwerdegegnerin nicht visioniert. An verschiedenen Stellen
bemängelt der Beschwerdeführer, die Gerichte hätten keine weitern Abklärungen
getroffen, dies freilich ohne zu belegen, dass er entsprechende Anträge
gestellt hätte. Schliesslich legt der Beschwerdeführer nicht dar, inwiefern
ihm Verteidigungsrechte (etwa im Sinne von Art. 6 Ziff. 3 EMRK) verweigert
worden sein sollen; insbesondere belegt er nicht, dass er beantragt hatte,
der Beschwerdegegnerin in geeigneter Form Fragen zu stellen oder stellen zu
lassen und dass ihm dies verweigert worden sei. Auch hinsichtlich dieser
Punkte ist die Beschwerde demnach abzuweisen, soweit überhaupt darauf
eingetreten werden kann.

3.
Zur Hauptsache rügt der Beschwerdeführer eine willkürliche Beweiswürdigung
sowie eine Verletzung der Unschuldsvermutung.

3.1 Das Bundesgericht greift auf staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 9 BV hin nur ein, wenn die Beweiswürdigung offensichtlich unhaltbar
ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, auf einem
offenkundigen Versehen beruht oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 124 I 208 E. 4a S. 211, 125 I 127 E.
6c/cc S. 135, je mit Hinweisen).

In Bezug auf die Unschuldsvermutung nach Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2
EMRK und den Grundsatz "in dubio pro reo" hält die Rechtsprechung fest, dass
sich der Strafrichter nicht von einem für den Angeklagten ungünstigen
Sachverhalt überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung
erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich der
Sachverhalt so verwirklicht hat. Die Maxime ist verletzt, wenn der
Strafrichter an der Schuld des Beschuldigten hätte zweifeln müssen. Dabei
sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche
immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Das
Bundesgericht greift nur ein, wenn der Sachrichter den Angeklagten
verurteilte, obgleich bei objektiver Würdigung des ganzen Beweisergebnisses
offensichtlich erhebliche und schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel
an dessen Schuld fortbestehen (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41, 124 IV 86 E. 2a S.
88, 120 Ia 31 E. 2c/d S. 37 f.).
3.2 Das Obergericht hat eine sehr eingehende und umfassende Beweiswürdigung
vorgenommen. Es ist auf medizinische Ergebnisse, auf die Aussagen der Mutter
der Beschwerdegegnerin und weiterer Zeugen eingegangen und hat, ausgehend von
der so genannten Aussageanalyse, insbesondere die Aussagen des Opfers unter
verschiedensten Aspekten geprüft und dem die Aussagen des Beschwerdeführers
gegenübergestellt.

Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, genügt in weiten Teilen den
Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG nicht und vermag den Vorwurf der
Willkür nicht zu begründen. Er greift vereinzelte Punkte aus den
Beweisergebnissen heraus, weist etwa hin auf die Feststellungen des IRM, auf
widersprüchliches Aussageverhalten der Beschwerdegegnerin, deren
Unglaubwürdigkeit, deren sexuelle Phantasie, deren Rachsucht sowie deren
mögliche sexuelle Beziehungen mit Dritten, auf die Stellung seiner Ehefrau
und seiner geschiedenen Ehefrau, auf einen Streit mit seiner Ehefrau
bezüglich Zurechtrücken einer Bettdecke, auf ein männerfeindliches Klima der
Untersuchung, auf suggestive Fragen der polizeilichen Befragung sowie auf
ungeklärte Umstände eines ersten und letzten Geschlechtsverkehrs. Er setzt
sich indessen mit der Beweiswürdigung und den sorgfältigen Erwägungen des
Obergerichts nicht auseinander, übt weitgehend appellatorische Kritik und
begnügt sich über weite Teile mit dem Vortragen von Hypothesen, von denkbaren
Betrachtungsweisen und von seinen eigenen Beteuerungen. Damit aber vermag er
die umfassende Beweiswürdigung nicht ernsthaft in Frage zu stellen und
insbesondere weder einen Verstoss gegen das Willkürverbot noch gegen die
Unschuldsvermutung zu belegen. Die Beschwerde erweist sich daher in
materieller Hinsicht als unbegründet und ist abzuweisen, soweit darauf
eingetreten werden kann.

4.

Demnach ist die Beschwerde abzuweisen, soweit überhaupt darauf eingetreten
werden kann. Die Beschwerde erweist sich von vornherein als aussichtslos,
weshalb das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege abzuweisen
ist (Art. 152 OG). In Anbetracht der Verhältnisse des Beschwerdeführers
rechtfertigt es sich, auf eine Kostenauflage zu verzichten und die
Beschwerdegegnerin aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch des Beschwerdeführers um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtpflege wird gutgeheissen.

Fürsprecherin Christine Schibig wird als amtliche Rechtsvertreterin
bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der
Bundesgerichtskasse mit Fr. 800.-- entschädigt.

4.
Es werden keine Kosten erhoben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien sowie dem Generalprokurator und dem
Obergericht des Kantons Bern, 3. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 26. Mai 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: