Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.198/2004
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1P.198/2004 /gij

Urteil vom 6. September 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Bundesrichter Aeschlimann,
Gerichtsschreiberin Leuthold.

X.  ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Adrian
Klemm,

gegen

Y.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Z.________, diese vertreten
durch Rechtsanwältin Dr. Denise Kramer-Oswald,
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, Postfach, 8023 Zürich,
Kassationsgericht des Kantons Zürich, Postfach 4875, 8022 Zürich.

Art. 29 BV (Strafverfahren),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss
des Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 23. Februar 2004.

Sachverhalt:

A.
Die Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich erhob am 5. August 2002
Anklage gegen X.________ wegen sexueller Handlungen mit Kindern. Sie warf dem
Angeklagten im Wesentlichen vor, er habe ca. im Frühling/Sommer 1997 von der
damals sechsjährigen Y.________ verlangt, dass sie seinen Penis anfasse und
ihn mit der Hand befriedige, was sie kurz getan habe. Mit Eingabe vom 27.
Februar 2002 hatte X.________ in der Untersuchung den Antrag gestellt, er und
sein Verteidiger seien zu den Einvernahmen von Y.________ zuzulassen, um
Ergänzungsfragen zu stellen. Die Bezirksanwaltschaft wies diesen Antrag mit
Verfügung vom 12. April 2002 ab, da Y.________ das zwölfte Altersjahr noch
nicht zurückgelegt habe und ihr nicht zugemutet werden könne, direkt mit dem
Angeschuldigten bzw. dessen Verteidiger konfrontiert zu werden. Der
Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich sprach X.________ mit Urteil vom 2.
Dezember 2002 der sexuellen Handlungen mit Kindern schuldig und bestrafte ihn
mit fünf Monaten Gefängnis, unter Gewährung des bedingten Strafvollzuges. Auf
Berufung des Angeklagten hin bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich am
18. Juni 2003 den erstinstanzlichen Entscheid. Gegen das Urteil des
Obergerichts reichte X.________ eine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde ein.
Mit Sitzungsbeschluss vom 23. Februar 2004 wies das Kassationsgericht des
Kantons Zürich die Beschwerde ab, soweit es darauf eintreten konnte.

B.
X. ________ erhob gegen diesen Entscheid staatsrechtliche Beschwerde beim
Bundesgericht. Er beantragt, der angefochtene Beschluss des
Kassationsgerichts sei aufzuheben.

C.
Die Beschwerdegegnerin Y.________ sowie die Staatsanwaltschaft und das
Kassationsgericht des Kantons Zürich verzichteten auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer hatte in seiner Nichtigkeitsbeschwerde unter anderem
gerügt, seine Verteidigungsrechte seien insofern verletzt worden, als ihm
bzw. seinem Verteidiger verweigert worden sei, während einer Einvernahme
Fragen an Y.________ zu stellen. Das Kassationsgericht trat auf diese Rüge
mangels hinreichender Substantiierung nicht ein. Mit der staatsrechtlichen
Beschwerde wird ausschliesslich geltend gemacht, das Nichteintreten auf die
erwähnte Rüge bedeute einen überspitzten Formalismus und eine Verweigerung
des rechtlichen Gehörs nach Art. 29 BV.

1.1  Das aus Art. 29 Abs. 1 BV (früher aus Art. 4 aBV) abgeleitete Verbot des
überspitzten Formalismus wendet sich gegen prozessuale Formenstrenge, die als
exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist,
zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in
unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft
frei, ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 127 I 31 E. 2a/bb S.
34; 125 I 166 E. 3 S. 170 mit Hinweisen).

1.2  Wie ausgeführt, beklagte sich der Beschwerdeführer in der
Nichtigkeitsbeschwerde über eine Verletzung seiner Verteidigungsrechte, weil
ihm bzw. seinem Verteidiger verweigert worden war, während einer Einvernahme
Fragen an Y.________ zu stellen. Das Kassationsgericht trat auf diese Rüge
nicht ein. Zur Begründung führte es aus, das Beschwerdeverfahren stelle keine
Fortsetzung des Verfahrens vor dem Sachrichter dar. Daraus folge, dass sich
der Nichtigkeitskläger konkret mit dem angefochtenen Entscheid auseinander
setzen und den behaupteten Nichtigkeitsgrund in der Beschwerdeschrift selbst
nachweisen müsse (§ 430 Abs. 2 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich).
In der Beschwerdebegründung seien insbesondere die angefochtenen Stellen des
vorinstanzlichen Entscheids zu bezeichnen und diejenigen Aktenstellen, aus
denen sich ein Nichtigkeitsgrund ergeben solle, im Einzelnen anzugeben. Es
sei nicht Sache der Kassationsinstanz, in den vorinstanzlichen Akten nach den
Grundlagen des geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes zu suchen. Wer die
vorinstanzliche Beweiswürdigung als willkürlich rüge, müsse in der Beschwerde
genau darlegen, welche tatsächlichen Annahmen des angefochtenen Entscheids
auf Grund welcher Aktenstellen willkürlich seien. Im Weiteren hielt das
Kassationsgericht fest, Anfechtungsobjekt der Nichtigkeitsbeschwerde könne
nur der Entscheid des Obergerichts vom 18. Juni 2003 sein. Die Erwägungen
unterer Instanzen bzw. der Untersuchungsbehörde könnten nur insofern
angefochten werden, als das Obergericht darauf verweise und sie sich damit zu
Eigen mache, was der Beschwerdeführer jedoch nicht nachweise. Zudem begnüge
sich das Obergericht nicht mit einem derartigen Verweis. Vielmehr erwäge es
selber ausführlich - unter Bezugnahme auf die neueste Rechtsprechung
(namentlich BGE 129 I 151 ff.) und die Möglichkeit, dass Ergänzungsfragen
schriftlich gestellt werden könnten -, weshalb das Vorgehen der
Bezirksanwaltschaft korrekt gewesen sei. Mit dieser Begründung des
Obergerichts setze sich der Beschwerdeführer mit keinem Wort auseinander. Auf
die Nichtigkeitsbeschwerde könne daher insoweit mangels Substantiierung nicht
eingetreten werden.

1.3  In der staatsrechtlichen Beschwerde wird eingewendet, die
Nichtigkeitsbeschwerde enthalte in Ziff. I 3 die Substantiierung der geltend
gemachten Verletzung gesetzlicher Prozessformen und in Ziff. 4 Abs. 1 den
klaren Hinweis auf die entsprechenden Ausführungen des Obergerichts. Damit
sei der Bezug zur Begründung des obergerichtlichen Entscheids hergestellt,
weshalb das Nichteintreten einen überspitzten Formalismus darstelle.

Diese Auffassung ist unzutreffend. Der Beschwerdeführer hatte im
Berufungsverfahren vor Obergericht gerügt, dass die Bezirksanwaltschaft in
ihrer Verfügung vom 12. April 2002 seinen Antrag abgelehnt habe, er und sein
Verteidiger seien zu den Einvernahmen von Y.________ zuzulassen, um
Ergänzungsfragen zu stellen. Das Obergericht hielt die Rüge für unbegründet,
wobei es sich nicht mit einem Hinweis auf die Erwägungen der
Bezirksanwaltschaft begnügte. Es legte aufgrund eigener Überlegungen (E. 2a
und c, S. 4-6) dar, aus welchen Gründen es zum Schluss gelangte, es erscheine
richtig, dass Y.________ nicht zusätzlich durch die Anwesenheit des
Beschwerdeführers oder des Verteidigers im Nebenraum und direkt gestellte
Ergänzungsfragen belastet worden sei. Mit den betreffenden Ausführungen des
Obergerichts hat sich der Beschwerdeführer, wie das Kassationsgericht zu
Recht festhielt, in seiner Nichtigkeitsbeschwerde mit keinem Wort auseinander
gesetzt. Das Kassationsgericht konnte daher ohne Verletzung der Verfassung
annehmen, bezüglich der Rüge der Verletzung der Verteidigungsrechte fehle es
an einer hinreichenden Substantiierung. Es handelte deshalb weder überspitzt
formalistisch, noch verletzte es den Anspruch des Beschwerdeführers auf
rechtliches Gehör, wenn es in diesem Punkt auf die Nichtigkeitsbeschwerde
nicht eintrat. Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich als unbegründet
und ist abzuweisen.

2.
Die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens sind dem unterliegenden
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG). Dieser hat keinen
Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien sowie der Staatsanwaltschaft und dem
Kassationsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. September 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: