Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.17/2004
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1P.17/2004 /dxc
1P.781/2003

Urteil vom 27. Januar 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Daniel Kiefer,

gegen

Präsident des Kriminalgerichts des Kantons Solothurn, Amthaus I,
Amthausplatz, 4500 Solothurn,
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Bielstrasse 9, 4509 Solothurn,
Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, Amthaus 1, Postfach 157, 4502
Solothurn.

Haftbelassung,

Staatsrechtliche Beschwerden gegen die Urteile des Obergerichts des Kantons
Solothurn, Strafkammer, vom 20. November und vom 4. Dezember 2003.

Sachverhalt:

A.
Die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Solothurn verdächtigen X.________,
zusammen mit Y.________ am 29. November 1995 in C.________ einen Raubüberfall
auf A.________ ausgeführt und diesen dabei erschossen zu haben. X.________
wurde am 6. März 1996 aus der Untersuchungshaft entlassen und war seither für
die Strafverfolgungsbehörden nicht mehr greifbar.

Am 25. Juli 2003 wurde X.________ nach seiner Auslieferung aus Kanada vom
Vizepräsidenten des Kriminalgerichts des Kantons Solothurn erneut in
Untersuchungshaft versetzt.

1P.781/2003

B.
Am 17. November 2003 beantragte der Präsident des Kriminalgerichts bei der
Strafkammer des Obergerichts, die Untersuchungshaft gegen X.________ bis zur
kriminalgerichtlichen Hauptverhandlung, vorläufig bis zum 31. März 2004, zu
verlängern.

Mit Beschluss vom 20. November 2003 hiess die Strafkammer des Obergerichts
das Haftverlängerungsgesuch gut und verlängerte die Haft bis zur
kriminalgerichtlichen Hauptverhandlung, einstweilen bis zum 31. März 2004.

Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 24. Dezember 2003 wegen Verletzung des
rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) und der persönlichen Freiheit (Art. 10
BV) beantragt X.________, diesen obergerichtlichen Entscheid aufzuheben und
ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft beantragen in ihren
Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen. X.________ hält in der Replik an
der Beschwerde vollumfänglich fest.

1P.14/2004

C.
Am 18. November 2003 stellte X.________ der Strafkammer des Obergerichts den
Antrag, ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen.
Am 19. November 2003 wies der Präsident des Kriminalgerichts dieses
Haftentlassungsgesuch ab.
Am 1. Dezember 2003 focht X.________ die Verfügung des
Kriminalgerichts-Präsidenten vom 19. November 2003 an mit dem Antrag, sie sei
aufzuheben und er sei unverzüglich aus der Haft zu entlassen.
Am 4. Dezember 2003 wies die Strafkammer des Obergerichts diese Beschwerde
ab.

Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 8. Januar 2004 wegen Verletzung des
rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) und der persönlichen Freiheit (Art. 10
BV) beantragt X.________, diesen obergerichtlichen Entscheid aufzuheben und
ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft beantragen in ihren
Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen. Die Replik von X.________ ist
noch nicht eingetroffen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beide Verfahren betreffen die Verlängerung der Untersuchungshaft gegen den
Beschwerdeführer und hängen eng zusammen, weshalb sie zu vereinigen sind.

2.
2.1 Bei den angefochtenen Entscheiden der obergerichtlichen Strafkammer
handelt es sich um kantonal letztinstanzliche Endentscheide, gegen die die
staatsrechtliche Beschwerde zulässig ist (Art. 86 Abs. 1 OG). Der
Beschwerdeführer rügt die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten, wozu er
befugt ist (Art. 88 OG). Da diese und die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen
erfüllt sind, ist auf die Beschwerden unter dem Vorbehalt gehörig begründeter
Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 127 I 38 E. 3c; 125 I 492 E. 1b)
einzutreten.

2.2 Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen die Aufrechterhaltung von
Untersuchungshaft kann, ausser der Aufhebung des angefochtenen Entscheids,
auch die sofortige Entlassung aus der Haft verlangt werden (BGE 115 Ia 293 E.
1a). Der entsprechende Antrag des Beschwerdeführers ist daher zulässig.

2.3 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit gegen die
Aufrechterhaltung von Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht die
Auslegung und die Anwendung des kantonalen Rechts grundsätzlich frei (BGE 117
Ia 72 E. 1; 114 Ia 281 E. 3).

3.
Nach § 47 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Solothurn vom 7. Juni
1970 (StPO) muss für die Fortdauer der Untersuchungshaft über drei Wochen
hinaus eine Bewilligung des Obergerichts eingeholt werden. Unbestritten ist,
dass der Beschwerdeführer am 25. Juli 2003 in Untersuchungshaft versetzt
wurde und der Kriminalgerichtspräsident die Mitte August ablaufende
Dreiwochenfrist verstreichen liess, ohne den Beschwerdeführer zu entlassen
oder die Bewilligung des Obergerichts einzuholen, um ihn weiter in
Untersuchungshaft zu halten. Am 17. November 2003, als der Präsident des
Kriminalgerichts die Strafkammer des Obergerichts um die Bewilligung der
Fortsetzung der Untersuchungshaft ersuchte bzw. am 19. November 2003, als er
das Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers abwies, war die Haft formell
rechtswidrig. Dass die materiellen Haftgründe auch für diesen Zeitraum
bestanden und bis heute weiterbestehen, was auch der Beschwerdeführer nicht
bestreitet, vermag nichts daran zu ändern, dass dieser nach dem Ablauf der
Dreiwochenfrist ohne gültigen Haftbefehl inhaftiert war.
Eine nachträgliche Heilung dieses Mangels ist ebenso ausgeschlossen wie die
rückwirkende Verlängerung des abgelaufenen Haftbefehls (Urteil des
Bundesgerichts 1P.230/2000 in Pra 2000 145 849, E. 2b); hingegen ist es dem
zuständigen Haftrichter unbenommen, einen neuen Haftbefehl auszustellen (BGE
109 Ia 320 E. 3a). Es ist daher zu prüfen, ob seit dem Ablauf des Haftbefehls
eine erneute rechtsgültige Haftanordnung ergangen ist. Dies ist nicht der
Fall, da weder die beiden angefochtenen Entscheide der obergerichtlichen
Strafkammer noch der Entscheid des Kriminalgerichtspräsidenten vom 19.
November 2003 die formellen Voraussetzungen der Art. 5 Ziff. 1 und 3 EMRK,
Art. 31 Abs. 3 BV und § 46 StPO an eine Haftanordnung - etwa eine rasche
Anhörung durch den Haftrichter - erfüllen. Die Strafkammer des Obergerichts
hat daher die verfassungsmässigen Rechte des Beschwerdeführers verletzt,
indem es die Fortführung der Untersuchungshaft (zweimal) in einem Zeitpunkt
bestätigte, in welchem kein rechtsgültiger Haftbefehl gegen diesen bestand.
Die Rüge ist begründet.

Die Beschwerden sind somit gutzuheissen und die beiden angefochtenen
Entscheide aufzuheben. Das bedeutet indessen noch nicht, dass der
Beschwerdeführer, der nach den unbestritten gebliebenen Darlegungen der
kantonalen Behörden schwerster Delikte dringend verdächtig ist und sich
seiner strafrechtlichen Verantwortung bereits einmal durch Flucht entzogen
hat, aus der Haft entlassen werden muss. Es rechtfertigt sich unter diesen
Umständen vielmehr, das Haftentlassungsgesuch abzuweisen und den zuständigen
Haftrichter anzuweisen, unverzüglich ein Haftanordnungsverfahren
durchzuführen.

4.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 OG).
Hingegen hat der Kanton Solothurn dem Beschwerdeführer für die
bundesgerichtlichen Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 159 OG); damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
und Verbeiständung gegenstandslos.

Angesichts der Dringlichkeit des Verfahrens und dessen Ausgang rechtfertigt
es sich, den Eingang der Replik im Verfahren 1P.17/2004 nicht abzuwarten.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verfahren 1P.781/2003 und 1P.17/2004 werden vereinigt.

2.
2.1 Die Beschwerden werden teilweise gutgeheissen und die Entscheide der
obergerichtlichen Strafkammer vom 20. November und vom 4. Dezember 2003
aufgehoben.

2.2 Das Haftentlassungsgesuch wird abgewiesen.

3.
Es werden keine Kosten erhoben.

4.
Der Kanton Solothurn hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Präsidenten des Kriminalgerichts
des Kantons Solothurn, der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn und dem
Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. Januar 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: