Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.176/2004
Zurück zum Index I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2004
Retour à l'indice I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 2004


1P.176/2004 /gij

Urteil vom 2. September 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Reeb,
Gerichtsschreiber Pfisterer.

X.  ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Alain Joset,

gegen

Strafgerichtspräsidentin des Kantons Basel-Stadt, Schützenmattstrasse 20,
4003 Basel,
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, Bäumleingasse 1, 4051
Basel.

Art. 5 Abs. 3 BV, Art. 9 BV (Strafverfahren),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Appellationsgerichts des
Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, vom 5. Dezember 2003.

Sachverhalt:

A.
X.  ________ wurde mit Urteil der Strafgerichtspräsidentin des Kantons
Basel-Stadt vom 14. Februar 2003 vom Vorwurf der groben
Verkehrsregelverletzung freigesprochen. Die Strafgerichtspräsidentin
auferlegte X.________ jedoch die Verfahrenskosten, da sie der Meinung war, er
habe das Strafverfahren mutwillig wesentlich erschwert (vgl. § 35 Abs. 3
StPO/BS). Dieser Entscheid wurde ihm mit dem Hinweis auf das
Appellationsrecht eröffnet.

X.  ________ erklärte am 21. Februar 2003 die Appellation. Das
Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt setzte ihm mit Verfügung vom 26.
August 2003 Frist zur Begründung der Appellation an. Gleichzeitig ersucht es
ihn, auch zur Frage Stellung zu nehmen, weshalb er meine, die Appellation
ergreifen zu können. Das Appellationsgericht war der Ansicht, die
Voraussetzung der Durchführung eines ordentlichen Verfahrens (vgl. § 174 Abs.
3 StPO/BS) erscheine fraglich, weil ein Verzeigungsverfahren durchgeführt
worden sei. X.________ reichte innert erstreckter Frist am 22. Oktober 2003
die Appellationsbegründung ein.

Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, trat am 5.
Dezember 2003 auf die Appellation nicht ein. Es erwog, gegen den Entscheid
der Strafgerichtspräsidentin wäre die Beschwerde nach §§ 184 ff. StPO/BS zu
ergreifen gewesen. Beschwerden müssten aber nicht nur innert 10 Tagen
angemeldet, sondern auch begründet werden. Die am 24. Februar 2003
eingegangene Appellationserklärung sei mit keinem Wort begründet worden. Sie
könne daher nicht in eine gültige Beschwerde umgedeutet werden.

B.
X. ________ führt mit Eingabe vom 23. März 2004 staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 5 Abs. 3 BV (Grundsatz von Treu und Glauben) und
Art. 9 BV (Vertrauensgrundsatz). Er beantragt die Aufhebung des Entscheides
des Appellationsgerichts und dessen Rückweisung zur materiellen Beurteilung.

Die Strafgerichtspräsidentin verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das
Appellationsgericht spricht sich für Abweisung der Beschwerde aus.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer ist als Partei des kantonalen Verfahrens ohne weiteres
legitimiert, mit staatsrechtlicher Beschwerde geltend zu machen, das
Appellationsgericht sei zu Unrecht auf seine Appellation nicht eingetreten
(BGE 129 I 217 E. 1.4; 122 I 267 E. 1b; 121 II 171 E. 1, je mit Hinweisen).

2.
2.1 Der Beschwerdeführer wirft dem Verwaltungsgericht die Verletzung der
Grundsätze von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV) und des Vertrauensschutzes
(Art. 9 BV) vor.

Er macht geltend, gemäss dem Urteil der Strafgerichtspräsidentin vom 14.
Februar 2003 sei ihm das Appellationsrecht zugestanden. Gestützt darauf habe
er innert 10 Tagen die Appellation erklärt und diese, nach Ausfertigung des
schriftlich begründeten Urteils der Strafgerichtspräsidentin, innerhalb der
vom Appellationsgericht angesetzten Frist ausführlich begründet. Aufgrund der
falschen Rechtsmittelbelehrung dürfe ihm kein Nachteil erwachsen. Die
Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung sei aufgrund des Wortlautes der
Strafprozessordnung nicht ohne weiteres erkennbar gewesen. Er hätte diesen
Fehler erst nach dem Studium der Gesetzesmaterialien und der Praxis des
Appellationsgerichts feststellen können. Ein Blick in die Strafprozessordnung
des Kantons Basel-Stadt, namentlich die Lektüre der §§ 94 und 174 Abs. 3,
habe das fehlende Appellationsrecht nicht erkennen lassen. Die Praxis des
Appellationsgerichts sei weder gebührend publiziert noch sonst in genügender
Weise bekannt gemacht. In der Überzeugung, dass die Appellation das richtige
Rechtsmittel sei, habe für ihn kein Anlass bestanden, den Vertrauensgrundsatz
bereits vor Appellationsgericht anzurufen. Das Appellationsgericht hätte die
Appellation deshalb beurteilen müssen.

2.2  Das Appellationsgericht weist im angefochtenen Entscheid darauf hin,
dass
das Verzeigungsverfahren gegen den Beschwerdeführer den Regeln der §§ 132 bis
140 StPO/BS unterstanden habe und kein ordentliches Verfahren im Sinne des
Gesetzes darstellte. Der beanstandete Kostenentscheid der
Strafgerichtspräsidentin sei daher nach § 174 Abs. 3 StPO//BS nicht
appellabel, sondern lediglich beschwerdefähig gemäss §§ 184 ff. StPO/BS
gewesen. Trotz des Verweises von § 140 Abs. 1 StPO/BS, wonach die
Vorschriften der §§ 131 ff. StPO/BS sinngemäss gälten, werde das
Verzeigungsverfahren nicht zu einem ordentlichen Verfahren. Da die am 24.
Februar 2003 eingegangene Eingabe des Beschwerdeführers nicht begründet
gewesen sei, könne sie nicht als Beschwerde entgegengenommen werden. Das
Gericht führt in der Vernehmlassung zur staatsrechtlichen Beschwerde aus, es
habe den Beschwerdeführer mit der Aufforderung zur Begründung der Appellation
darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Rechtsmittel möglicherweise nicht
zulässig sei. Der Beschwerdeführer hätte daher bereits vor
Appellationsgericht die Möglichkeit gehabt, sich auf den Vertrauensschutz und
die Problematik einer falschen Rechtsmittelbelehrung zu berufen.

3.
3.1 Zu den Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns gehört unter anderem die
Verpflichtung der staatlichen Organe, nach Treu und Glauben zu handeln (Art.
5 Abs. 3 BV). Zudem statuiert Art. 9 BV einen Anspruch des Einzelnen, von den
staatlichen Organen nach Treu und Glauben behandelt zu werden. Welches die
jeweilige Tragweite der beiden Grundsätze ist, braucht hier nicht entschieden
zu werden, da der Beschwerdeführer beide Verfassungsbestimmungen anruft (zu
dieser Diskussion vgl. BGE 129 II 160 E. 4.1; Beatrice Weber-Dürler, Neuere
Entwicklung des Vertrauensschutzes, ZBl 103/2002, S. 281, 282 ff. mit
Hinweisen; Christoph Rohrer, in: Die Schweizerische Bundesverfassung,
Kommentar, St. Gallen 2002, Rz. 44 zu Art. 9).

3.2  Der Anspruch von Treu und Glauben schützt im Verhältnis zwischen Staat
und Bürger vor allem das berechtigte Vertrauen in behördliche Zusicherungen
und behördliches Verhalten (Yvo Hangartner, in: Die Schweizerische
Bundesverfassung, Kommentar, St. Gallen 2002, Rz. 39 zu Art. 5). Die
bundesgerichtliche Rechtsprechung hat aus dem Recht auf Vertrauensschutz
(Art. 9 BV) den Grundsatz abgeleitet, dass einer Partei aus einer falschen
Rechtsmittelbelehrung grundsätzlich kein Nachteil erwachsen darf. Diese
Rechtsprechung steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass sich nur auf eine
fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung berufen kann, wer deren Unrichtigkeit nicht
kennt und auch bei gebührender Aufmerksamkeit nicht hätte kennen können.
Allein grobe Fehler einer Partei oder ihres Rechtsvertreters sollen aber dazu
führen, eine falsche Rechtsmittelbelehrung aufzuwiegen. Das Bundesgericht hat
in seiner bisherigen Rechtsprechung einen solchen Fehler bejaht und den
Vertrauensschutz dementsprechend versagt, wenn eine Partei oder ihr Anwalt
die Fehlerhaftigkeit der Rechtsmittelbelehrung allein durch Konsultieren des
massgebenden Gesetzestextes hätte erkennen können. Nicht verlangt wird
hingegen, dass neben dem Gesetzestext auch noch die einschlägige Literatur
oder Rechtsprechung hätte nachgeschlagen werden müssen (BGE 127 II 198 E. 2c

S. 205 mit Hinweisen).

3.3  Im Kanton Basel-Stadt wird ein im Verzeigungsverfahren gemäss §§ 132 ff.
StPO/BS ergangener Strafbefehl durch die Einsprache aufgehoben. Der Fall geht
dann an das Strafgericht zur Durchführung der Hauptverhandlung (§ 138 Abs. 3
StPO/BS). Gemäss der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt ist das
Verzeigungsverfahren ein besonderes Verfahren (vgl. den Titel vor §§ 132 ff.
StPO/BS). Das Verfahren der Hauptverhandlung richtet sich jedoch auch im
Verzeigungsverfahren sinngemäss nach den Bestimmungen der §§ 113 ff. StPO/BS,
d. h. nach den Vorschriften des ordentlichen Verfahrens auf öffentliche Klage
(vgl. den Titel vor §§ 94 ff. StPO/BS), soweit nichts anderes bestimmt wird.
Nach der Hauptverhandlung erfolgt die Verkündung des Urteils mit einer kurzen
Begründung. Gleichzeitig sind die Parteien über das ihnen allfällig
zustehende Appellationsrecht zu belehren (§ 140 Abs. 5 StPO/BS).

Gegen Strafurteile können Verurteilte appellieren, wenn eine Freiheitsstrafe
oder eine Geldbusse von wenigstens Fr. 500.-- oder eine andere beschwerende
Verfügung gegen sie ausgesprochen wurde (§ 175 Abs. 1 StPO/BS). Bei
Freispruch oder Einstellung im ordentlichen Verfahren können Beurteilte die
Appellation erklären, wenn sie durch die Motive des Urteils oder die
Auferlegung von Kosten beschwert sind (§ 174 Abs. 3 StPO/BS).

3.4  Der Beschwerdeführer wurde von der Strafgerichtspräsidentin am 14.
Februar 2003 freigesprochen. Sie auferlegte ihm jedoch die Verfahrenskosten.
Der Entscheid wurde mit dem Hinweis auf das Appellationsrecht eröffnet.

Allein aufgrund der Konsultation der Strafprozessordnung wird nicht sogleich
klar, welches im Verzeigungsverfahren das zutreffende Rechtsmittel gegen die
Kostenauflage nach der in sinngemässer Anwendung der Regeln über das
ordentliche Verfahren durchgeführten Hauptverhandlung ist. Dass der Verweis
von § 140 Abs. 1 StPO/BS nicht auch für die Anfechtung der Kostenauflage nach
der Hauptverhandlung gilt, drängt sich aufgrund des Gesetzestextes nicht auf.
Für den Beschwerdeführer bestand alleine gestützt auf den Wortlaut der
Strafprozessordnung kein Anlass, an der Richtigkeit der Rechtsmittelbelehrung
zu zweifeln. Dies gilt namentlich auch aufgrund von § 140 Abs. 5 StPO/BS,
wonach "die Parteien über das ihnen allfällig zustehende Appellationsrecht"
zu belehren sind. Vom Beschwerdeführer bzw. von seinem Vertreter wird nicht
verlangt, dass er die Gesetzesmaterialien oder die Praxis des
Appellationsgerichts konsultiert (vgl. E. 3.2 hiervor). Anscheinend war auch
im Kreis des Strafgerichts Basel-Stadt nicht bekannt, dass gegen die
Kostenauflage einzig die Beschwerde zur Verfügung stand; den diesbezüglichen
Ausführungen des Beschwerdeführers in der staatsrechtlichen Beschwerde wurde
jedenfalls nicht widersprochen. Ein grober Fehler, wie ihn die
bundesgerichtliche Rechtsprechung verlangt, damit die falsche
Rechtsmittelbelehrung aufgewogen würde, kann dem Beschwerdeführer bzw. seinem
Vertreter jedenfalls nicht vorgeworfen werden. Zudem war die Unrichtigkeit
der Rechtsmittelbelehrung offenbar auch für das Appellationsgericht nicht
derart offenkundig, dass auf die Einholung der Appellationsbegründung sowie
einer Appellationsantwort verzichtet worden wäre (vgl. dazu § 180 Abs. 1
StPO/BS).

Da der Beschwerdeführer vor Appellationsgericht der Meinung war, die
Appellation sei das korrekte Rechtsmittel, hatte er keinen Anlass, sich
bereits in der Appellationsbegründung auf den Vertrauensschutz zu berufen;
daran vermag die Begründung zur Verfügung des Appellationsgerichts vom 26.
August 2003 nichts zu ändern. Das Appellationsgericht hätte unter den
vorliegenden Umständen den Vertrauensschutz (Treu und Glauben) von Amtes
wegen beachten sollen. Entgegen den Ausführungen des Appellationsgerichts in
der Vernehmlassung führt die Anrufung des Vertrauensgrundsatzes auch nicht
zur Schaffung eines gesetzlich nicht vorgesehenen Rechtsmittels (vgl. dazu
BGE 129 IV 197 E. 1.5 S. 201 mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer ergriff
lediglich das unzutreffende Rechtsmittel. Dass das Urteil der
Strafgerichtspräsidentin mit Beschwerde anfechtbar gewesen wäre, führt das
Appellationsgericht in seinem Entscheid vom 5. Dezember 2003 selber aus.

4.
Nach dem Gesagten ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und das
angefochtene Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt
aufzuheben.

Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs.
2 OG). Der Kanton Basel-Stadt hat dem Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 159 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des
Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, vom 5. Dezember 2003
aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Basel-Stadt hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Strafgerichtspräsidentin des
Kantons Basel-Stadt und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt,
Ausschuss, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 2. September 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: