Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.167/2004
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1P.167/2004 /gij

Beschluss vom 4. August 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Fonjallaz, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Scherrer.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dieter Gysin,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau.

persönliche Freiheit, Art. 10, 29 Abs. 2 und 31 Abs. 2 BV, Art. 5 Ziff. 3
EMRK (Haftentlassung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons
Aargau, 1. Strafkammer, vom 2. März 2004.

Sachverhalt:

A.
X.  ________ wurde vom Landgericht Rostock (Deutschland) mit Urteil vom 10.
Juli 2001 zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten verurteilt.
Gestützt auf einen internationalen Haftbefehl wurde er am 26. Mai 2003 an die
schweizerischen Behörden ausgeliefert. Gleichentags verfügte das
Bezirksgericht Bremgarten die Untersuchungshaft. In der Folge wurde der
Festgenommene gegen Hinterlegung seiner Schriften sowie gegen Leistung einer
Kaution von Fr. 7'000.-- aus der Untersuchungshaft entlassen. Da er jedoch
gemäss Urteil des Obergerichts Luzern vom 29. April 1994 noch eine
Freiheitsstrafe von 13 Monaten Zuchthaus zu verbüssen hatte, konnte er
dennoch nicht in Freiheit entlassen werden.

B.
Am 28. August 2003 verurteilte das Bezirksgericht Bremgarten X.________ wegen
Vergewaltigung zu einer Zuchthausstrafe von zwei Jahren, unter Anrechnung von
26 Tagen Untersuchungshaft. Gegen das Urteil erhob der Beschuldigte Berufung
und die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung.

Am 16. Februar 2004 stellte X.________ dem Justiz- und Sicherheitsdepartement
des Kantons Luzern ein Gesuch um bedingte Entlassung. Die kantonale
Strafanstalt Lenzburg schloss sich dem Gesuch an. Gemäss Entscheid des
Justiz- und Sicherheitsdepartements des Kantons Luzern vom 20. Februar 2004
wurde X.________ am 10. März 2004 bedingt aus dem Strafvollzug entlassen. Die
1. Strafkammer des Aargauer Obergerichts beschloss am 2. März 2004, den
Beschuldigten nach der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug wegen
Fluchtgefahr in Untersuchungshaft zu nehmen.

C.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 12. März 2004 beantragt X.________,
Ziff. 1 des Beschlusses des Obergerichts des Kantons Aargau vom 2. März 2004
sei aufzuheben und er sei umgehend aus der Untersuchungshaft zu entlassen,
eventualiter unter Auferlegung von Ersatzmassnahmen (Schriftensperre,
Kaution). Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und
Verbeiständung. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

D.
Mit Schreiben vom 22. März 2004 teilt das Obergericht des Kantons Aargau mit,
dass der Angeklagte gleichentags befragt worden sei und mit Beschluss vom 22.
März 2004 gegen Hinterlegung der Ausweisschriften am 23. März 2004 aus der
Untersuchungshaft entlassen werde.

E.
Mit Schreiben vom 6. April 2004 teilte das Bundesgericht dem Beschwerdeführer
mit, dass es in Aussicht nehme, die Beschwerde als erledigt zu erklären und
räumte ihm die Gelegenheit zu allfälligen Bemerkungen ein. Der
Beschwerdeführer beantragt in seinem Schreiben vom 20. April 2004 die
Zusprechung einer vollen Parteientschädigung, weil der Verfahrensausgang
einem Obsiegen im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren gleich komme. Nachdem
er eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt habe, sei er vom Obergericht
persönlich angehört und aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Seine
Rügen seien damit berechtigt gewesen.

Die kantonalen Behörden verzichten auf eine weitere Stellungnahme.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 88 OG muss ein
Beschwerdeführer grundsätzlich ein aktuelles praktisches Interesse an der
Aufhebung des angefochtenen Entscheids bzw. an der Überprüfung der erhobenen
Rügen haben; dieses Rechtsschutzinteresse muss auch noch im Zeitpunkt der
Urteilsfällung vorliegen (BGE 125 I 394 E. 4a S. 397; 120 Ia 165 E. 1a). Ein
aktuelles Rechtsschutzinteresse fehlt insbesondere dann, wenn der Nachteil
auch bei Gutheissung der Beschwerde nicht mehr behoben werden könnte (BGE 125
II 86 E. 5a S. 96; 118 Ia 488 E. 1a). Vom Erfordernis des aktuellen
praktischen Interesses wird allerdings dann abgesehen, wenn sich die
aufgeworfene Frage jederzeit unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder
stellen könnte, an ihrer Beantwortung wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung
ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht und eine rechtzeitige
verfassungsgerichtliche Überprüfung im Einzelfall kaum je möglich wäre (BGE
127 I 164 E. 1a S. 166; 125 I 394 E. 4b S. 397 mit Hinweisen).

An diesen Voraussetzungen fehlt es bei der Mehrzahl der Beschwerden, mit
denen die Verfassungs- und Konventionswidrigkeit der Anordnung oder
Erstreckung einer inzwischen dahingefallenen Untersuchungshaft gerügt wird.
Die damit aufgeworfenen Fragen können sich in der Regel nicht mehr unter
gleichen oder ähnlichen Umständen stellen. Vielmehr ist das Vorliegen von
Haftgründen im Einzelfall zu prüfen. Das Bundesgericht ist demnach auch nur
ganz ausnahmsweise auf Beschwerden eingetreten, bei welchen das aktuelle
praktische Interesse an der Haftprüfung dahingefallen war (BGE 125 I 394 E.
4b S. 397 f. mit Hinweisen).

Im vorliegenden Fall wurde in erster Linie eine Weiterführung der
Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr gerügt. Es stellen sich dabei keine
Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, die sofort höchstrichterlich
beantwortet werden müssten. Es steht vielmehr der Einzelfall im Vordergrund
mit den Fragen, ob die Weiterführung der Haft im Einzelnen gerechtfertigt war
und vor der Verfassung und der Menschenrechtskonvention standhielt.
Entsprechende Fragen können sich bei jeder Haftanordnung stellen und lassen
sich im Normalfall durch Haftbeschwerden bei den kantonalen Instanzen
gerichtlich beurteilen.

Das Verfahren ist somit nach Art. 40 OG in Verbindung mit Art. 72 BZP wegen
des nachträglichen Wegfalls des Rechtsschutzinteresses als erledigt
abzuschreiben (vgl. BGE 118 Ia 488 E. 1a S. 490 und E. 3c S. 494).

2.
Art. 72 BZP bestimmt, dass bei diesem Verfahrensausgang über die
Prozesskosten mit summarischer Begründung auf Grund der Sachlage vor Eintritt
des Erledigungsgrundes zu entscheiden ist. Bei der Beurteilung der Kosten-
und Entschädigungsfolgen ist somit in erster Linie auf den mutmasslichen
Ausgang des Verfahrens abzustellen. Lässt sich dieser im konkreten Fall nicht
feststellen, so sind allgemeine prozessrechtliche Kriterien heranzuziehen:
Danach wird jene Partei kosten- und entschädigungspflichtig, welche das
gegenstandslos gewordene Verfahren veranlasst hat oder bei welcher die Gründe
eingetreten sind, die dazu geführt haben, dass der Prozess gegenstandslos
geworden ist. Die Regelung bezweckt, denjenigen, der in guten Treuen
Beschwerde erhoben hat, nicht im Kostenpunkt dafür zu bestrafen, dass die
Beschwerde infolge nachträglicher Änderung der Umstände abzuschreiben ist,
ohne dass ihm dies anzulasten wäre (BGE 118 Ib 488 E. 4a S. 494 f.).

2.1  Eine summarische Prüfung der Lage vor dem Hinfall des aktuellen
Rechtsschutzinteresses ergibt Folgendes: Im angefochtenen Entscheid des
Obergerichtes wird die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft mit
Fluchtgefahr begründet. Der Beschwerdeführer wurde dazu vorgängig nicht
angehört. Erst nachdem er die staatsrechtliche Beschwerde eingereicht hatte,
wurde eine persönliche Anhörung vor dem Obergericht anberaumt. Anlässlich
dieser Einvernahme konnte er ausführen, dass seine ungarische Firma Konkurs
sei und er keinen Kontakt mehr zu seinem ungarischen Geschäftspartner habe.
Das Obergericht würdigt in seinem Beschluss vom 22. März 2004 neu überdies
den Umstand, dass dem Beschwerdeführer in den Monaten Januar und Februar 2004
je 28 Stunden Beziehungsurlaub bei seiner Familie sowie ein Sachurlaub von 6
Stunden zur Stellensuche gewährt wurde, ohne dass er diese potentiellen
Fluchtmöglichkeiten ausgenutzt hätte. Zwar bejaht das Obergericht die
Fluchtgefahr aufgrund eines früheren Fluchtversuchs aus dem Strafvollzug aus
Deutschland und der internationalen Kontakte des Beschwerdeführers noch
immer. Es begegnet ihr neu jedoch mit einer Schriftensperre. Aus dem
Beschluss vom 22. März 2004 wird somit deutlich, dass der Beschwerdeführer
begründeten Anlass zur Erhebung der staatsrechtlichen Beschwerde hatte.

2.2  Unter diesen Umständen ist es gerechtfertigt, den Kanton Aargau zu
verpflichten, dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung
auszurichten. Zum selben Ergebnis führt die Tatsache, dass die Gründe, die
zur Gegenstandslosigkeit des Verfahrens geführt haben, von den kantonalen
Behörden verursacht wurden. Indessen besteht im vorliegenden Verfahren kein
Anlass, von der Regel, wonach Bund, Kantonen und Gemeinden, die in ihrem
amtlichen Wirkungskreis handeln, keine Gerichtskosten auferlegt werden,
abzuweichen. Auf die Erhebung einer Gerichtsgebühr wird deshalb verzichtet
(Art. 156 Abs. 2 OG). Mit dieser Kostenregelung wird das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.

Der Beschwerdeführer beantragt eine Entschädigung von Fr. 3'952.10. Aus der
Kostennote geht hervor, dass diese u.a. auch der Aufwand für die Anhörung vom
22. März 2004 in Aarau erfasst; dieser steht in keinem direktem Zusammenhang
mit dem bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahren und kann nicht geltend
gemacht werden. Die Entschädigung ist in Abschätzung des gebotenen Aufwandes
und in Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Praxis auf Fr. 2'000.--
festzusetzen.

Demnach erkennt das Bundesgericht

in Anwendung von Art. 72 BZP i.V.m. Art. 40 OG:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgeschrieben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr.
2'000.-- zu bezahlen.

4.
Dieser Beschluss wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 4. August 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied:  Die Gerichtsschreiberin: