Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.146/2004
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1P.146/2004 /bmt

Urteil vom 3. Mai 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Féraud,
Gerichtsschreiber Härri.

X.________, zzt. im Untersuchungsgefängnis, Beschwerdeführer, vertreten durch
Rechtsanwalt Y.________,

gegen

Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, Hirschengraben 16, Postfach, 6002
Luzern.

Art. 9 und Art. 31 Abs. 3 BV, Art. 5 Ziff. 4 EMRK (Rekursfrist),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Luzern, II. Kammer, vom 1. März 2004.

Sachverhalt:

A.
Der kroatische Staatsangehörige X.________ befindet sich seit dem 4. Dezember
2003 in Untersuchungshaft. Es wird ihm die Beteiligung an Einbruchdiebstählen
vorgeworfen.

Am 11. Februar 2004 stellte er ein Haftentlassungsgesuch. Dieses wies der
Amtsstatthalter von Luzern-Land mit Entscheid vom 13. Februar 2004 ab.

Dagegen reichte der Verteidiger von X.________ am 26. Februar 2004 Rekurs
beim Obergericht des Kantons Luzern ein. Dieses trat am 1. März 2004 auf den
Rekurs nicht ein. Es befand, der Rekurs sei verspätet. Der Entscheid des
Amtsstatthalters sei X.________ persönlich am 14. Februar 2004 eröffnet
worden. Nach den Ausführungen im Rekurs sei der am 13. Februar 2004
eingeschrieben verschickte Entscheid des Amtsstatthalters beim Verteidiger
von X.________ erst am 18. Februar 2004 eingegangen. Massgebend für den
Beginn des Fristenlaufs sei nach ständiger Luzerner Praxis die Zustellung des
Entscheids an den Angeschuldigten. Die Rekursfrist von zehn Tagen sei daher
am 24. Februar 2004 abgelaufen. Der Verteidiger habe den Rekurs zwei Tage zu
spät der Post überbracht.

B.
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Entscheid
des Obergerichtes aufzuheben.

C.
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft haben sich vernehmen lassen. Sie
beantragen die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.

D.
X.________ hat Bemerkungen zu den Vernehmlassungen eingereicht.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Sachurteilsvoraussetzungen sind grundsätzlich erfüllt. Sie geben zu
keinen Bemerkungen Anlass.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer räumt ein, dass sich der angefochtene Entscheid auf
die ständige Luzerner Praxis stützt (LGVE 1988 I Nr. 62 S. 136 ff.). Er macht
geltend, diese sei willkürlich.

2.1.1 Weist der Amtsstatthalter ein Haftentlassungsgesuch ab, kann der
Angeschuldigte an das Obergericht rekurrieren (§ 83quater Abs. 3 Satz 1
StPO/LU). Der Rekurs ist innert zehn Tagen seit Zustellung des Entscheids bei
der Rekursinstanz einzulegen (§ 253 Abs. 1 Satz 1 StPO/LU).

§ 188 StPO/LU bestimmt unter der Überschrift "Zustellung der Ausfertigung"
Folgendes:
1) Das schriftlich begründete Urteil wird dem Angeklagten, dem Staatsanwalt
und dem Privatkläger zugestellt, dem Geschädigten nur, soweit er ein
berechtigtes Interesse daran hat.
2) Dem Verteidiger ist eine Orientierungskopie zuzustellen.
Diese Bestimmung ist nach der Luzerner Praxis nicht nur bei Urteilen
anwendbar, sondern auch - wie hier - bei Entscheiden im
Untersuchungsverfahren (LGVE 1974 Nr. 220 S. 254; 1988 I Nr. 62 S. 137). Der
Beschwerdeführer rügt dies in der staatsrechtlichen Beschwerde nicht als
verfassungswidrig.

2.1.2 Für die Luzerner Praxis, wonach die Frist mit Zustellung an den
Angeschuldigten zu laufen beginnt, spricht der Wortlaut von § 188 StPO/LU.
Danach wird das Urteil dem Angeklagten zugestellt und erhält der Verteidiger
lediglich eine Orientierungskopie. Gemäss § 253 Abs. 1 StPO/LU ist der Rekurs
innert zehn Tagen seit Zustellung des Entscheids und nicht der
Orientierungskopie einzureichen. Die Luzerner Praxis entspricht ausserdem der
Stellung des Verteidigers im kantonalen Strafverfahren. Dieser ist gemäss §
33 StPO/LU nicht Vertreter, sondern nur Beistand des Angeschuldigten. Die
Luzerner Praxis dient sodann der Rechtssicherheit, da damit der Beginn des
Fristenlaufs eindeutig bestimmbar ist. Der Beginn des Fristenlaufs mit
Zustellung der Orientierungskopie an den Verteidiger würde im Übrigen zu
unhaltbaren Ergebnissen führen, wenn die Zustellung des Entscheids an den
Angeschuldigten erschwert wäre. In diesem Fall könnte der Entscheid in
Rechtskraft erwachsen, bevor der Angeschuldigte von ihm Kenntnis hätte. Aus
diesen Gründen ist die Luzerner Praxis nicht offensichtlich unhaltbar.
Willkür ist zu verneinen.

Das Bundesgericht hat die Luzerner Praxis in verschiedenen Entscheiden
bereits als verfassungsmässig beurteilt und insbesondere Willkür verneint
(Urteile P 876/1987 vom 4. September 1987 E. 1a/ff; 1P.260/1993 vom 5. Juli
1993 E. 2d; 1P.39/1999 vom 3. Februar 1999 E. 1). Gleich hat es in einem den
Kanton Bern betreffenden Fall entschieden, in dem sich dieselbe Frage nach
dem Beginn des Fristenlaufes stellte (Urteil 1P.511/1991 vom 5. Februar 1992
E. 2 f.). Von dieser Rechtsprechung abzuweichen besteht aus den dargelegten
Gründen kein Anlass.

Die Anwendung der Luzerner Praxis ist hier entgegen dem Einwand des
Beschwerdeführers auch im Ergebnis nicht schlechthin unhaltbar. Wie in den
Vernehmlassungen dargelegt wird, ist sein Anwalt seit vielen Jahren im Kanton
Luzern tätig und ein erfahrener Strafverteidiger. Dies wird in der Replik
nicht in Abrede gestellt. Der Verteidiger kannte somit den Wortlaut der
massgeblichen Bestimmungen der Luzerner Strafprozessordnung sowie die
veröffentlichte und langjährige Praxis dazu oder musste sie zumindest kennen.
Er hätte den Rekurs an das Obergericht bis zum 23. Februar 2004 einreichen
können. Vorher konnte die Frist von zehn Tagen nicht ablaufen, da der
Amtsstatthalter seinen Entscheid am 13. Februar 2004 gefällt hatte. Hätte der
Verteidiger den Rekurs später einreichen wollen, hätte er sich beim
Amtsstatthalteramt telefonisch nach dem Datum der Zustellung an den
Beschwerdeführer erkundigen können. Er hätte dann erfahren, dass der
Entscheid dem Beschwerdeführer am 14. Februar 2004 zugestellt wurde und die
Rekursfrist damit am 24. Februar 2004 ablief. Eine entsprechende Nachfrage
wäre mit geringem Aufwand verbunden und dem Verteidiger zumutbar gewesen. Der
Verteidiger räumt in der Replik (S. 4) im Übrigen ausdrücklich ein, dass er
persönlich die Verantwortung für die Mandatsführung trägt, auch wenn er diese
dem bei ihm tätigen Rechtspraktikanten übertragen hat.

2.2 Der Beschwerdeführer rügt, der angefochtene Entscheid verletze Art. 31
Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 4 EMRK. Danach habe jeder Inhaftierte das Recht,
ein Entlassungsgesuch zu stellen, das bei Abweisung durch die
Untersuchungsbehörde vom Haftrichter beurteilt werde. Dieses Recht beinhalte
auch, dass der Inhaftierte gegen einen negativen Entscheid Rekurs erheben
könne. Voraussetzung für die Möglichkeit eines Rekurses sei unter anderem,
dass der Fristenlauf so berechnet werde, dass die durch Verfassung und
Konvention gewährleisteten Grundrechte tatsächlich wahrgenommen werden
könnten.

Es kann offen bleiben, ob die Rüge den Begründungsanforderungen von Art. 90
Abs. 1 lit. b OG genügt, da sie jedenfalls unbegründet ist. Der
Beschwerdeführer hatte die Möglichkeit, gegen den Entscheid des
Amtsstatthalters an das Obergericht zu rekurrieren und damit seine
Grundrechte wahrzunehmen. Der Verteidiger erhielt die Orientierungskopie des
Entscheids des Amtsstatthalters am 18. Februar 2004. Er hatte somit bis zum
24. Februar 2004 genügend Zeit zur Abfassung des Rekurses, zumal eine weitere
Besprechung mit dem Beschwerdeführer unstreitig nicht mehr notwendig war, da
die Erhebung des Rekurses bei einem die Haftentlassung ablehnenden Entscheid
des Amtsstatthalters zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Verteidiger
schon vorher vereinbart worden war. Wenn der Verteidiger die Frist verpasst
hat, hat er sich das selber zuzuschreiben und ändert dies nichts daran, dass
die Möglichkeit zur Wahrung der Grundrechte des Beschwerdeführers gegeben
gewesen wäre.

Das Obergericht weist in der Vernehmlassung im Übrigen zutreffend darauf hin,
dass der Beschwerdeführer jederzeit ein neues Haftentlassungsgesuch stellen
kann. Es ist ihm somit auch nach dem Nichteintretensentscheid des
Obergerichtes nicht verwehrt, seine Grundrechte wahrzunehmen.

2.3 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Luzerner Praxis verletze die
Grundsätze eines fairen Verfahrens und einer wirksamen Verteidigung.

Die Beschwerde ist auch insoweit jedenfalls unbegründet. Die Behörden haben
den Verteidiger in  Bezug auf den Beginn der Rekursfrist nicht in die Irre
geführt. Er kannte die massgebliche kantonale Praxis bzw. hätte sie als
erfahrener Strafverteidiger kennen müssen. Das Gebot der Fairness ist nicht
verletzt. Ebenso wenig war eine wirksame Verteidigung verunmöglicht, da der
Verteidiger hinreichend Zeit für die Abfassung und fristgemässe Einreichung
des Rekurses gehabt hätte. Wenn er die Rekursfrist verpasst hat, haben das
nicht die Behörden zu vertreten.

Der Einwand des Beschwerdeführers, er spreche kein Deutsch, geht an der Sache
vorbei. Da er einen Verteidiger hatte, musste er die Rekursschrift nicht
selber verfassen. Dies war Aufgabe des Verteidigers, der sie hätte wahrnehmen
können, wenn er seiner Sorgfaltspflicht genügt hätte.

2.4 Der Beschwerdeführer erhebt in der Replik neue Rügen. So macht er
geltend, der angefochtene Entscheid verletze den Grundsatz von Treu und
Glauben nach Art. 9 BV. Überdies bringt er vor, ein allfälliger Fehler des
Verteidigers dürfe ihm nicht zugerechnet werden. Ferner stellt er in Frage,
ob die Luzerner Praxis, wonach § 188 StPO/LU nicht nur für die Zustellung von
Urteilen, sondern auch von Entscheiden gilt, einer verfassungsrechtlichen
Prüfung standhielte.

Diese Einwände hätte der Beschwerdeführer alle bereits in der
staatsrechtlichen Beschwerde erheben können. Auf die Vorbringen kann schon
deshalb nicht eingetreten werden. Innert der Beschwerdefrist Versäumtes kann
nicht in der Replik nachgeholt werden (BGE 118 Ia 305 E. 1c mit Hinweisen;
Walter Kälin, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl., Bern
1994, S. 377).

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.

Der Beschwerdeführer ersucht darum, sein Anwalt sei ihm für das
bundesgerichtliche Verfahren als unentgeltlicher Rechtsbeistand beizugeben.
Ob dies als Gesuch nicht nur um unentgeltliche Verbeiständung nach Art. 152
Abs. 2 OG, sondern auch als solches um Befreiung von der Bezahlung der
Gerichtskosten nach Art. 152 Abs. 1 OG zu verstehen ist, kann offen bleiben.
Denn die Beschwerde war aussichtslos. Im angefochtenen Entscheid wird (S. 3
unten) insbesondere darauf hingewiesen, dass das Bundesgericht die Luzerner
Praxis bereits früher als verfassungskonform beurteilt hat. Die
unentgeltliche Rechtspflege nach Art. 152 OG kann daher nicht bewilligt
werden. Der Beschwerdeführer trägt die Kosten (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem
Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 3. Mai 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: