Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.140/2004
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1P.140/2004 /mks

Urteil vom 19. März 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Féraud,
Gerichtsschreiberin Scherrer.

X. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher
Dr. Urs Oswald,

gegen

Bezirksgericht Bremgarten, 5620 Bremgarten AG,
Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.

Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 EMRK, art. 29 Abs. 2 BV (Haftentlassung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 20. Januar 2004.

Sachverhalt:

A.
X. ________ wurde vom Bezirksgericht Bremgarten mit Urteil vom 27. November
2003 des bandenmässigen Raubs, des gewerbs- und (mehrfachen) bandenmässigen
Diebstahls, der mehrfachen Sachbeschädigung, der qualifizierten
Sachbeschädigung, des mehrfachen Hausfriedensbruchs, des gewerbsmässigen
betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage, der Hehlerei, der
Geldwäscherei, des mehrfachen Führens eines Motorfahrzeuges ohne
Führerausweis, der falschen Anschuldigung, des Überholens mit Behinderung des
Gegenverkehrs, des ungenügenden Abstandes beim Wiedereinbiegen nach dem
Überholen, der einfachen, leichten Körperverletzung, der mehrfachen,
vollendet versuchten Nötigung, des Entwendens eines Personenwagens zum
Gebrauch, der einfachen Körperverletzung und der mehrfachen Drohung für
schuldig befunden. Er wurde zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren - unter
Anrechnung von 395 Tagen Untersuchungshaft - und einer Busse von Fr. 500.--
verurteilt. Überdies wurde er für fünf Jahre des Landes verwiesen.
Gleichentags beschloss das Bezirksgericht, der Angeklagte habe in Haft zu
bleiben.

B.
Gegen diesen Beschluss gelangte X.________ an die Beschwerdekammer in
Strafsachen des Aargauer Obergerichtes und beantragte die Aufhebung des
angefochtenen Entscheides sowie die sofortige Entlassung aus der Haft.

Die Beschwerdekammer wies die Beschwerde mit Entscheid vom 20. Januar 2004
ab.

C.
Mit Eingabe vom 1. März 2004 erhebt X.________ staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 5 Ziff. 1 und Art. 6 Ziff. 2 EMRK sowie Art. 29
Abs. 2 BV. Er beantragt neben der Aufhebung des angefochtenen Urteils, das
Obergericht sei anzuweisen, ihn sofort aus der Haft zu entlassen.

Das Obergericht des Kantons Aargau verzichtet unter Hinweis auf die
Ausführungen im angefochtenen Entscheid auf eine Vernehmlassung. Auch das
Bezirksgericht Bremgarten sieht von einer Vernehmlassung ab, weist jedoch
darauf hin, dass es zur Zeit mit weiteren Ermittlungen gegen den
Beschwerdeführer befasst sei.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der Beschwerdeführer wirft den kantonalen Behörden einen Verstoss gegen
Art. 5 Ziff. 1 in Verbindung mit Art. 6 Ziff. 2 EMRK und die Verletzung des
rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) vor. Dazu ist er legitimiert (Art. 88
OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, sodass auf die
Beschwerde grundsätzlich einzutreten ist.

1.2 Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde gegen Anordnung der Sicherungshaft
kann ausser der Aufhebung des angefochtenen Entscheids auch die sofortige
Entlassung aus der Haft verlangt werden, da im Falle einer nicht
gerechtfertigten strafprozessualen Haft die von der Verfassung geforderte
Lage nicht schon mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheids, sondern erst
durch eine positive Anordnung hergestellt werden kann (BGE 129 I 129 E. 1.2.1
S. 131 f.; 124 I 327 E. 4a S. 332; 115 Ia 293 E. 1a S. 296, je mit
Hinweisen).

1.3 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit gegen die Haftanordnung
erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des
Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts
frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der
Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn
die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE
123 I 31E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je mit Hinweisen).

2.
Grundvoraussetzung für die Anordnung von Sicherheitshaft ist nach § 67 Abs. 1
des Gesetzes über die Strafrechtspflege vom 11. November 1958 (StPO-AG; AGS
251.00) der dringende Verdacht, eine Straftat begangen zu haben. Der
Beschwerdeführer wirft dem Obergericht sinngemäss eine Verletzung der
Begründungspflicht vor, weil es den dringenden Tatverdacht des qualifizierten
Raubes aufgrund des erstinstanzlichen Urteils als gegeben vorausgesetzt habe,
ohne sich mit seinen Einwänden gegen diesen Entscheid auseinander zu setzen.

2.1 Aufgrund der formellen Natur des rechtlichen Gehörs führt eine Verletzung
- unabhängig von den Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst -
zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 126 I 19 E. 2d/bb S. 24; 125
I 113 E. 3 S. 118). Es ist daher zunächst zu prüfen, ob das Obergericht dem
Beschwerdeführer das rechtliche Gehör verweigert hat.

2.2 Art. 29 Abs. 2 BV gewährleistet den Anspruch auf rechtliches Gehör.
Daraus ergibt sich der Anspruch der Parteien, mit rechtzeitig und formgültig
angebotenen Beweisanträgen und Vorbringen gehört zu werden, soweit diese
erhebliche Tatsachen betreffen und nicht offensichtlich beweisuntauglich sind
(BGE 120 Ib 379 E. 3b S. 383; 106 Ia 161 E. 2b S. 162, je mit Hinweisen).

Das rechtliche Gehör verlangt, dass die Behörde die Vorbringen des vom
Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch tatsächlich hört, prüft
und in der Entscheidfindung berücksichtigt (BGE 124 I 49 E. 3a S. 51 und 241
E. 2 S. 242, je mit Hinweisen). Die Begründungspflicht und der Anspruch auf
Begründung sind nicht bereits dadurch verletzt, dass sich die urteilende
Behörde nicht mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinander setzt und
jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Vielmehr kann sie sich auf
die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken (vgl. BGE 126 I 97 E.
2b S. 102; 124 II 146 E. 2a S. 149; 124 V 180 E. 1a S. 181; 123 I 31 E. 2c S.
34; 121 I 54 E. 2c S. 57, je mit Hinweisen).

2.3 Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, eine Norm des kantonalen Rechts
verpflichte die Behörde zu einer einlässlicheren Begründung ihres Entscheids,
als dies Art. 29 Abs. 2 BV gebietet. Nachfolgend ist somit zu prüfen, ob das
obergerichtliche Urteil den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu genügen
vermag.

2.4 Der Beschwerdeführer hatte vor Obergericht - wie auch im jetzt anhängigen
Verfahren - ausgeführt, der Belastungszeuge der Anklage sei nicht angehört
worden, obwohl dieser aufzuzeigen vermocht hätte, dass es sich nicht um einen
Raub, sondern um einen (bandenmässigen) Diebstahl gehandelt habe. Dadurch
würde sich nach Meinung des Beschwerdeführers sein Strafmass auf etwa zwölf
Monate Gefängnis reduzieren. Der Beschwerdeführer rügt, das Obergericht sei
auf diese Begründung gar nicht eingetreten und habe die Argumentation als
"reine Spekulation" bezeichnet.

Das Obergericht hat seinen Entscheid unter anderem damit begründet, Tatsache
sei, dass der Beschwerdeführer von der Staatsanwaltschaft wegen
qualifizierten Raubes angeklagt, vom Bezirksgericht u.a. auch dieses Deliktes
für schuldig gesprochen und zu einer Zuchthausstrafe von insgesamt drei
Jahren verurteilt worden sei. Es könne deshalb nicht gesagt werden, die
bisher ausgestandene Untersuchungshaft sei bereits in zu grosse Nähe der
einmal in Rechtskraft erwachsenen Freiheitsstrafe gerückt. Dass das
Bezirksgericht Bremgarten zur Anordnung des Fortbestehens der
Untersuchungshaft zwecks Sicherung des Strafvollzugs nach der Beurteilung
gemäss § 67 Abs. 2 StPO-AG befugt gewesen sei, werde vom Beschwerdeführer zu
Recht nicht bemängelt. Aus diesen Ausführungen geht klar hervor, welche
Gründe das Obergericht für ausreichend erachtete, um die Haft aufrecht zu
erhalten. Die Kritik des Beschwerdeführers an der Beweiswürdigung des
Bezirksgerichtes vermag allenfalls Zweifel an der Schuld des
Beschwerdeführers hinsichtlich des Vorwurfs des Raubes zu wecken, weshalb sie
mit Berufung gegen die erstinstanzliche Verurteilung vorgebracht werden kann
(§ 217 StPO-AG; vgl. Urteil 1P.665/2000 vom 13. November 2000). Sie ist
jedoch offensichtlich weder geeignet, den dringenden Tatverdacht gegen den
Beschwerdeführer zu zerstreuen, noch nachzuweisen, dass er im
Rechtsmittelverfahren eine erheblich tiefere Freiheitsstrafe zu gewärtigen
hätte, sodass die Sicherheitshaft "zur Sicherung des Strafvollzuges nach der
Beurteilung" unnötig und damit aufzuheben wäre (§ 67 Abs. 2 StPO-AG), zumal
der Beschwerdeführer für eine Vielzahl von zum Teil schwerwiegenden Delikten
verurteilt worden ist. Auf die Rüge im Zusammenhang mit der nicht
durchgeführten Zeugenbefragung musste das Obergericht nicht näher eingehen,
da diese Frage Gegenstand des bereits angekündigten Berufungsverfahrens sein
wird. Im Beschwerdeverfahren war allein zu prüfen, ob der Beschwerdeführer
aus der Haft zu entlassen sei oder nicht. Mit dieser Problematik hat sich das
Obergericht rechtsgenüglich auseinander gesetzt, selbst wenn es nicht zu
sämtlichen Vorbringen des Beschwerdeführers eingehend Stellung genommen hat.
Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist zu verneinen.

3.
Weiter wirft der Beschwerdeführer dem Obergericht eine Verletzung der
Unschuldsvermutung nach Art. 6 Ziff. 2 EMRK vor, weil es ausführe, es sei
eine Tatsache, dass er unter anderem wegen qualifizierten Raubes schuldig
gesprochen worden sei.

Das Obergericht hat lediglich wiedergegeben, zu welchem Schluss das
Bezirksgericht gekommen ist. Eine eingehende Beweiswürdigung hatte es nicht
vorzunehmen. Allenfalls ist im angekündigten Berufungsverfahren zu prüfen, ob
die Kritik am bezirksgerichtlichen Urteil gerechtfertigt ist oder nicht. Über
die Qualifikation des Raubes hat das Obergericht zu Recht nicht abschliessend
befunden. Es hat geprüft, ob die Voraussetzungen für die Sicherheitshaft nach
§ 67 Abs. 2 StPO-AG gegeben sind und hat dies aufgrund des erstinstanzlichen
Urteils bejaht. Eine Verletzung der Unschuldsvermutung ist darin nicht zu
erblicken.

4.
Sinngemäss beanstandet der Beschwerdeführer die Haftdauer und unterstreicht
seine Forderung auf Entlassung mit der Gefahr der Überhaft.

Eine Überschreitung der zulässigen Haftdauer liegt nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung dann vor, wenn diese die mutmassliche
Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe übersteigt. Bei der Bemessung der
Letzteren ist auf alle nach dem Untersuchungsstand bekannten Umstände
abzustellen (BGE 124 I 208 E. 6 S. 215). Die Möglichkeit der bedingten
Entlassung ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts in der Regel nicht
zu berücksichtigen, es sei denn, die konkreten Umstände des Falles würden
eine Berücksichtigung ausnahmsweise gebieten (Urteil vom 26. März 1991 i.S.
V., E. 2d, auszugsweise publiziert in SZIER 2/1992, S. 489 f., sowie
zahlreiche nicht veröffentlichte Urteile). Im Weiteren kann eine Haft die
zulässige Dauer auch dann überschreiten, wenn das Strafverfahren nicht
genügend vorangetrieben wird, wobei sowohl das Verhalten der Justizbehörden
als auch dasjenige des Inhaftierten in Betracht gezogen werden müssen. Nach
der übereinstimmenden Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen
Gerichtshofes für Menschenrechte ist die Frage, ob eine Haftdauer als
übermässig bezeichnet werden muss, aufgrund der konkreten Verhältnisse des
einzelnen Falles zu beurteilen (BGE 128 I 149 E. 2.2 S. 151; 126 I 172 E. 5a
S. 176 f.; 124 I 208 E. 6 S. 215; 123 I 268 E. 3a S. 273, je mit Hinweisen).

Im heutigen Zeitpunkt befindet sich der Beschwerdeführer seit knapp 17
Monaten in Haft. Er räumt selber ein, dass die übrigen, von ihm weitgehend
zugestandenen Delikte keine Bagatellfälle darstellen. Selbst wenn das
Strafmass im Berufungsverfahren aufgrund einer vom Bezirksgericht
abweichenden Würdigung des Raub-Tatbestandes herabgesetzt werden sollte, ist
im heutigen Zeitpunkt noch nicht von einer Überhaft auszugehen. Allerdings
steht die vollständige Begründung des bezirksgerichtlichen Urteils bis anhin
noch aus. Der Beschwerdeführer hat bereits in Aussicht gestellt, dass er
Berufung einlegen wird. Es ist absehbar, dass sich das Verfahren noch über
mehrere Monate erstrecken wird. Die kantonalen Behörden werden darum der
Gefahr der Überhaft im Berufungsverfahren Rechnung tragen müssen.

5.
Die Beschwerde erweist sich aus den dargelegten Gründen als unbegründet und
ist abzuweisen.

Bei diesem Ausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen
(Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksgericht Bremgarten und
dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 19. März 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: